Bericht über eine Veranstaltungsreihe vom 17. bis 19. September 2004 im Alten Rathaus Potsdam
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Diskussion zum Thema Czernowitz – Mythos und Wirklichkeit am dritten Veranstaltungstag mit (v.l.) Jurko Prohasko, Martin Pollack, Georg Aescht (Moderation), Karl Schlögel, Sergij Osatschuk und Eduard Weissmann.
Diskussion während der Veranstaltungsreihe

Ein »multikultureller Schmelztiegel« am östlichen Rand des Habsburger Reiches war Czernowitz, ein Ort, an dem jüdische, ukrainische/ruthenische, deutsche, rumänische und polnische Kultur existierten. Eines der verbindenden Elemente zwischen den verschiedenen Nationalitäten war die deutsche Sprache. Die Weltkriege und der Holocaust haben diese Vielfalt vernichtet. Doch wie sah das Zusammenleben der verschiedenen Nationalitäten – oft als beispielhaftes Modell der interkulturellen Kommunikation bezeichnet – in der Realität aus? War es ein Miteinander oder eher ein Nebeneinander?

Um diesen und anderen Fragen nachzugehen, um diese ehemals multiethnische und multikulturelle Stadt näher kennenzulernen, hatte das Deutsche Kulturforum östliches Europa vom 17. bis zum 19. September 2004 zu der Veranstaltungsreihe Mythos Czernowitz in das Alte Potsdamer Rathaus eingeladen. Wie groß das Interesse an diesem Thema war, zeigte die Teilnahmerzahl von ca. 150 Personen nicht nur zur Eröffnungsveranstaltung am Freitagabend, sondern auch zu den Veranstaltungen an den folgenden beiden Tagen.

Nach der Begrüßung durch den österreichischen Botschafter, Dr. Christian Prosl, und die Direktorin des Kulturforums, Dr. Hanna Nogossek, wurde die Veranstaltungsreihe und insbesondere die Ausstellung Viersprachenlieder erfüllten die Luft über die Literaturstadt Czernowitz mit einer szenisch-musikalischen Lesung unter dem Motto »Grüne Mutter Bukowina« eröffnet. Die Ausstellung, die neben Informationstafeln Bücher, Dokumente, Fotos, Briefe und Manuskripte zeigt, wurde von Helmut Braun, dem Herausgeber der Werke Rose Ausländers, erarbeitet und zusammengestellt. Gemeinsam mit den Künstlern Barbara Dommer, Maria Proujanskaja und Aron Proujansk gestaltete er auch den Abend.

Die Vortragsreihe am Sonnabend (18. September) stand unter dem Thema »Czernowitz im Spiegel seiner Nationalitäten«. Nach einführenden Vorträgen von Martin Pollack (Wien) und Helmut Kusdat (Wien) über die Stadt Czernowitz, referierte Ioan-Constantin Lihaciu (Iaşi/Jassy) über die Kunst und Kultur dieser ehemaligen Provinzmetropole. Danach folgten Vorträge, die Czernowitz und das Zusammenleben der multiethnischen Bevölkerung in dieser Stadt aus der Sicht der einzelnen Nationalitäten beleuchteten: Andrei Corbea-Hoişie (Iaşi/Jassy) sprach über das jüdische und jiddische Czernowitz, Gaby Coldewey (Berlin) über die deutschen Einwohner, Isabel Röskau-Rydel (Berlin) über das polnische Czernowitz, Jurko Prohasko (Lwiw/Lemberg) über die ukrainische Bevölkerung und Mariana Hausleitner (München) über das rumänische Czernowitz. Sergij Osatschuk (Tscherniwzy) stellte im letzten Referat des Tages das Czernowitz von heute und den Umgang mit dem gemeinsamen Kulturerbe vor.

Ein LiedTheater-Abend mit dem Celanschen Titel Mohn und Gedächtnis mit der Sängerin und Schauspielerin Jalda Rebling (Berlin) beendete die Veranstaltung am Sonnabend. Ihr zur Seite standen der langjährige Leiter des Pantomimenensembles am Deutschen Theater Berlin, Burkhart Seidemann, und die Akkordeonistin Franka Lampa, eine renomierte Spezialistin für osteuropäische Musik.

Die abschließende Podiumsdiskussion am Sonntag zeigte in verdichteter Form die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Stadt und wurde somit ihrem Titel Czernowitz – Mythos und Wirklichkeit gerecht. Der nahezu vollständige Verlust der Multikulturalität habe den Mythos der Stadt erst begründet, so der ukrainische Historiker Sergij Osatschuk, der – ähnlich wie Karl Schlögel von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) – darauf hinwies, dass eine allzu idealisierte Sichtweise der Vergangenheit den Blick auf das heutige Czernowitz und dessen Potential für die Zukunft verstellen könne. Gerade dieses Recht des Menschen auf die Verklärung der (schrecklichen) Vergangenheit, forderte der Cellist Eduard Weissmann ein, der 1943 als Kind jüdischer Eltern in Czernowitz geboren wurde und heute in Berlin lebt. Die sowohl auf dem Podium diskutierten als auch später im Auditorium aufgeworfenen Fragen machten deutlich, dass das Thema Czernowitz längst nicht abgeschlossen ist.

Die Veranstaltungsreihe endete mit der Vorführung des Films Dieses Jahr in Czernowitz (Volker Koepp, D 2004) im Potsdamer Filmmuseum. Bei der ausverkauften Vorstellung waren neben den Tagungsteilnehmern und -gästen auch einige der Protagonisten des Films wie Eduard, Gabriele und Nadine Weissmann, Ria Gold sowie Martin Meerbaum anwesend.