Laudatio von Prof. Dr. Karl Schlögel auf das Institut für angewandte Geschichte – Gesellschaft und Wissenschaft im Dialog e.V. anlässlich der Verleihung des Georg Dehio-Kulturpreises 2021 – Förderpreis
1
Prof. Dr. Karl Schlögel. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2021 • Anke Illing

Laudatio gehalten am 7. Oktober 2021 im Festsaal des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung (Deutschlandhaus) in Berlin

 

Liebe Mitglieder des Instituts für angewandte Geschichte,
Verehrte Mitglieder der Jury,
Verehrte Direktorin Bavendamm, verehrter Direktor Roth,
verehrte Ministerialdirektorin Bering,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
Szanowni Państwo i Koledzy

Es ist immer ein kleiner Festtag, wenn jemand für das ausgezeichnet wird, was er oder sie oder beide zusammen geleistet haben. Die Jury hat eine ausgezeichnete Entscheidung getroffen, und ich darf zuerst der Stiftung und Kulturgemeinschaft Borussia Alleinstein/Olsztyn, die soeben von Andreas Kossert gewürdigt worden ist, gratulieren. Was das Institut für angewandte Geschichte geleistet hat, ist von der Jury zutreffend beschrieben worden. Ich kann dem nur zustimmen, darf aber noch ein paar Sätze anfügen.

Ich freue mich ganz persönlich, dass das Institut, um es kurz so zu nennen, den Förderpreis erhalten hat, weil ich die Initiative von Anfang an kannte, gedanklich begleitet habe, aber wohl nicht über jene Mittel verfügte, die hätten helfen können, die Arbeit dieser kleinen Gruppe so zu unterstützen, wie sie das verdient hätte. Aber so ist ja meistens: gefördert wird in der Regel nicht das, was mit allen Risiken des Anfangs verbunden ist, und wo noch nicht klar ist, ob daraus etwas wird oder gar etwas Bleibendes entsteht, sondern dasjenige, was sich endlich und irgendwann durchgesetzt, allgemeine Anerkennung gefunden hat – das ist ja allgemein bekannt. Aber lieber spät als gar nicht, und die Auszeichnung bezeugt eben, dass die Ideen und Aktivitäten des Instituts sich letztlich doch jene wohl verdiente Anerkennung verschafft haben. Mein herzlicher Glückwunsch also, und die Auszeichnung als Ermutigung weiter zu machen, das Feld, das groß und schwer genug ist, zu  beackern.

Die Jury hat das Wichtigste schon gesagt: ein neuer Zugang zur Regional- und Lokalgeschichte, die Überschreitung der einspielten Grenzziehungen, die Thematisierung von lange verschwiegenen, verbotenen, tabuisierten, oft unter Generalverdacht stehenden Themen – als da waren die ehemaligen Ostprovinzen des Deutschen Reiches, das östliche Brandenburg jenseits der Oder, die Neumark; die Sichtbarmachung von Spuren einer anderen Topographie der Gewalt entlang einer Autobahn; jüdische Friedhöfe und Orte jüdischen Lebens in Orten jenseits und diesseits der Oder, von denen man mehr als ein halbes Jahrhundert nichts gesehen, nichts gehört hat oder auch nicht wissen wollte. Die Jury hat gut verstanden, dass diese Gruppe, die sich wesentlich aus Studierenden der Viadrina bestand, sich immer wieder aufs Neue rekrutieren und finden musste, denn man studiert ja nicht für die Schule, sondern fürs Leben, es geht hinaus aus der Universität – diese Kontinuität bei ständiger Erneuerung aufrechtzuerhalten, ist ja eine große Leistung: Sie besagt: man arbeitet an etwas, nicht weil es eine Stelle dafür gibt, sondern es ist ein tiefer liegendes  Interesse, ja die Leidenschaft für eine Sache, die den Zusammenhalt über die Zeit, über die wechselnde Zusammensetzung hinweg herstellt, ein geistiges Band also.

Ich darf dies an diesem Ort besonders betonen, wo ja nun mit dem Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung etwas Gestalt angenommen hat, das in den Köpfen der Frankfurter Studierenden schon vor über 20 Jahren gedacht und hin und her bewegt worden ist. Der »europäische Vertreibungskomplex« war seit der Mitte der 1990er Jahren zentrales Thema an der Viadrina, einer Universität im Aufbau. Vielleicht bin ich einer der wenigen, der noch mitbekommen hat, was dieses Haus vor seiner Totalentkernung war. Hier lagen entlang der langen Korridore die Büros der Landsmannschaften – von Ostpreußen bis zur Bukowina und den Russlandeutschen –, auf den Fluren und im Foyer gab es Vitrinen mit Objekten aus den Vertreibungsgebieten, wie sie damals hießen, Landkarten, Wappen, vor allem aber eine Bibliothek. In dieser Bibliothek war die Literatur zur Flucht und Vertreibung zu finden, Atlanten, Heimatbücher, die man ansonsten nirgends bekommen konnte. Außerdem konnte man unbürokratisch ausleihen – ich hätte die Bestände der Bibliothek gerne in Frankfurt gehabt.

Die Besucher konnte man an einer Hand abzählen, Staub überall, ein abgelegener Ort von Rest-West-Berlin, aber in den 1990er Jahren ging plötzlich ein neuer Wind durch die Flure, Veranstaltungen zu Schlesien etwa, und zwar keineswegs unter »Schlesien ist unser«-Losungen, sondern in der Zuversicht, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhangs endlich auch – jenseits von Rechthaberei, Nostalgie, wirklichem oder eingebildetem Revanchismus – über eine verlorenen Heimat gesprochen werden könnte, die eben seit langem auch die Heimat anderer ebenfalls Geflüchteter, Umgesiedelter und Vertriebener geworden war.

Dass es in Frankfurt war, wo man vor allem und zuerst über diese neue Situation sprechen konnte, lag ja nahe, aber unriskant war es auch dort nicht. Lieferte man nicht Argumente für die Ewiggestrigen, bekam man nicht Beifall von der falschen Seite? Der bundesrepublikanische und DDR-Diskurs darüber, war immer noch vermintes Gelände, während man an der Oder die ganze Geschichte wie von einem Balkon vor Augen hatte, man musste sie nur aufmachen: die Teilung der Stadt durch die neue Grenze, die alte Dammvorstand nun das polnische Slubice, die Umbenennung von Straßen, Plätzen und Häusern, Lebensgeschichten en masse, nicht zuletzt die Kühe in den Oder-Auen, von denen es hieß, sie seien aus Litauen mit den Vertriebenen und Umgesielten aus dem verlorenen polnischen Osten nach Westen gewandert. Ich entsinne mich an die ersten Diskussionen, zu denen auch Ukrainer, die als Opfer der Akcija Wisla aus Südostpolen nach Nordwestpolen umgesiedelt worden waren, eingeladen waren. In Frankfurt war das Schweigen hörbar, man war den Bildern und Orten ausgesetzt und man war angeregt oder gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen, nicht aus Gründen irgendeines gerade angesagten Diskurses, sondern weil es die Faktizität der Umgebung gebot. Es ist eben kein Zufall dass die ersten Konferenzen zum »europäischen Vertreibungskomplex« dort in den 1990er Jahren stattfanden, es ist kein Zufall, dass von dort sogleich Beziehungen nach Thorn/Toruń, Allenstein/Olsztyn, Breslau/Wrocław, sogar Kaliningrad/Königsberg geknüpft wurden. Und es war auch kein Zufall, dass Gräfin Dönhoff, die aus Ostpreußen Vertriebene und hörbarste Stimme der Versöhnung in Westdeutschland, ihren Namen lieh für das neue Hörsaalgebäude. Studierende aus ganz Europa waren an die neue Universität gekommen, eben weil sie das Privileg des Ortes an einer Grenze, die aufgehört hatte, eine Demarkationslinie zu sein, nutzen wollten – für die Erkundung einer bisher den meisten unbekannten Welt.

Es war eine großartige Zeit des Aufbruchs, in der polnische und deutsche, bald auch tschechische Historiker und Historikerinnen aufeinandertrafen – ich denke an den jüngst verstorbenen Włodzimierz Borodziej, an die zahlreichen Besuche von Robert Traba, an György Konráds Rede zum Recht auf Heimat, auch an Matěj Spurnýs Topographie des verschwundenen Sudetenlands – er war noch als ganz junger Mensch an die Viadrina gekommen. Wir alle waren beseelt von dem Wunsch, das Thema aus der ideologischen Konfrontation, der ewigen Rechthaberei herauszuholen und einen Raum zu öffen, in dem erzählt werden konnte, und in dem man lernte, sich zuzuhören. Das Gespräch, das in den 1990ern so frei und inspirierend begonnen hatten, mündete dann bekanntlich und allzu lange ein in die kontraproduktive Parallelaktion von Zentrum gegen Vertreibung und Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung, sie geriet abermals zwischen alle Partei- und Rechthabereifronten, so dass es mehr als zwei Jahrzehnte gedauert hat, bis es endlich zur Eröffnung dieses Hauses kam – merkwürdigerweise und nicht ganz verständlich einen Tag vor dem 80. Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, was hoffentlich und möglicherweise nur mit dem Terminkalender der zuständigen Ressorts zu erklären ist.

Die Aktivisten und Aktivistinnen des Instituts für angewandte Geschichte haben sich der allseits präsenten Geschichte gestellt, sie haben sich faszinieren und erschrecken lassen von dem, was sie zu sehen bekamen, von Landschaften und Städten, sie haben sich an eine Art Frankfurter Archäologie gemacht und hätten wohl schon viel früher, als es dann geschehen ist, den ganzen europäischen Vertreibungskomplex und den Komplex der Grenzen im Europa des 20. Jahrhunderts zum Markenkern der Universität gemacht, die ja aus guten Gründen lateinisch und transnational Viadrina, d.h. »die an der Oder gelegene«, heißt. Die jungen Leute vom Institut für angewandte Geschichte haben einen neuen Raum aufgemacht und beispielhaft gezeigt: so kann man es machen, so muss man es machen, indem sie die alte Grenze, indem sie die Oder hinauf und hinab gefahren sind, indem sie die Überreste der Lager entlang der geplanten Autobahntrasse Berlin – Posen/Poznań ausfindig gemacht und dokumentiert haben. Indem sie den spärlichen Spuren jüdischen Lebens in Frankfurt plus Frankfurter Dammvorstand nachgegangen sind, haben sie eine Stadt mit einer der größten jüdischen Gemeinden des Mittelalters wieder ins Zentrum Mitteleuropas gerückt. Man nennt das neudeutsch: Mapping, Re-mapping, die Veränderung der mentalen und kognitiven Landkarten in den Köpfen, in denen die lange verschütteten und immer wieder überschriebenen Zeitschichten freigelegt und sichtbar gemacht werden. Das sind dann nicht nur Beiträge zur Erweiterung unseres Geschichtswissens, sondern zur Veränderung eines Erfahrungs- und Lebenshorizonts, zur Entstehung eines neuen Raumbildes, ein Beitrag zur Entprovinzialisierung des lokal Verhockten und zur Verknüpfung des Lokalen mit der weiten Welt draußen und den Großereignissen, die über die kleinen Welten vor Ort hereinbrechen. Nirgendwo war das dringlicher als in einer Region, die in den Schatten einer doppelten Grenze, ins Abseits geraten war. Die Aktivitäten des so umtriebigen Instituts waren somit auch ein wichtiger Impuls und Beitrag für die Veränderung, die Erneuerung, ja Modernisierung des Selbstbildes einer Stadt, einer Region.

Institut für angewandte Geschichte ist ein fast etwas altmodisch klingender Terminus für das, was man im Neu-Deutschen »public history« nennt. Und ich finde es toll, dass viele aus diesem Kreis ihren Weg aus einer akademisch beschränkten Welt hinaus in die öffentliche Wirksamkeit  gefunden haben.

So wie ich die Mitglieder des Instituts kenne, besonders Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach, die ich hier stellvertretend für andere nenne, sind sie voller neuer Ideen, die darauf warten, endlich in die Tat umgesetzt zu werden. Einen vakanten Ort, an dem das geschehen könnte, gibt es ja: das leerstehende Kollegiengebäude in Frankfurt an der Oder. Themen, die mit einer Vergegenwärtigung des Raumes entlang der Oder, der Stadt Frankfurt und der alten terra transoderana verbunden sind, gibt es mehr als genug. Die in den letzten Jahren auch außerhalb des Instituts in Gang gekommene Erkundung der Frankfurter Topographie – ich denke hier an den vor kurzem erschienenen Stadtführer – eröffnet neue Perspektiven und Blickachsen auf Brandenburg-Preußen, auf Preußen-Deutschland und Deutsches Reich als zwei- oder sogar Vielvölkergebilde, auf die Mythen und Topographien der »ostelbischen Welt«, auf Frankfurt, das im 20. Jahrhundert mehr als einmal zum hub und Transitpunkt für Millionen – ins Unglück und in die Freiheit – geworden ist, nicht zu vergessen die sozialen und kulturellen Umbrüche der Nachkriegszeit in einem »Kontinent der wandernden Grenzen«, so Joseph Roth, bis hin zu den bis heute wirksamen  Verwundungen und Leistungen. Wenn das Institut für angewandte Geschichte immer in einem Atemzug von der Doppelstadt Frankfurt-Slubice und immer von gemeinsamer deutsch-polnischer Arbeit spricht, dann wird deutlich – ich verstehe es so – dass es eben nicht nur um die Erkundung von Erinnerungsorten, und auch nicht nur um Geschichtsorte geht, sondern um Arbeit an einer gelingenden Gegenwart und Zukunft.

Die mit dem Förderpreis verbundene Anerkennung der bisherigen Arbeit wird, so hoffe ich, den Weg auch für eine weitergehende Unterstützung eröffnen. Mit diesem Wunsch möchte ich meine kleine Lobrede beenden.

Weitere Informationen zum Georg Dehio-Kulturpreis 2021