Auf dem Podium und mit dem Publikum diskutierten Manfred Kittel, Michael Schwartz, Wolfgang Thierse und Alena Wagnerová; es moderierte Jürgen Danyel. | Die Veranstaltung war eine Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Die Vertreibung von Deutschen aus dem östlichen Europa nach Ende des Zweiten Weltkrieges gehört in den neuen Bundesländern zu den Themen, die nach 1989 erstmals öffentlich angesprochen und diskutiert werden konnten, denn in der offiziellen Erinnerungspolitik der DDR gab es Vertreibung und Vertriebene nicht – stattdessen wurde von »Umsiedlung« und »Umsiedlern« gesprochen. Die diesem Thema gewidmete Veranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam lockte rund 160 Gäste ins Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte. Im Rahmen einer Podiumsdiskussion wurde das Schicksal der Vertriebenen in der DDR aus der Perspektive der persönlichen Erfahrung, der Politik sowie der Geschichte und ihrer Aufarbeitung erläutert. Unter der Moderation von Jürgen Danyel, stellvertretender Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, diskutierten Manfred Kittel, seit 2009 Direktor der Stiftung »Flucht, Vertreibung, Versöhnung», Michael Schwartz, Professor für Neuere und Neueste Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Wolfgang Thierse, Bundestagsvizepräsident und Alena Wagnerová, Publizistin und Schriftstellerin.
Nach einer Begrüßung durch Dr. Doris Lemmermeier, Direktorin des Deutschen Kulturforums östliches Europa, und Sabine Deres, Referatsleiterin beim Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, die die Arbeit des Kulturforums lobend hervorhob, stellte Jürgen Danyel die Gesprächsteilnehmer vor und fragte zunächst Wolfgang Thierse nach seinem persönlichen Zugang zum Thema. Dieser wurde 1943 in Breslau geboren und wuchs nach der Vertreibung seiner Familie in der DDR auf. Obwohl das Thema im offiziellen, durch die Erinnerungspolitik der SED maßgeblich bestimmten Gedächtnis tabuisiert wurde, wuchs er mit den Erzählungen über Schlesien und die Vertreibung auf. Die Erinnerung an diese Erfahrungen wurde zum einen in der Familie, zum anderen aber auch in der Kirche gepflegt und weitergegeben. So konnte seine Herkunft und die Vertreibung ein selbstverständlicher Teil der Biografie von Wolfgang Thierse bleiben. Dabei betonte er, dass ihm seine Familie aber immer auch vermittelt habe, dass das nationalsozialistische Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und die Vertreibungen als dessen Folge verantwortlich gewesen war.
Alena Wagnerová – die in ihrem Werk Helden der Hoffnung das Schicksal sudetendeutscher Antifaschisten thematisiert und auch beschreibt, wie sie die Tschechoslowakei nach 1945 verlassen mussten und in die DDR gingen – betonte in diesem Zusammenhang die Bedeutung biografischer Erzählungen und Gespräche, da diese – im Gegensatz zur Geschichtsforschung – einen entideologisierten Zugang zu dem Thema ermöglichten.
Michael Schwartz, der in Westdeutschland geboren wurde und aufwuchs, kam überwiegend durch seinen beruflichen Weg mit dem Thema Vertreibung in Berührung und gab einen Einblick aus wissenschaftlicher Perspektive. Auffällig sei, so Herr Schwartz, dass es zwar unterschiedliche Wellen der Intensität der Forschungen zum Thema Vertreibung gab, diese sich aber immer auf die Integration der Vertriebenen und weniger auf die Vertreibung selbst konzentrierten. Weiterhin machte er deutlich, dass das Verhältnis zwischen den neu hinzugezogenen Vertriebenen und den Einheimischen sowohl in der BRD als auch in der DDR schwierig war.
Manfred Kittel bestätigte, dass es trotz aller Unterschiede zwischen der BRD und der DDR bezüglich des Umgangs mit Flucht und Vertreibung gemeinsame Schwierigkeiten und zumindest zeitweise auch in der BRD tabuisierende Tendenzen gab.
Auch die Rolle der Vertriebenenverbände wurde im Verlauf der Diskussion mehrfach angesprochen. Herr Schwartz hielt fest, dass die westlichen Vertriebenverbände der BRD einen wichtigen Einfluss auf die Betroffenen in der DDR, die sich nicht offen organisieren konnten, ausübten. So nahmen einige Vertriebene aus der DDR vor dem Mauerbau an entsprechenden Treffen westlicher Organisationen teil, später wurden deren Aktivitäten im Westfernsehen verfolgt. Nach der Wende konnte man das Thema Vertreibung in den neuen Bundesländern erstmals öffentlich thematisieren. Wolfgang Thierse wies darauf hin, dass auch in den alten Bundesländern ein neues Interesse an diesem Thema aufkam. Durch die offizielle Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze seitens der BRD konnten Ängste der östlichen Nachbarländer Deutschlands vor einem möglichen »Revanchismus« weitestgehend ausgeräumt werden, so dass man sich – wie Herr Thierse konstatierte – auch im Westen freier im Umgang mit dem Thema Vertreibung fühlen konnte. Das Jahr 1989 ermöglichte dementsprechend nicht nur die Zusammenführung west- und ostdeutscher Erinnerung an die Vertreibung, sondern auch die der Deutschen und ihrer östlichen Nachbarn.
Die Erinnerung müsse, so Wolfgang Thierse, zukunftsträchtig sein und dürfe nicht zu neuen Konflikten führen. Dafür sei vor allem ein Verständnis für die Sensibilität der Länder Mittel- und Osteuropas in Bezug auf dieses Thema notwendig. In diesem Sinne solle das von Manfred Kittel geleitete Erinnerungs- und Dokumentationszentrum zu Flucht und Vertreibung zu einem europäischen Projekt werden, das unter Einbeziehung der Nachbarländer bei Gelingen zu einem Projekt der Versöhnung werden könne. Diesbezüglich hielt es Manfred Kittel für wichtig, die unterschiedlichen Geschichtsbilder zu akzeptieren, um so die Voraussetzung für das geistige Zusammenwachsen des Kontinents zu schaffen.
Im Anschluss an die Podiumsdiskussion hatte das Publikum die Möglichkeit, sich zu den angesprochenen Themen zu äußern. Einige hätten gern mehr über die Tabuisierung und die persönlichen Erfahrungen Vertriebener in der DDR gehört und stellten entsprechende Fragen an das Podium. Dazu gab es ergänzende Ausführungen zu noch nicht angeschnittenen Themen wie die Vergewaltigungen vertriebener und flüchtender Frauen. Eine Zuhörerin betonte, dass man statt von kollektiver Schuld der Deutschen von einem kollektiven Schicksal, das die Bevölkerung in dieser Zeit in vielen Gebieten Europas teilte, sprechen solle – Wolfgang Thierse plädierte daraufhin für den Begriff »kollektive Verantwortung« der Deutschen. Ein Doktorand, der zum Thema in Prag arbeitet, berichtete abschließend von seinen positiven Erfahrungen mit jungen tschechischen Kollegen und betonte, dass unbedachte Äußerungen von Vertriebenenverbänden immer wieder die auch in Tschechien erstarkenden selbstkritischen Ansätze zur Aufarbeitung des Vertreibungsthemas beeinträchtigten.
Weitere Impressionen
alle Fotos auf dieser Seite: © 2009 Deutsches Kulturforum östliches Europa • A. Werner
- Adventskulturforum 2009: »Verschwiegene vier Millionen«
Vertriebene in der DDR | Podiumsdiskussion mit Manfred Kittel, Michael Schwartz, Wolfgang Thierse, Alena Wagnerová; Moderation: Jürgen Danyel