Die Verleihung des Literatur- und Übersetzerpreises »Brücke Berlin« der BHF-Bank-Stiftung an Olga Tokarczuk und Esther Kinsky war der Anlass für das Colloquium, das vom LCB in seiner Villa am Wannsee veranstaltet wurde. Olga Tokarczuk gilt als Vertreterin der polnischen »Grenzlandliteratur« – ein Ausdruck, den der polnische Schriftsteller Stefan Chwin geprägt hat. Dieser werden Werke zugerechnet, die sich mit den Spuren der verschiedenen Kulturen in den polnischen Grenzregionen Schlesien, Pommern und Galizien auseinandersetzen. Die Themen der drei Podiumsgespräche lauteten: »Die Rezeption mittel- und osteuropäischer Literatur im deutschen Sprachraum nach 1989«, »Spurensuchen« (mit deutschen Autoren, die in ihren Werken die Vertreibung thematisieren) und »Grenzlandliteratur«. Vor und zwischen den Diskussionen wurde den anwesenden Schriftstellern, Übersetzern, Lektoren, Publizisten, Wissenschaftlern und anderen Interessierten bei reichhaltiger Verpflegung die Gelegenheit zum regen Gedankenaustausch gegeben – der Blick über den wunderschön angelegten Garten auf den Wannsee wirkte dabei durchaus inspirierend.
»Die Rezeption mittel- und osteuropäischer Literatur im deutschen Sprachraum nach 1989«
Über die Veränderung der Wahrnehmung osteuropäischer Literatur in Deutschland von 1989 bis heute sprachen der ungarische Autor und Übersetzer György Dalos, Verantwortlicher für die Organisation des Länderschwerpunkts Ungarn bei der Frankfurter Buchmesse 1999, die Lektorin Christina Links, früher beim Verlag Volk und Welt spezialisiert auf russische Literatur, sowie Ingke Brodersen, Herausgeberin der »Zeitschrift für Mitteleuropa« Kafka und acht Jahre Leiterin des Rowohlt Verlages Berlin. Jürgen Jakob Becker, Programmverantwortlicher des LCB für den Bereich Übersetzer-/Übersetzungsförderung, befragte die beiden Lektorinnen zunächst zu ihren Erfahrungen in Bezug auf die Publikation osteuropäischer Literatur – das Spezialgebiet beider Verlage (Volk und Welt existiert inzwischen nicht mehr). Während Rowohlt als Verlag aus Westdeutschland nach dem Fall der Mauer mit der Gründung seines Sitzes in Berlin voller Entdeckerfreude die neuen Möglichkeiten nutzte, um spannende Literatur aus Osteuropa übersetzen zu lassen und zu publizieren, herrschte bei Volk und Welt zunächst Unklarheit darüber, ob man seinen globalen Ansatz weiter pflegen oder sich auf die osteuropäische Literatur spezialisieren sollte. Man hatte sie viele Jahre erfolgreich in der DDR vermittelt, gab ihr aber am freien Buchmarkt wenig Chancen. Tatsächlich flaute das Interesse für osteuropäische Autoren bei den Lesern aus der ehemaligen DDR aufgrund des nun zugänglichen Angebots von Literatur aus Westeuropa und den USA zunächst ab, nahm aber Mitte der 1990er Jahre wieder zu.
György Dalos erinnerte daran, dass ungarische Werke vor 1989 teilweise in zwei Übersetzungen jeweils bei einem westdeutschen und einem ostdeutschen Verlag herausgegeben wurden. So hatten manche ungarische Autoren in beiden Staaten und damit doppelten Erfolg in Deutschland. Heute sei ein deutlicher Anstieg der Verbreitung ungarischer Literatur in Deutschland zu verzeichnen. 1991 noch auf Platz 16 der Länderliste, steht sie heute auf Platz acht. Dies sei sicherlich auch ein Erfolg des Ungarnschwerpunktes auf der Buchmesse. Das Interesse könne aber auch wieder abebben, wie man es auch vor der Wende immer wieder erlebt hatte. Für die Verbreitung der Literatur einer bestimmten Nation im Ausland spielten oft auch Ereignisse von weltpolitischer Bedeutung wie der ungarische Aufstand von 1956 eine Rolle. Als Beispiel für die Unberechenbarkeit von Erfolg oder Misserfolg eines Buches nannte Christina Links die 1998 bei Volk und Welt erschienene deutsche Übersetzung des tschechischen Nachwendeklassikers Die Schwester von Kultautor Jáchym Topol – das erwartete große Interesse an den Abenteuern einer Gruppe von jungen Leuten in der Aufbruchszeit nach 1989 blieb aus.
Dalos wies darauf hin, dass die literarischen Vorlieben im Ausland nicht unbedingt der Rezeption im Lande selbst entsprächen. Die Verlagssituation sei heute in vielen osteuropäischen Staaten von Risikoangst und einer gewissen Statik geprägt, woran auch das Abbrechen des Dialoges zwischen den osteuropäischen Ländern 1989 schuld sei. Deshalb sei die in Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen erscheinende Zeitschrift Kafka als literarisches Forum so wichtig.
Abschließend wurde die grundsätzliche Bedeutung des deutschen Buchhandels für die Verbreitung osteuropäischer Literatur unterstrichen. Oft fanden und finden Werke von Autoren aus diesen Ländern ihren Weg in die Weltliteratur über deutsche Übersetzungen und auch deutsche Honorare und Vertriebsbemühungen spielen eine Rolle bei der Unterstützung und Verbreitung osteuropäischer Literatur.
»Spurensuchen«
Zum zweiten Gespräch des Tages waren deutsche Autoren eingeladen, die in ihren Werken die Welt der ehemals deutsch besiedelten Regionen in Osteuropa thematisieren. Der aus Oberschlesien stammende Schriftsteller und Übersetzer Henryk Bereska war war dabei der Einzige, der diese Welt noch selbst erlebt hat und als in der DDR lebender Spezialist für die Übertragung polnischer Literatur regen Kontakt in seine alte Heimat hielt. Alle anderen Gesprächsteilnehmer verarbeiten in ihren Werken die Erinnerungen ihrer Eltern, die sie mit ihrer eigenen Wahrnehmung konfrontieren oder verschränken und so eine neue literarische Dimension des Themas »verlorene Heimat« gestalten. Die Berliner Autorin Tanja Dückers schreibt gerade an einem Roman über den Untergang der »Wilhelm Gustloff« – ganz anders als Günter Grass und vom Erscheinen seines Romans Im Krebsgang während ihrer Arbeit überrascht. Roswitha Schieb erzählt in ihrem Buch Reise nach Schlesien und Galizien von Entdeckungsfahrten, die sie von der Heimat ihrer vertriebenen Eltern in die Heimat der in Schlesien nach 1945 neu angesiedelten Vertriebenen aus Ostpolen in der heutigen Ukraine führten. Die Grundlage für Jörg Bernigs Roman Niemandszeit bilden die Erzählungen seiner sudetendeutschen Familie, die ihn während seiner gesamten Kindheit und Jugend begleiteten. Das Thema Vertreibung wurde in der DDR, wo Bernig aufwuchs, als Tabu behandelt. Aber auch im Westen galt es in der zweiten und dritten Generation als Problem revisionistischer Ewiggestriger. Roswitha Schieb hat sich auch aus diesem Grunde erst spät für die Erzählungen ihrer Eltern interessiert. Deren Schwärmen vom »einzig wahren Leben« in der alten Heimat erschien ihr darüber hinaus zu verklärt und wirklichkeitsfern. Erst als sie nach 1989 selbst nach Schlesien reiste, erkannte sie den Zauber der Landschaft, begann sich aber auch für die Geschichte der polnischen Vertriebenen, die jetzt in den ehemals deutschen Häusern wohnen, zu interessieren.
Tanja Dückers, die sich ebenfalls vor familiärem Hintergrund mit dem Thema Vertreibung beschäftigt, betonte, dass es nicht nur 12 Millionen deutsche Vertriebene, sondern insgesamt 50 Millionen verjagte und zwangsumgesiedelte Menschen durch den Zweiten Weltkrieg gegeben habe. Das Problem der Vertreibung müsse im europäischen Zusammenhang und über die Grenzen hinweg diskutiert werden. Roswitha Schieb stellte fest, dass noch heute bei vielen Menschen im Westen eine Mauer im Kopf existiere, das allgemeine Interesse an den osteuropäischen Ländern und damit auch an deren Vertreibungsgeschichten habe seit 1989 nur wenig zugenommen. Jörg Bernig bemerkte, dass die Politik des 20. Jahrhunderts von Westeuropa bestimmt worden sei, wo das Phänomen der Vertreibung – für die Geschichte Mittel- und Osteuropas in diesem Jahrhundert so prägend – aus eigener Erfahrung unbekannt sei. Dass die Vertreibung in der Bundesrepublik mit dem Roman von Günter Grass, den Fernseh- und Zeitschriftenserien zu einer Art Modethema geworden sei, könne man als Ausschlagen des Pendels in die andere Richtung sehen: Eine in großen Teilen eher links geprägte westdeutsche Generation, die dem von den Vertriebenenverbänden besetzten Sachgebiet stets mit Abwehr begegnet war, hole hier ihr Informationsbedürfnis nach. Bernig sieht für die jüngeren Generationen, die den Verlust der Heimat nicht selbst erlebten, die Chance, die Vertreibung in ihren historischen Zusammenhängen zu verarbeiten und im gesamteuropäischen Kontext zu diskutieren. Als schreibender Nachkomme Vertriebener könne man über das Faktische hinausgehen, habe man von den Ereignissen doch nur aus zweiter, wenn auch vertrauter Hand und mit einem inneren Abstand erfahren. So habe man die Möglichkeit, erfinden zu können und sich im Erzählen über die politischen Grenzen hinweg zu bewegen.
»Grenzlandliteratur«
In der dritten und letzten Runde sprach Dorota Kerski, Herausgeberin von und Spezialistin für polnische Literatur, mit den Preisträgerinnen Olga Tokarczuk und Esther Kinsky, der tschechischen Übersetzerin Eva Profousová und dem Posener Germanisten Hubert Orłowski, der unter anderem zur Literatur über Heimat und Vertreibung in Polen, Deutschland und Tschechien geforscht hat.
Orłowski stellte eine zunehmende Auseinandersetzung polnischer Autoren mit dem übernationalen Erbe der Grenzgebiete fest und verwies auf die Bedeutung dieser Literatur als gemeinsamem Erinnerungsort für Deutsche und Polen. Autoren wie Olga Tokarczuk, Stefan Chwin, Pawel Huelle oder Kazimierz Brakoniecki schafften sich etwa in Schlesien, Pommern oder Masuren durch die literarische Aneignung der »postdeutschen« (poln. »po niemieckie«) kulturellen Hinterlassenschaften ihre neue Heimat. Es sei Ausdruck des Bedürfnisses nach einer identitätsstiftenden Regionalliteratur, dass deutschsprachige Heimatautoren wie Ernst Wiechert und Hans Hellmut Kirst, die in Deutschland verpönt oder vergessen sind, in ihren heute polnischen Geburtsorten verehrt werden.
Olga Tokarczuk betonte, dass es ihr beim Schreiben nicht um eine bewusste Aneignung der fremden Kultur ihrer Heimat gegangen sei. Es handle sich vielmehr um einen intimen Prozess. Sie habe das in Polen lange vorherrschende Tabu, über die Spuren der deutschen Vergangenheit zu sprechen, aus einem Gefühl der Hilflosigkeit heraus gebrochen. Seit der Kindheit habe sie das Empfinden gehabt, dass sie in den Ruinen einer verstorbenen Generation lebe. Der Mensch brauche aber Kontinuität und Verwurzelung in heimatlichen Mythen. Sie habe sich diese mit ihrer literarischen Welt erschaffen – einem Mikrokosmos, zusammengesetzt aus Gelesenem, Gehörten und Geträumten. Für sie sei es ein Glücksfall gewesen, in diesem Grenzgebiet aufzuwachsen. Die dort vorherrschende Atmosphäre der Relativität bewirke, dass man Fragen stelle und dies sei die Grundvoraussetzung für literarisches Schaffen. Es gehe ihr auch um die Infragestellung anderer Grenzen, wie der zwischen Mann und Frau oder Tier und Mensch.
Befragt nach einer »Grenzlandliteratur« in Tschechien konnte Eva Profousová keine entsprechende Erscheinung feststellen. In der Schule habe man gelernt, dass die Tschechen überall »die Ersten« gewesen waren. Über die Spuren deutscher und jüdischer Kultur wurde nicht gesprochen. Das Thema klinge seit der politischen Wende in einzelnen Werken an, diese bezögen sich aber nicht auf das Grenzgebiet. Ein Beispiel sei das 1992 im Ammann-Verlag erschienene Buch Das Wolschaner Reich von Daniela Hodrová, in dem Tschechen, Juden und Deutschen, die in einem Haus am Prager Wolschaner Friedhof über die Zeiten leben und gelebt haben, mit ihren Geschichten das Erzählgerüst des Buches bilden.
Taghaus Nachthaus von Olga Tokarczuk ist gerade in Tschechien erschienen und stößt dort auf Interesse, liegt sein Schauplatz doch auch im tschechischen Grenzgebiet. Man darf gespannt sein, ob es auch in Böhmen und Mähren literarische Diskussionen oder sogar eine zunehmende Auseinandersetzung dortiger Autoren mit dem Thema der übernationalen Identität auslösen wird.
Kafka – Zeitschrift für Mitteleuropa
György Dalos
Informationen auf den Seiten der Frankfurt kht., die mit der Ausrichtung der ungarischen Präsenz auf der Buchmesse 1999 beauftragt war.
Henryk Bereska
Informationen auf der Website des Neuen Gesellschaft für Literatur e.V., Berlin
Reise nach Schlesien und Galizien
Informationen von amazon.de
Niemandszeit, Roman von Jörg Bernig
Rezension von Doris Liebermann in der Welt vom 06.04.2002
Das Wolschaner Reich von Daniela Hodrová
Rezension von Eduard Schreiber in Freitag 28/2001 (06.07.2001)