Zum Vortrag unter dem Thema »Kognitive Karten und Geschichtspolitik: ›Ostmitteleuropa‹ in Europa« des Leipziger Professors Dr. Stefan Troebst, zugleich stellvertretender Leiter des dortigen Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), waren auf Einladung des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung rund 30 Gäste erschienen.
Ausgehend von der Frage nach der Entstehung des Begriffes »Ostmitteleuropa« und den hinter diesem liegenden geographisch-politischen Bezugsrahmen und Fragen nach der Genese der historischen Ostmitteleuropaforschung widmete sich der Referent am Beispiel Polens der Herausbildung der geschichtlich wie mythisch verklärten Grundlagen der nationalen polnischen Identität und ihres historischen Wandels anhand, so könnte man fast sagen, der Frage: »Wie maritim ist Polen?«
Mit diesem eher wenig bekannten Denkansatz überraschte der Referent seine Gäste und nutzte ihn, um so stellvertretend den Paradigmenwechsel in der Verräumlichung geschichtlich begründeter nationaler Mythen Ostmitteleuropas zu erklären. Im allgemeineren Rahmen ging es Troebst aber eher um die Frage nach möglichen Wechselbeziehungen zwischen kulturellen und politischen Raumvorstellungen mit nationalen oder anderen Identitätskonstituanten.
Es fällt auf, daß die hinter den – nicht nur geographisch, sondern mindestens auch politisch differenzierten – Vorstellungen von West-, Mittel- und Osteuropa liegenden konkreten Raumbezüge ebenso einem gesellschaftlichen Diskurs – und damit einem historischen Wandel – unterzogen sind wie die jeweils dem kollektiven Gedächtnis entrissenen Seinsbehauptungen, die gewöhnlich als Legitimitätsquellen nationaler Identitäten herangezogen werden.
Für Polen konnte Troebst zwei grundverschiedene aber gleichermaßen grundlegende nationale Politikmuster isolieren. Historisch mehrfach gebrochen basieren diese entweder auf einem aus der Binnensicht gewonnenen (piastischen) Modell des nationalen Wir-Gefühls oder auf einer von der Außensicht, gewissermaßen von den Küsten her generierten nationalen (jagiellonischen) Klammer, die – im Extremfall – von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte und Polen im Spiel der europäischen Mächte so, zumindest aus der Eigensicht, zum geographischen Mittler zwischen dem zaristischen Rußland und dem Deutschen Kaiserreich geradezu prädestinierte.
Mit einem Ölgemälde des Generals Haller, der, auf einem Pferd sitzend, im Jahr 1927 einen Ring in die aufgebrachte Ostsee wirft, mit der er sich und sein Land auf diese (offenbar bis heute höchst wirkmächtige weil noch immer praktizierte) Weise vermählte, demonstrierte Troebst jene tiefe Symbolik, die mitunter im nationalen Selbstverständnis verborgen liegt – und die im übrigen erstaunliche Parallelen aufweist zu einer durchaus vergleichbaren Handlung der venezianischen Dogen, die ebenfalls jährlich öffentlich rituelle Vermählungen mit der Adria mittels eines feierlich Ringwurfes durchführten.
Obgleich die nationale polnische Identität immer auch von – wie Troebst sagte – „terrestrischen“ Komponenten geschichtspolitisch mitbestimmt wurde, besitzen gerade die »maritimen« Elemente ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Mit Blick auf das nach 1980 im Zuge des Danziger Werftarbeiterstreits aufgerichtete, von zwei Ankern verzierte, große nationale Denkmal verwies der Referent darauf, daß dieses mit meeresmythologischen Versalien durchsetzte nationale geschichtspolitische Identitätsmanagement nicht nur die Zwischenkriegszeit, sondern auch die Zeit des Kommunismus überdauert habe und selbst heute noch eine Rolle spiele, die in den kommenden Jahren, mit der Integration Ostmitteleuropas in die Europäische Gemeinschaft sogar eher noch stärker werden dürfte.
Diesmal entstünde auf diese Weise ein tatsächlich von der Ostsee im Norden bis zum Schwarzen Meer bzw. zum Mittelmeer im Süden und zum Atlantik im Westen reichendes, wirtschaftlich und politisch miteinander verknüpftes Gebilde, dessen östliches Kraftzentrum, wenn schon nicht in politischer, so doch, jedenfalls für den osteuropäischen Raum, in wirtschaftlicher Hinsicht in Polen zu vermuten ist – womit die »maritimitätspolitischen Konstituanten« in der Steuerung des »nationalen Identitätsmanagements« des Landes – eingebettet freilich in einen nunmehr gesamteuropäisch konzipierten Bezugsrahmen – erneut verstärkt zur Geltung kommen werden.
Ein Artikel zum Thema wird demnächst in der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft erscheinen.