Die Bewohner des ehemaligen Ostpreußens auf alten Aufnahmen des Denkmalamtes Königsberg
Konrad Vanja
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Kinder vor dem Schulgebäude in Plauten. Fotograf unbekannt
Die kleinen Badenen. Fotograf unbekannt
Auf dem Markt in der Altstadt von Ragnit Fotograf unbekannt
Schumacherwerkstatt in Wehlau

Rede zur Eröffnung einer Ausstellung des Instituts für Kunstforschung der polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, präsentiert vom Deutschen Kulturforum östliches Europa in Kooperation mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg am 06. August 2005 im Schloss Caputh • Die Ausstellung ist bis zum 16. Oktober 2005 zu sehen.

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren,

als engagierter Mitstreiter im »Deutsch-Polnischen Jahr 2005/6« ist es mir eine große Ehre, die Ausstellung Der Fotograf ist da! Die Bewohner des ehemaligen Ostpreußens auf alten Aufnahmen des Denkmalamtes Königsberg mit eröffnen zu dürfen. Unter all den vielfältigen Beziehungen, die uns mit Polen nun schon seit mehreren Jahren verbinden, ist es mir zudem eine besondere Freude, auch gerade diese Ausstellung begleiten zu dürfen, die ich vor knapp zwei Jahren schon einmal im Instytut Sztuki Pan in Warschau anlässlich der Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker erstmals habe sehen dürfen. Insofern ist es heute eine Wiederbegegnung, die im »Deutsch-Polnischen Jahr 2005/6« deutlich macht, wie eng und selbstverständlich die Austauschbeziehungen zwischen Deutschland und Polen geworden sind und wie selbstverständlich die Bemühungen um das »gemeinsame Kulturerbe« – wie es Professor Andrzej Tomaszewski, der ehemalige Generalkonservator der Republik Polen, genannt hat – zwischen unseren Staaten inzwischen gelingen.

Nun zu unserer Ausstellung »Der Fotograf ist da!«: Sicherlich nicht zufällig wurde bei dieser Thematik der Fotografie im Alltagsleben des früheren Ostpreußens das Museum Europäischer Kulturen der Staatlichen Museen zu Berlin um die Einführung zu dieser Ausstellung gebeten. Ist doch die Geschichte des Alltags in Europa sein hauptsächlicher Gegenstand und die Beobachtung und Dokumentation seiner Lebenswelten seine Aufgabe. Das Museum Europäischer Kulturen ist jedoch darüber hinaus auch dafür prädestiniert, weil es sich seit etwa 15 Jahren mit dem Thema Fotografie intensiv auseinandersetzt – hier nenne ich insbesondere meine Mitarbeiterin Dr. Irene Ziehe.

Für die zu eröffnende Ausstellung möchte ich einige Gedanken äußern, die mir aus der Sicht des Ethnografen, Kulturwissenschaftlers und Fotohistorikers bedeutungsvoll erscheinen:

  1. Dokumentieren – Bewahren – Nutzen. Zur Situation und Bedeutung fotografischer Bestände und Archive
  2. Alltagsfotografie
  3. Fotogeschichte und Wissenschaftsgeschichte

1. Die Geschichte der Ursprünge der heute vorzustellenden Fotosammlung bestätigt in vielen Punkten die auch für andere Sammlungen zutreffenden Fakten: Gegründet aus pragmatischen Erfordernissen, engagiert, aber vielfach anfänglich noch unprofessionell betrieben, mit großem persönlichen Einsatz aufgebaut und permanent anwachsend, wurden diese Bildarchive viel benutzt, aber wenig gesichert. Weder sorgte man sich um eine sachgerechte Aufbewahrung, noch führte man Buch über Ausleihen. Die Fotografien galten als Dokumentationsmedium. Neben Zeichnungen und Aufrissen wollte man den status quo im Moment der Aufnahme festhalten, vielfach ohne jegliche ästhetische oder gar künstlerische Intention.

Fotografen waren – wie im Falle des hier vorliegenden Bestandes – Mitarbeiter der Institutionen: Architekten, Kunsthistoriker, Denkmalpfleger. Gern wurden aber auch professionelle Fotografen beauftragt bzw. für den Fremdenverkehr produzierte Aufnahmen und Postkarten angekauft.

Die Sammlung des ehemaligen Provinzialdenkmalamtes Königsberg geht auf eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme zurück, die – nach ersten fehlgeschlagenen Versuchen Mitte des 19. Jahrhunderts – in den 1890er Jahren durchgeführt wurde. Zwischen 1890 und 1896 bereisten der Denkmalpfleger Adolf Bötticher und der Architekt Fritz Heitmann die Provinz Ostpreußen, dokumentierten die Baudenkmäler fotografisch und als Messzeichnungen. Daraus entstand ein neunbändiger Bestandskatalog, publiziert zwischen 1891 und 1899. Das 1893 gegründete Provinzialdenkmalamt, dessen erster Konservator Adolf Bötticher war, erhielt 1903 ein Provinzialarchiv für Denkmalpflege, in dem nun auch neben den Akten und Archivalien die Fotos und Fotoplatten – man darf hoffen: archivalisch sachgerecht – aufbewahrt wurden. Richard Dethlefsen, dem Nachfolger Böttichers, gelang es schließlich auch, dieses Amt zu konsolidieren, indem es seit 1927 über einen eigenen Dienstraum und seit 1936 über vier Stellen Fachpersonal verfügte. Die Bedeutung der ständig quantitativ anwachsenden Fotobestände lag auf der Hand. In vielen Fällen dienten die Aufnahmen als Beleg für Inventarverzeichnisse. In den Wechselfällen der historischen Ereignisse, die oftmals mit Zerstörungen, Vandalismus und Unsensibilität einhergingen – insbesondere die systematischen Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges – , waren die Fotos oft auch Grundlage für Verlustkataloge oder aber in den besten Fällen für Restaurierungen. Persönliches Engagement und glückliche Zufälle ließen den hauptsächlich aus Glasnegativen bestehenden Fotobestand das Ende des Zweiten Weltkriegs – wenn auch nicht unversehrt, so aber doch in großen Teilen – überstehen. Das Archiv mit den Negativen kam ins Staatliche Kunstinstitut der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Instytut Sztuki PAN) nach Warschau, weiteres Fotomaterial gelangte nach Olsztyn, dem früheren Allenstein, ins Staatsarchiv (Archiwum Państwowe).

Die fotografischen Objekte wurden registriert und dokumentiert, schließlich mit Hilfe der Zeit-Stiftung Eberlin und Gerd Bucerius, Hamburg, in den Jahren 2001 bis 2004 digital erfasst, was zur langfristigen Erhaltung der Originalplatten maßgeblich beitragen wird.

Wie viel trotz aller Bemühungen durch das wechselvolle Schicksal und die nicht immer vordergründige Sorge um fotografische Dokumentationen vom ehemals vorhandenen Bestand verloren ging oder sich inhaltlich nicht mehr erschließen lässt, kann niemand sagen. Auch damit teilt diese Fotothek das Schicksal vieler Archive.

Generell hat erst in den letzten 15 Jahren ein stärkeres Bewusstsein für die Notwendigkeit der konservatorisch sachgerechten Bewahrung und der wissenschaftlichen Sacherschließung eingesetzt. Oftmals behindern bis heute Finanzknappheit oder gelegentlich auch noch eine gewisse Ignoranz die dringend erforderliche beschleunigte Katalogisierung und konservatorische wie restauratorische Betreuung.

Dabei liegt es auf der Hand, dass die Dokumentation, die Erfassung und Bewahrung von Sachzeugnissen – auch Fotografien sind mehr als Dokumente – einstmals zu ungeahnten Entdeckungen führen kann, wie auch im Falle dieses Bestandes.

2. Fotos vom Alltagsleben.
Eigentlich sollten nur die Baudenkmäler, Architektur, Plastik, Ausstattungsteile von Bauwerken sowie Denkmäler fotografisch festgehalten werden. Diese Aufnahmen dienten der Bestandserfassung und -bewahrung. Entsprechend wurden sie nun für diese Ausstellung in dem schön gestalteten und informativen begleitenden Katalog von Robert Traba, Arno Surminski und Jan Przypkowski kommentierend ausgewertet und mit eindrücklichen Gedichten von Wojciech Kass versehen.

Warum auf vielen Fotos aber nun Menschen, und zwar offensichtlich nicht immer nur als Staffage, vorkommen, kann man nicht ergründen, bestenfalls mutmaßen – man denke hier auch an die ansonsten »menschenleeren« Kunstaufnahmen der Architekturhistoriker!

Auf dem um 1900 entstandenen Foto Kinder vor dem Schulgebäude in Plauten, dem heutigen Pluty, mussten sich die Schüler »aufbauen«, stolz tragen die Jungen Hüte, was sie spontan ganz sicher nicht taten, die Mädchen offenbar ihre »guten Schürzen«.

Der Aufbau des Bildes erinnert uns an ein Foto aus dem Bestand unseres eigenen Hauses, auf dem der Gründer unseres Museums, Rudolf Virchow, die Schulkinder eines pommerschen Dorfes ablichtete. Im Unterschied zu dem Bildarchiv, aus dem besagtes Foto stammt, nämlich aus dem Archiv der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in dem es Virchow um ethnografische Aufnahmen geht, wird im Fall des Plautener Fotos wohl eigentlich das Schulgebäude von Interesse gewesen sein. Leider weiß man nicht, wer es fotografiert hat. Es könnte sein, dass sich bei dem Fotografen architektonisch-denkmalpflegerisches Interesse und der ethnografische Beleg der Nutzung zusammenfanden, was sehr modern gewesen wäre. Diese Bilder erinnern auch an die »sozialdokumentarische« Fotografie zur selben Zeit, etwa von Heinrich Zille.

Auf dem Foto Die kleinen Badenden von 1910/15 spielen Denkmalschutzaspekte überhaupt keine Rolle. Vielleicht sollte die Natur und ihre, in dem Fall spielerische Nutzung, festgehalten werden? Ein erotisches Moment kann man wohl ausschließen, raffen die beiden Mädchen ihre Röcke doch nur bis ans Knie. Handelt es sich also einfach um eine Zufallsaufnahme, um das spontane Festhalten einer den Fotografen faszinierenden Situation? In dem Fall wäre man aber doch sehr sensibel mit dem Material umgegangen, indem man es bewahrte, obwohl es erst einmal ohne kulturhistorisch erkennbaren Nutzen war.

Auch die Menschen Auf dem Markt in der Altstadt von Ragnit, dem heutigen Ragneta, (um 1910; unbekannter Fotograf) sind für die Kamera stehen geblieben, ob sie zufällig auf dem Markt waren und vom Fotografen gebeten wurden, einen Moment zu verharren, und zwar mit dem Blick zur Kamera, oder ob das Bild von vornherein bis ins Detail arrangiert wurde, ist zweitrangig. Entscheidender ist, dass dem fotografierenden Denkmalpfleger die Häuserzeile mit den Bewohnern der Stadt aussagekräftiger erscheint.

Noch deutlicher wird das bei einer Aufnahme von Oscar Bittrich, in der er eine Schuhmacherwerkstatt in Wehlau, dem heutigen Welawa, fotografierte und den Schuhmacher mit aufs Bild gebeten hatte.

Auf dem Originalbild – das gezeigte Bild ist ein Ausschnitt – befinden sich noch etliche weitere Personen; die Aufnahme erscheint wie ein Straßenpanorama. Gedacht war es wohl eigentlich, um die Perspektive dieser Straße zu erfassen.

Bei fast allen Fotos dieser Ausstellung haben derer Kuratoren, Jan Przypkowski und Piotr Jamski, Ausschnitte aus den Original-Negativ-Glasplatten gewählt. Die dargestellten Personen werden dadurch in den Bildmittelpunkt gerückt, was im Original nicht der Fall ist. Die Bedeutungsebene wird hierbei bewusst verändert. Puristen könnten das als unzulässigen Eingriff in die originale Bildaussage werten, aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich eher um einen Zoom auf das Sujet. Ein Glückwunsch den Kataloggestaltern, durch ihre gelungenen Ausschnittvergrößerungen auf so viele Details aufmerksam gemacht zu haben!

Wie konzeptionell auch immer diese Menschenaufnahmen waren, selbst die unbeabsichtigsten dokumentieren Alltagsleben der damaligen Zeit, so wie wir das heute tun, wenn wir Personen unseres Umfeldes für private Erinnerungen knipsen. Kleidung, Habitus, Frisuren, Gebrauchsgegenstände, Interieur, technische, verkehrstechnische, bauliche Details werden unbeabsichtigt ebenso dokumentiert und können damit zu gegebener Zeit zu Quellenmaterial und Dokumenten avancieren. Das ist auch dieser Ausstellung mit ihren Einblicken in das vergangene Ostpreußen gelungen.

Und damit sind wir beim 3. Aspekt: Fotogeschichte und Wissenschaftsgeschichte.

Die Gründe für den Aufbau eines Fotobestandes sind vielfältig. Er kann der Dokumentation dienen oder zur Illustrierung von Textquellen, aber eben auch selbst zur visuellen ethnografischen Quelle werden. Hier verbinden sich Entwicklungslinien der Wissenschaftsgeschichte, wie beispielsweise der Ethnologie, der Archäologie und der Kunstgeschichte und der Historie des Mediums Fotografie. Viele Entwicklungen haben sich beiderseitig bedingt, wären ohne einander nicht zum Tragen gekommen.

Als Kulturwissenschaftler und Ethnologe bin ich glücklich darüber, immer wieder auf historische Fototheken (oder auch zeitgenössische Sammlungen) zu stoßen, bergen sie doch im oben beschriebenen Sinne abseits jeder Nostalgie einen reichen Fundus zur Erforschung und Darstellung des Alltagslebens einer vergangenen Epoche. Als Direktor eines Museums Europäischer Kulturen bin ich darüber hinaus froh, eine Ausstellung des Institut für Kunstwissenschaften der polnischen Akademie der Wissenschaften, präsentiert vom Deutschen Kulturforum östliches Europa in Kooperation mit der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg begleiten zu können, die sich auch dem gemeinsamen Kulturerbe verschrieben hat. Darüber hinaus, meine Damen und Herrn, stellen die Aufnahmen in vielen Fällen einen ästhetischen Genuss dar, dem ich Sie nun überlassen möchte.

Prof. Dr. Konrad Vanja
Dr. Irene Ziehe

Der Autor ist Direktor des Museums Europäischer Kulturen (Staatliche Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz)

»Der Fotograf ist da!«
Die Bewohner des ehemaligen Ostpreußen auf alten Aufnahmen des Denkmalamtes Königsberg