Resümee der Veranstaltung Das Kaliningrader Gebiet zwei Jahre nach der EU-Osterweiterung - Bilanz und Perspektiven
Heike Dörrenbächer und Klaus Harer
1
Das Podium des ersten Teils der Veranstaltung. V.l.n.r.: Peter Wunsch, Dr. Stephan Stein, Sergej Bulytschow, Dr. Heike Dörrenbächer, Wladimir Kusin, Dr. Guido Herz Fotos auf dieser Seite:
Wladimir Kusin, stellvertretender Wirtschaftsminister des Kaliningrader Gebietes, während seines Vortrags
Das Podium des zweiten Teils der Veranstaltung. V.l.n.r.: Dr. Andreas Kossert, Swetlana Kolbanjowa, Dr. Klaus Harer, Dr. Iwan Czeczot, Dr. Mathias Wagner

am 06.11.2006 in der Vertretung des Landes Brandenburg beim Bund

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa, die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde und die Vertretung des Landes Brandenburg beim Bund veranstalteten mit Unterstützung des DaimlerChrysler-Fonds eine Tagung zum Thema Das Kaliningrader Gebiet zwei Jahre nach der EU-Osterweiterung – Bilanz und Perspektiven.

Durch die Osterweiterung der EU am 1. Mai 2004 haben sich die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in der historischen Region um das Kaliningrader Gebiet wesentlich verändert. Polen und Litauen wurden Mitglieder der Europäischen Union, während die zur Russländischen Föderation gehörende Exklave Kaliningrader Gebiet durch Grenzen zu den Nachbarstaaten getrennt ist, die gleichzeitig EU-Außengrenzen sind. Zweieinhalb Jahre nach der Osterweiterung der EU und ein Jahr nach dem politischen Führungswechsel im Kaliningrader Gebiet wurde Bilanz darüber gezogen, wie die Chancen für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Kaliningrader Gebiets stehen.

An der Veranstaltung nahmen ca. 150 Experten und Multiplikatoren aus den Bundesbehörden, Verwaltungen, wissenschaftlichen Instituten und anderen Einrichtungen teil. In seiner Begrüßung betonte der Hausherr der Landesvertretung, Staatssekretär Dr. Gerd Harms, die Bedeutung des Kaliningrader Gebietes für die russisch-deutschen Beziehungen. Brandenburg ist mit der russischen Exklave auch durch eine Partnerschaft der Parlamente verbunden. Dr. Harms bedankte sich bei den russischen Partnern, die mit einer hochrangigen Delegation aus Regierung und Parlament angereist waren, für die Teilnahme an der Veranstaltung.


Im ersten Teil der Veranstaltung moderierte Dr. Heike Dörrenbächer, Geschäftsführerin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, ein hochrangig und kompetent besetztes Panel mit Vorträgen zur aktuellen wirtschaftlichen und politischen Situation im Kaliningrader Gebiet.


Wladimir Kusin, stellvertretender Wirtschaftsminister des Kaliningrader Gebietes, hielt das Eröffnungsreferat über Die sozio-ökonomische Entwicklung des Kaliningrader Gebietes. Neu war die erfreulich positive Entwicklung, die das Kaliningrader Gebiet in wirtschaftlicher Hinsicht in den vergangenen Jahren genommen hat. Unter den zehn föderalen Subjekten des Nordwestlichen Kreises nahm das Kaliningrader Gebiet den ersten Platz bei der industriellen Produktion ein. Doch auch im gesamtrussischen Vergleich kann das Kaliningrader Gebiet mithalten. Das Wachstumstempo ist im Kaliningrader Gebiet doppelt so hoch wie im russischen Durchschnitt. Dabei sei das Wachstumspotential bei weitem nicht ausgeschöpft.

Besonders interessiert sei man, so Sergej Bulytschow, Vorsitzender der Kaliningrader Gebietsduma, der über Das Kaliningrader Gebiet und seine Nachbarn sprach, die Industrieproduktion zu diversifizieren und nicht nur den russischen Markt, sondern auch die Auslandsmärkte zu beliefern. Dabei helfen soll die Kaliningrader Sonderwirtschaftszone, die nach jahrelangem Ringen zwischen Kaliningrader Gebiet und Zentralregierung in Moskau endlich etabliert ist. Hauptziel sei es, so Bulytschow, die Industrieproduktion mit Hilfe von ausländischen Investoren zu diversifizieren und für den Export zu produzieren.

Dr. Stephan Stein, Vertreter der deutschen Wirtschaft in Nordwest-Russland, der über Die Sonderwirtschaftszone Kaliningrad – ein Heilmittel für die Wirtschaft im Kaliningrader Gebiet? sprach, teilte im wesentlichen die positive Einschätzung seiner beiden russischen Vorredner. Wenngleich er an einzelnen Regelungen der Sonderwirtschaftszone Kritik übte, sei es gerade in den letzten drei bis vier Jahren erfolgreich gelungen, mehr ausländische, zunehmend aber vor allem auch russische Investoren für die Region zu interessieren. Dies sei nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der jetzige Gouverneur Eduard Boos sehr gute Kontakte zu den Moskauer Oligarchen habe.

Dr. Guido Herz, Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Kaliningrad, sprach über Ein Jahr Kaliningrad – Erfahrungen des deutschen Generalkonsuls. Er bestätigte die sehr gute wirtschaftliche Entwicklung und hob vor allem die positive Zusammenarbeit mit den Kaliningrader Behörden hervor.

Peter Wunsch, Leiter des Deutsch-Russischen Hauses in Kaliningrad, referierte über Chancen und Perspektiven des Kaliningrader Gebiets aus deutscher Sicht. Er unterstrich, dass eine spezifisch deutsche Betrachtung aus seiner Sicht nicht sinnvoll sei, denn Kaliningrad sei Bestandteil der Russischen Föderation, so dass Chancen und Perspektiven vor allem in/aus Moskau geschaffen und verwirklicht werden müssen. Er stellte die beachtlich umfangreiche Kooperation Deutschlands in und mit Kaliningrad vor. Als Fazit zog er, dass Kaliningrad im Kontext der europäischen Nachbarn zu sehen sei und es wünschenswert wäre, wenn die deutsche EU-Ratspräsidentschaft positive Akzente setzen könnte. Wichtig, so Wunsch, sei in jedem Fall die Verlängerung des europäisch-russischen Kooperationsabkommens, das 2007 nach zehn Jahren Laufzeit ausläuft und als Grundlage für die europäisch-russischen, aber auch die europäisch-Kaliningrader Beziehungen, sehr wichtig sei.

In allen Vorträgen wurde eine insgesamt überraschend positive wirtschaftliche Bilanz für die letzten Jahre gezogen. Gab es vor zwei Jahren bei einer ähnlichen Veranstaltung noch viel Klagen über die Rechtsunsicherheit in Kaliningrad, so ist heute eine wirtschaftliche Aufbruchsstimmung zu spüren, die sich an konkreten Wachstumserfolgen auch belegen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass sich diese Tendenz fortsetzt.


Um 19.00 Uhr wurde die Veranstaltung mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Das Kaliningrader Gebiet als Enklave der EU – historische, kulturelle und soziale Aspekte“ fortgesetzt. Die Diskussion wurde von Dr. Klaus Harer vom Deutschen Kulturforum östliches Europa moderiert.

Swetlana Kolbanjowa, Journalistin und Vertreterin jener jungen Generation von Kaliningradern, die eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte der Region für eine unabdingbare Voraussetzung einer positiven Perspektive halten, resümierte zu Beginn ihren Eindruck von den Nachmittagsvorträgen. Noch vor wenigen Jahren galt Kaliningrad als eine der hässlichsten Städte Europas und kaum jemand habe etwas Positives über die Perspektiven der Region sagen können. Daher sei sie als Kaliningraderin heute nicht nur außerordentlich froh darüber, dass eine Veranstaltung über das Kaliningrader Gebiet so reges Publikumsinteresse hervorrufe, sondern vor allem auch darüber, dass deutsche wie russische Fachleute und Entscheidungsträger die derzeitige Situation durchaus optimistisch einschätzten.

Der Historiker Dr. Andreas Kossert Autor des vielgelobten Buches Ostpreußen. Geschichte und Mythos (2004), plädierte für eine »Wiederentdeckung« Ostpreußens als einer kulturell ausgesprochen reichen historischen Region. Es sei an der Zeit, jenseits der jeweiligen nationalen Mythen die facettenreiche Geschichte Ostpreußens in den Blick zu nehmen. Die gemeinsame Reflexion von Russen, Polen, Litauern und Deutschen über eine Kulturlandschaft, in der jahrhundertelang Menschen unterschiedlicher Konfession und oft national nicht eindeutig bestimmbarer Zugehörigkeit zusammen lebten, sei eine wichtige Voraussetzung für ein grenzübergreifendes Zusammenwachsen. Der Soziologe Dr. Mathias Wagner, Leiter eines Forschungsprojekts, in dem polnische, deutsche und russische Wissenschaftler den »Kleinhandel an der neuen EU-Außengrenze zwischen Nordostpolen und dem Kaliningrader Gebiet« untersuchen, machte auf die sozialen Aspekte der grenznahen Gebiete um das Kaliningrader Gebiet aufmerksam. Für viele Menschen in der strukturschwachen Region bietet der Kleinhandel über die Grenzen die einzige, wenn auch wenig ertragreiche Existenzgrundlage. Der St. Petersburger Kunsthistoriker Dr. Iwan Czeczot, einer der besten russischen Kenner der ostpreußischen Kulturgeschichte, berichtete über die russische Perspektive auf die Kulturlandschaft Ostpreußen. Er war maßgeblich an der Herausgabe des Art-Guide Königsberg/Kaliningrad Now (2005) beteiligt. Seit 2004 führt Czeczot alljährlich die »Insterburger Sommerschule« im Insterburger Schloss (Tschernjachowsk) durch, in deren Rahmen sich Studenten aus St. Petersburg und Moskau mit Fragen europäischer Kultur beschäftigen und in Exkursionen das westlichste Gebiet der Russischen Föderation erkunden. Seine Prognose für die Entwicklung des Gebietes war nüchtern optimistisch: Das Gebiet floriere wirtschaftlich und werde auch weiterhin aufgrund seiner günstigen geografischen Lage prosperieren. Die kulturellen Ressourcen der Region seien jedoch in keinem erfreulichen Zustand. Für den Erhalt der verbliebenen Baudenkmäler und die geistigen Belange der Region sei großes persönliches Engagement aller interessierten und kompetenten Menschen vonnöten.