Die eigene Geschichte und die der Nachbarn. Tschechische und bayerische Autoren im Dialog – anregender Lese- und Gesprächsabend mit Radka Denemarková, Jaroslav Rudiš und Bernhard Setzwein im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa war Kooperationspartner der Veranstaltungsreihe
André Werner
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Radka Denemarková. Ihr Buch penize od hitlera (deutsch: Geld von Hitler) erschien 2006 in Tschechien und erhielt den Literaturpreis magnesia litera. Die deutsche Übersetzung erscheint 2009.

»Grandhotel« von Jaroslav Rudiš spielt in Liberec, dem ehemaligen Reichenberg, und erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Roman entstand aus dem Drehbuch zum gleichnamigen Film, der 2006 in die tschechischen Kinos kam und u.a. auch auf der Berlinale gezeigt wurde.»Grandhotel« von Jaroslav Rudiš spielt in Liberec, dem ehemaligen Reichenberg, und erscheint dieser Tage in deutscher Übersetzung. Der Roman entstand aus dem Drehbuch zum gleichnamigen Film, der 2006 in die tschechischen Kinos kam und u.a. auch auf der Berlinale gezeigt wurde.

Bernhard Setzwein und Jaroslav Rudiš während der Lesung im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg
Bernhard Setzweins Eindrücke einer Wanderung mit zwei Autorenkollegen durch Westböhmen bzw. Ostbayern erscheinen Anfang 2009 in Buchform. Bereits publiziert wurde eine Hör-CD.
»Ich mag es, dass Prag ständig sein Gesicht wechselt.« Radka Denemarková, im Hintergrund die Dolmetscherin Kristina Kallert
»Ach, das ist übrigens auch ein sehr tschechisches Phämomen«. Bernhard Setzwein und Jaroslav Rudiš
Nachts in den Straßen von Sulzbach-Rosenberg (v.l.n.r.): Radka Denemarková, Patricia Preuß vom Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg, Eva Profousová und Jaroslav Rudiš alle Fotos auf dieser Seite, sofern nicht anders angegeben:

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa war Kooperationspartner der Veranstaltungsreihe

Die vom Deutschen Kulturforum östliches Europa (DKF) im Herbst 2008 mit zwei Autoren- und einer szenischen Lesung in Berlin veranstaltete Reihe ablagerungen. deutsche in der tschechischen gegenwartsliteratur wurde parallel vom Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg aufgeriffen und in einer variierten Form dem dortigen Publikum präsentiert. Sie stand dort unter dem Titel die eigene geschichte und die der nachbarn. tschechische und bayerische autoren im dialog und bestand aus zwei Lesungen mit anschließendem Gespräch. Zu den auch in Berlin lesenden tschechischen Autoren wurde jeweils ein bayerischer Schriftsteller eingeladen. Am 22. Oktober 2008 lasen zunächst Jáchym Topol und Anna Zonová (wegen Erkrankung der Autorin wurden ihre Texte vorgetragen) sowie Werner Fritsch.
(weitere Informationen hier).

In der zweiten Veranstaltung am 12. November 2008 stellten Radka Denemarková, Jaroslav Rudiš und Bernhard Setzwein ihre neuen Bücher bzw. noch unveröffentlichte Texte vor. Moderiert wurde dieser Abend wie alle Lesungen der Reihe von Eva Profousová, der renommierten Kennerin und Übersetzerin zeitgenössischer tschechischer Literatur, die auf Anregung des DKF die Autoren und die Texte ausgewählt hatte.

Radka Denemarkovás Roman penize od hitlera (»Geld von Hitler«) erzählt vom (fiktiven) Schicksal von Gita Lauschmannová, der jüngsten Tochter einer deutschsprachigen jüdischen Familie aus dem tschechischen Landesinneren, die als einzige das Konzentrationslager der Nazis überlebt. Nach ihrer Rückkehr in ihren Heimatort stößt sie jedoch auf erbitterte Ablehnung der Tschechen, die inzwischen Haus und Fabrik der Eltern konfisziert mit der Begründung haben, als deutschsprachige sei die Familie ja wohl den Nazis zuzuordnen. Radka Denemarková:

»Sie ist wie ein unschuldiges Vögelchen, das nicht begreift, was vor sich geht. Sie hinkt der Realität immer einen Schritt hinterher.«

50 Jahre später erhält sie das Haus zurück und im Dorf regt sich erneut Widerstand.

 

Trotzdem – oder gerade weil? – Radka Denemarková von ihren Landsleuten ein nicht gerade vorteilhaftes Bild zeichnet, wurde das Buch von der tschechischen Kritik gefeiert und erhielt 2007 den Literaturpreis magnesia litera. Der Grund liegt für die Schriftstellerin darin, dass »die Menschen beginnen zu begreifen, dass der jahrzehntelang bemühte, rechtfertigende Satz ›Die Zeiten waren schuld‹ nicht stimmt, sondern dass immer konkrete Menschen die Schuld für Verbrechen tragen.« Die vorgetragenen und bislang übersetzten Passagen lassen gespannt auf die Erscheinung der deutschen Übersetzung des Romans im Jahr 2009 (dva) warten. In Tschechien beginnen im nächsten Jahr die Dreharbeiten zu einer Verfilmung des Buches.

leseprobe in der Zeitschrift sprache im technischen zeitalter

Einen etwas anderen Ton schlägt der in diesen Tagen in die deutschen Buchhandlungen kommende zweite Roman grandhotel von Jaroslav Rudiš (luchterhand) an. Hauptfigur des Buches ist der Mitte zwanzigjährige Fleischman (mit einem ›n‹), ein psychisch angeknackstes Mädchen für alles im futuristischen Hotel auf dem Berg Ještěd in Liberec. Er interessiert sich, so scheint es, nur für das Wetter, v.a. die Wolken über der Stadt Liberec, die er noch nie verlassen hat und von der er nicht loskommen kann oder will. Das »deutsche Thema« verkörpert Franz, gebürtig 1923 in Reichenberg, wie die größte sudetendeutsche Stadt bis 1945 hieß. Der forsche Rentner hat es sich in den Kopf gesetzt, die Asche seiner beiden besten Freunde aus Jugendtagen, die wie er nach dem Zweiten Weltkrieg das Land verlassen mussten und inzwischen verstorben sind, auf seine ganz spezielle Weise in ihrer Geburtstadt zu beerdigen – denn »der Mensch soll da enden, wo er geboren wurde«.

Wie schon in seinem Debutroman der himmel unter berlin zeigt sich das große tragikomische Erzähltalent Rudiš' in diesem Buch. Raffiniert und fesselnd ist der Roman komponiert, der mit Zeitsprüngen, Wiederholungen und Verzögerungen nach und nach die Lebenslinien (und Lebenslügen) von Fleischmann, Franz und den weiteren Figuren aufzeigt. Die ausgezeichnete Übersetzung von Eva Profousová tut ihr Übriges, um dieses Buch zu einem wahren Lesevergnügen zu machen.

Jaroslav Rudiš, Jahrgang 1972, der auch entfernte deutsche Vorfahren hat (»Aber die hat ohnehin jeder zweite Tscheche – genau wie jeder zweite Sudetendeutsche tschechische Ahnen hat«), hat selbst einige Jahre als Nachtportier in einem (anderen) Liberecer Hotel gearbeitet. Er habe nie verstanden, wie man einen »Schlussstrich unter die Geschichte« habe ziehen und sagen können, »so, wir fangen jetzt ganz von vorne an.« Wenn man in einer Stadt wie Liberec/Reichenberg wohne, müsse man sich zwangsläufig mit der Geschichte beschäftigen. »Man sieht die alten Häuser von Liberec – eine der schönsten Städte Tschechiens – , noch erhaltene deutsche Aufschriften, Schilder oder Grabsteine und erkennt doch, dass hier offensichtlich schon jemand anderes gelebt haben muss.« Dass es sich dabei um deutsche Vergangenheit handele, sei für ihn nicht das Entscheidende gewesen. Ihn interessiere die Region ganz allgemein als »spannungsgeladenes Grenzland«.

Fleischman jedenfalls wird zum Komplizen von Franz' »Bestattungsfeldzügen«, obwohl er zunächst alles andere als überzeugt von dem Unternehmen ist:

»Aber ich machte mit. Seinetwegen. Aber auch wegen mir. Besser man macht im Leben wenigstens etwas als rein gar nichts.«

 

Ein großartiger Satz sei dies und könnte auch als Motto für ihn gelten, meinte Bernhard Setzwein. Der Schriftsteller aus Waldmünchen an der bayerisch-böhmischen Grenze, unternahm gemeinsam mit den beiden Oberpfälzer Kollegen Friedrich Brandl und Harald Grill eine Wanderung auf der Goldenen Straße in zwei Etappen: Zunächst von Pilsen/Plzeň nach Sulzbach-Rosenberg, später dann von Pilsen nach Prag.

»Ich habe, und deshalb gefällt mir der Satz so gut, 20 Jahre hin und her überlegt, dass ich so etwas gern mal machen möchte. Schließlich haben die beiden mich ›Greenhorn‹ kurzerhand mitgenommen …«,

worauf Jaroslav Rudiš einwirft:

»Ach, das ist übrigens auch ein sehr tschechisches Phämomen: Es reicht uns häufig, etwas zu planen, ohne es dann wirklich in die Tat umzusetzen.«

Nach der gemeinsamen, konsequenten Fußwanderung (»Wir haben tatsächlich jeden einzelnen Meter zu Fuß zurückgelegt und wenn man zwei Stunden an einer Industrielandschaft oder eine Stunde an einer Müllkippe vorbeiläuft, lernt man ein Land wirklich kennen.«) haben die drei Schriftsteller ihre Eindrück individuell literarisch verarbeitet. In Kurzprosa und Gedichten hält Setzwein mit mal nüchternem, mal spöttischen, dann wieder wehmütigem Blick seine Beobachtungen der Natur und der Menschen Böhmens fest: Die Vorliebe vieler Tschechen für Amerika im Allgemeinen und die Trapperromantik in Tarnhosen im Besonderen (»normal grün-schwarz gefleckt oder auch das Modell »goldener Herbst«), das liebliche Tal der Berounka mit seiner Karstlandschaft, die Wirtshäuser in den kleinen Orten, wo man sich prügelt und wieder verträgt, oder auch der Industriegürtel um Prag, der nicht auf den ersten Blick zum Wandern einlädt. Es sind v.a. die kleinen Skurillitäten, die ihn begeistern und die er nicht nur in der eigenen Heimat inzwischen vergeblich sucht, sondern auch in Tschechien mehr und mehr verschwinden sieht. »Am Bahnhof Prag-Smíchov sahen wir an einem Mast einen Käfig hängen und darin hielt jemand Papageien. Ich habe keine Ahnung, wer den dort hingehangen hat, aber irgendwer kümmert sich offensichtlich um die Vögel. So etwas sieht man nur in Böhmen.«

 

Das gemeinsame Buch mit den Texten der drei Autoren wird Anfang 2009 herausgegeben, bereits erschienen ist die Hör-CD zu fuss auf der goldenen strasse.

Um die Stadt Prag drehte sich auch die abschließende Diskussion des Abends. Für Jaroslav Rudiš ist speziell die Innenstadt mittlerweile eine »wunderschöne, aber leere Kulisse« geworden, in der kein normalsterblicher Prager mehr wohnen könne:

»Auf der Kleinseite/Malá Strana lebten früher 20.000 Menschen, heute sind es noch 5.000. Die kleinen Läden sind verschwunden, man kann dort nicht mehr einkaufen, ja man kann da nicht mal mehr essen gehen.«

Dagegen hält Radka Denemarková den Wandel nicht für etwas nur Negatives:

»Ich mag es und bin auch deswegen nach Prag gekommen, weil diese Stadt nicht stehenbleibt, sondern ständig ihr Gesicht wechselt.«

Mit dem Signieren der Bücher und anregenden Gesprächen klang die Veranstaltung im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg aus.

 

Weitere Impressionen