Vergissmeinnicht!
Wie sich Freunde aus dem Poesiealbum wiederfinden

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Das Poesiealbum: ein Büchlein voller Sinnsprüche, Gedichte und selbst gemalter Bilder. Was aussieht wie ein banales Erinnerungsstück an Kindheit und Jugend, erweist sich jedoch als wertvolles zeithistorisches Dokument, das Schicksale, Lebenswege und geschichtliche Kontexte eröffnet. In einer dreiteiligen Dokumentation machen sich Menschen auf die Spurensuche in ihre eigene Vergangenheit.

Was ist aus den Freunden von damals geworden? Warum haben sich die Lebenswege voneinander entfernt? Die Kamera ist dabei, wenn Menschen sich nach Jahrzehnten wieder begegnen, wenn die Tränen fließen und Erinnerungen wach werden. Durch Archivmaterial wird die Vergangenheit im Film wieder lebendig. Erzählt werden Geschichten aus fünf Jahrzehnten, von den 1940er-Jahren bis in die 1980er-Jahre, Geschichten von Menschen aus Norddeutschland, die in Deutschland und weit darüber hinaus alte Freunde ausfindig machen.

Ingelore und Dieter lernten sich Ende der 1940er-Jahre in einem Flüchtlingslager in Hamburg kennen. Dann trennten sich ihre Wege, beide gründeten Familien. Jahrzehnte später begegnen sie sich wieder und werden endlich doch noch ein Paar. Wenn die beiden heute in Ingelores Poesiealbum blättern, dann findet sich darin nicht nur der Spruch von Dieter. Auch Peter verewigte sich 1946 darin mit einem Vers, er war bester Freund, aber auch ein wenig Dieters Nebenbuhler. Vor allem aber waren die drei unzertrennlich. Der verschollene Freund lebt seit Jahrzehnten in den USA. Auch er sehnt sich danach, Ingelore und Dieter zu sehen. Nach mehr als 60 Jahren treffen sie sich in Hamburg wieder.

Die Menschen aus Ostpreußen oder Pommern, die am Ende des Zweiten Weltkrieges vor der Front flohen, trugen sie nicht viel bei sich. Auch Irmgard Schünemann musste damals Hals über Kopf ihre Heimatstadt Stettin verlassen. Alles ging verloren, nur nicht ihr Poesiealbum. Jetzt macht sich die über 80-Jährige noch einmal auf in ihre alte Heimatstadt.

In den 1940er-Jahren beginnt auch die Geschichte von Irmgard Melzer aus Schwerin. In Gedanken ist sie oft bei ihrem Freund Rudi Schlesiger. Die beiden trafen sich 1946 in einem Auffanglager für Flüchtlinge in Dänemark. Beide waren dort gestrandet, genau wie Zehntausende andere Menschen aus Ostpreußen. Aus losen Blättern band sich Irmi ein Poesiealbum. Rudi durfte als Erster einen Spruch eintragen. Später verloren sie sich aus den Augen. Jetzt hat Irmi »ihren« Rudi in Bayern ausfindig gemacht. 70 Jahre nach ihrem letzten Treffen sehen sie sich in Dänemark an der Gedenkstätte für das Flüchtlingslager wieder.

Eine völlig andere Geschichte erzählt Elke aus Hamburg. Denn in ihrem Poesiealbum findet sich der Spruch einer echten Kaiserin: Soraya aus Persien schrieb ihre Grüße hinein. Dafür ist Elkes Vater verantwortlich. Er wollte das Selbstbewusstsein des Mädchens stärken und lud es kurzerhand vor dem Hamburger Hotel Atlantic ab, wo der damalige Schah von Persien und seine Frau Soraya im Jahr 1955 abgestiegen waren. Ein Journalist erbarmte sich des schüchternen Mädchens, und über einen Privatsekretär gelangte Elkes Poesiealbum schließlich in die königliche Suite.

Geschichten wie diese finden sich viele, wenn Menschen in ihrem Poesiealbum blättern: Hartmut aus Vorpommern wuchs in einem Kinderheim bei Berlin auf. Nach vielen Jahren begegnet er nun seinem damaligen Beschützer Andreas wieder. Auch Martina und Holger haben sich über Jahrzehnte nicht gesehen. Beide sind in Hannover in den 1970er- und 1980er-Jahren aufgewachsen. Die beiden waren sehr ungleiche Freunde: Die große Martina kümmerte sich immer um den kleinen Holger. Nach der Schulzeit verließ Martina Hannover und kehrte nicht mehr zurück. Holger hütet seitdem seinen Schatz: die Erinnerung an die Kindheit und an Martina. In den 1980er-Jahren spielt auch die Geschichte von Jeannette und Peter. Beide waren Schwimmer, hofften auf die Aufnahme in den Nachwuchskader im DDR-Leistungssport. Doch der Staat durchkreuzte die Träume und Erwartungen der beiden. Jeannette war als Tochter eines aus dem Kongo stammenden Studenten nicht gut angesehen, ihre Mutter floh mit ihr aus der Stadt aufs Land nach Mecklenburg. Auch bei Peter ging es eines Tages ums Ganze: Sport oder Kontakt zur Westverwandtschaft, lautete die unfaire Wahl, vor die er gestellt wurde. Seine Familie entschied sich für die Tante in Ratingen im damaligen Westdeutschland, Peters Karriere war beendet. In Mecklenburg treffen sich Jeannette und Peter jetzt wieder und steigen noch einmal ins Schwimmbecken.

Wenn Gesa aus Kiel in ihrem Poesiealbum blättert, dann hat sie nicht nur schöne Erinnerungen. Das Mädchen wurde regelmäßig von seinem despotischen Vater verprügelt, nach außen wurde der schöne Schein gewahrt. Wie anders war das Leben von Gesas Freundin Dörtlis: Ihr Elternhaus stand allen Freunden offen, Gesa fühlte sich dort wohl. Die beiden verloren sich aus den Augen, als Dörtlis eine steile Karriere machte. Sie lebt heute als Ärztin in Kalifornien. Als die beiden sich nach vielen Jahren wiedertreffen, trägt Gesa noch immer schwer an ihrer Vergangenheit. Ihr unschuldiges Poesiealbum weiß davon nichts.

Ein Film von Matthias Schüma, Redaktion Birgit Müller, 2022, ca. 45 Min.

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