Sehr geehrte Jury-Mitglieder,
Meine Damen und Herren,
ich hoffe, Sie werden mir Recht geben, wenn ich sage: Es gibt Bücher, die man einfach nur genießen will, ohne sich mit Informationen über ihre Entstehungsgeschichte zu belasten. Es gibt aber auch solche, auf die das Gegenteil zutrifft: Man möchte möglichst genau wissen, wie sie entstanden sind, wie der Autor zu diesem literarischen Ergebnis gekommen ist. Und es gibt schließlich Bücher, bei denen beides, der literarische Genuss und der Wissensdurst, zusammenfließen. Zu dieser dritten Kategorie gehören, wie ich finde, die Bücher von Marek Krajewski – und deshalb erlauben Sie bitte, dass ich Ihnen einiges über ihre Entstehung erzähle.
»Ich wollte schon lange ein Buch lesen, dass in Breslau spielt und die Handlung eines Kriminalromans mit metaphysischen Elementen verbindet. Da es ein solches Buch nicht gab, beschloss ich, es selbst zu schreiben.«
So kommentierte Marek Krajewski sein Debüt, das er 1999 mit dem Roman Tod in Breslau (dt. 2002) gab. Der Titel signalisierte das Genre, den Handlungsort und – da auch im polnischen Original der deutsche Name der Stadt stand –, dass das Buch in der Vorkriegszeit spielen würde.
Genaugenommen spielte es in den Jahren 1933/34, die Handlung, die mit einem grausamen Verbrechen an einer jungen Baronesse einsetzte, war voller Rätsel und Widersprüche, und die Hauptfigur – der Kriminalrat Eberhard Mock, ein Bonvivant, Zyniker und Säufer, der weder brutale Verhörmethoden noch zweifelhafte erotische Eskapaden scheute – hatte etwas Faszinierendes an sich. Vor allem aber staunte man über den Schauplatz des Geschehens, weil es ein Breslau war, das es bis dahin nicht einmal in der deutschen Literatur gegeben hatte: Es war das Breslau des beginnenden Faschismus, in dem aber nicht nur politische Mitläufer, sondern auch diverse Gauner und Spekulanten ihr Spiel trieben. Erpressung, Intrigen, Sexskandale, Alkoholexzesse, geheime Sekten: All das setzte sich zu einer dichten und düsteren Atmosphäre zusammen, in der ein Mord wie die natürliche Konsequenz des allgemeinen Verfalls wirkte.
Dieses einzigartige, morbide Klima behielt die Stadt auch dann, als Marek Krajewski in seinem nächsten Buch, Weltuntergang in Breslau (2003, dt. 2006), die Handlung in die »goldenen« zwanziger Jahre zurückverlegte. Auch diesmal bewegte sich sein Protagonist, Eberhard Mock, durch einen Ort voller dunkler Straßen, schmutziger Bordelle und billiger Spelunken, in der klare Grenzen zwischen Verbrechern und anständigen Bürgern nur selten auszumachen waren. Dabei hatte er nicht nur einen, sondern gleich eine ganze Serie brutaler Morde aufzuklären, und da weder die Opfer noch die Todesarten sich ähnlich waren – es gab nur eine Gemeinsamkeit: jedes Mal wurde am Tatort ein Kalenderblatt gefunden (daher der deutsche Titel Kalenderblattmörder) –, brauchte er dafür etwas länger.
Auch dieser Roman war äußerst spannend, zumal Marek Krajewski hier noch stärker den Ehrgeiz hatte, das politische Zeitgeschehen einzubeziehen, ein Sittengemälde der deutschen Vorkriegsgesellschaft zu zeichnen und die Topographie des alten Breslau möglichst genau festzuhalten, ja er arbeitete sie geradezu mit der Akribie eines Forschers aus, was sich dann in etwa so las:
Mock verließ den Hauptbahnhof durch den Hinterausgang. Er ging nach rechts zur Eisenbahndirektion, dann nach links an den vom Raureif bedeckten Bäumen des Teichäckerparks vorbei und überquerte die Gustav-Freitag-Straße. An dem Rasenstück gegenüber dem Elisabeth-Gymnasium blieb er stehen. […] Der Gedanke an den Wachtmeister erinnerte ihn an die Notwendigkeit eines Ausflugs in das von ihm nicht besonders geschätzte Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Er ging geradeaus in die Malteserstraße, am Elisabeth-Gymnasium und dem Gebäude der Volksschule vorbei, dann bog er rechts in die Lehmgrubenstraße ein. Er überquerte sie diagonal, wobei er beinahe von einer Straßenbahn Nr. 6 überfahren worden wäre, und trat in den Eingang des Hauses Nr. 25, das sich gegenüber der Heinrichskirche befand.
Nun fragt man sich natürlich, wie Marek Krajewski zu all diesen topographischen und sonstigen Details gekommen ist. Und darauf gibt es einige Antworten. Zum einen ist es auf die Tatsache zurückzuführen, dass er in dieser Stadt zur Welt kam und dass sie ihn von früh an faszinierte. Sein Geburtshaus lag in der heutigen Żelazna-Strasse, von der er eines Tages erfuhr, dass sie früher Martin-Opitz-Straße geheißen hatte. Und seine Grundschule befand sich in einem alten Ziegelsteinhaus, und an dem da und dort deutsche Aufschriften zu sehen waren. Das machte ihn nach eigenen Worten nachdenklich – genauso wie er darüber staunte, warum man an dieser Schule, an der die deutsche Sprache so starke Spuren hinterlassen hatte, hartnäckig behauptete, dass die deutsche Geschichte Breslaus lediglich eine Episode gewesen sei.
»Es war nur die Neugier eines kleinen Jungen«,
erzählte er mir einmal,
»aber sie wuchs ständig. Ich fragte mich immer öfter: In was für einer Stadt lebe ich eigentlich? Ich hatte ein immer größeres Chaos im Kopf und beschloss, dieses Chaos zu ordnen. Also fing ich an, mich für die Vergangenheit Breslaus zu interessieren. Ich kaufte mir in einem Antiquariat einen deutschen Stadtplan von Breslau und fing an, polnische und deutsche Straßennamen zu vergleichen. Dann wollte ich wiederum wissen, wer Martin Opitz war, und schaute in der Enzyklopädie nach. So sah eben mein Bildungsweg aus.«
Das wäre also eine Antwort. Hinzu kam Marek Krajewskis späterer Beruf – der eines Altphilologen, der Genauigkeit und Liebe zum Detail erfordert. Diese Eigenschaften, die er in den Jahren der Universitätsarbeit kultivierte, kamen ihm als Krimiautor natürlich auch zugute: Um seine Mordfälle glaubwürdig erscheinen zu lassen, las er Bücher über die Geschichte der Kriminalistik, ließ sich von einem befreundeten Polizisten über Beweisführungsmethoden informieren, besuchte mehrmals das Berliner »Museum für Polizeigeschichte«.
Außerdem hatte er als Breslauer Zugang zu einem besonderen Ort: dem sogenannten Schlesisch-Lausitzer-Kabinett. Es ist eine Abteilung der Breslauer Universität, genaugenommen der dortigen Bibliothek, und damit eine unerschöpfliche Informationsquelle. Das fängt schon mit den Adressbüchern an, in denen das alte Breslau Straße für Straße, Haus für Haus beschrieben ist. Als er zum Beispiel unter dem Namen seiner eigenen Straße nachschaute, stellte sich heraus, dass in der bescheidenen Einzimmerwohnung mit Küche, die er mit seinen Eltern bewohnte, vor dem Krieg ein Schlosser namens Karl Meißner gelebt hatte.
Er benutzte also alte Adressbücher, Stadtpläne und nicht zuletzt Zeitungen – eine unerschöpfliche Informationsquelle über die Realien jener Zeit. Woher hätte er sonst ein Gesprächsthema für einen deutschen Kutscher und seinen Fahrgast genommen, wenn nicht aus einem Artikel der Breslauer Neuesten Nachrichten? Oder die Information, welche Zigarettenmarke Eberhard Mock rauchen soll, ohne die dortigen Reklamen durchzusehen? So ging er beim Schreiben seiner Krimis die ganze Zeit vor.
Und es gab schließlich noch einen Ort, der ihn besonders inspirierte: Es war der Sitz des Breslauer Instituts für klassische Philologie, sprich: seine ehemalige Arbeitsstätte. Dieses Gebäude an der Szewska-Straße, in dem er fünfzehn Jahre lang gearbeitet hatte, war seinerzeit Sitz des Breslauer Polizeipräsidiums. Ein ausgesprochener Glücksfall für einen Krimiautor, denn das Haus liegt zwar zentral, doch von innen werden es nur wenige Breslauer kennen. Er aber ging hier tagtäglich ein und aus und machte sich auch dazu seine Gedanken. Denn wer weiß, vielleicht hatte genau in dem Zimmer, in dem er seine Studenten unterrichtete, irgendein Kriminalrat gesessen, der seinem Protagonisten ähnlich war? Oder vielleicht schwebte in diesem alten Gebäude etwas in der Luft, was ihm befohlen hatte, Kriminalromane zu schreiben?
Wir sehen also: Es gab offenbar einiges, was Marek Krajewski zu einem Kenner des alten Breslau und zu einem Krimiautor gemacht hat. Das bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass man als Letzterer einen solchen Erfolg haben muss. Gibt es in seiner Vergangenheit – oder womöglich in seiner Natur – noch etwas, was ihn dazu prädestinierte? Vielleicht die Tatsache, dass er von Kind an alles Geheimnisvolle liebte? Dass er eine Schwäche für Romane und Filme hatte, die etwas Rätselhaftes, Unheimliches, Horrorartiges an sich hatten? Und dass er schon als Zehnjähriger die Bücher von Raymond Chandler verschlang und seine Welt – diese besondere Welt Kaliforniens, die scheinbar bunt und idyllisch und in Wirklichkeit tief verdorben ist – faszinierend fand? Er gibt jedenfalls zu, dass sein Eberhard Mock verschiedenen Figuren aus Literatur und Film nachempfunden ist. Und in der Tat: Manchmal ist sein Mock zynisch – darin ähnelt er Philip Marlowe aus den Krimis von Chandler. Manchmal ist er brutal wie die Polizisten aus den schwarzen Krimis des französischen Film noir ist, etwa aus Jean-Pierre Melvilles Der eiskalte Engel. Marek Krajewski liebt diese Filme: Die menschenleeren Straßen von Paris, durch die sich eine einsame Männergestalt in Trenchcoat und einem tief in die Stirn geschobenen Hut stiehlt. Schweigsam, mit einem eigenen Ehrenkodex, allein gegen das Böse kämpfend.
Eberhard Mock soll aber auch einige Charakterzüge von ihm selbst haben. Und das sind nach seinen eigenen Worten vor allem Pünktlichkeit, Pedanterie und eine Schwäche für das Bridgespielen. Außerdem schwärmen sie beide für lateinische Maximen, nur dass Mock ein Altphilologe aus Leidenschaft ist, während Marek Krajewski als solcher tatsächlich, wie gesagt, gearbeitet hat.
Zumindest solange es der Schriftstellerberuf erlaubte. Denn dieser nahm ihn bald ganz in Anspruch, was sich in Form der in kurzen Zeitabständen erscheinenden weiteren Bände der Breslau-Reihe bemerkbar machte: Im Jahre 2005 legte er Gespenster in Breslau (dt. 2007) vor, den dritten Teil des Zyklus, der 1919 spielte und von einem grausamen Mord an vier Matrosen handelte. Eberhard Mock hatte hier zwar erst den Rang eines Kriminalassistenten, ansonsten aber war er genauso exzentrisch und gerissen wie in den früheren Büchern. Allerdings machte ihn Marek Krajewski schon ein Jahr später – im vierten Teil mit dem Titel Festung Breslau (dt. 2008), der 1945 spielte – zu einem gebrochenen Mann, der mit einer alten Kriegsverletzung kämpft und in den Ruinen der Stadt einsam seinen letzten Fall ermittelt. Und der fünfte Teil der Reihe, Pest in Breslau (2007, dt. 2009), spielte im Jahre 1923, und in der Stadt trieb der sogenannte »Geheimbund der Misanthropen« sein Unwesen – eine Brüderschaft, die sich aus lauter Sadisten, Perversen und Mördern zusammensetzte.
Der sechste und letzte Teil schließlich, der auf Deutsch Finsternis in Breslau (2009, dt. 2012) heißt, war eine doppelte Überraschung. Auf den ersten Blick schien alles wieder so zu sein, wie man es aus den früheren Bänden kannte, doch dieser Eindruck täuschte. Der Auftakt der Handlung: Am ersten Tag des Jahres 1937 wird in einem kleinen, schäbigen Hotel die Leiche einer jungen Frau entdeckt. Sie ist so verstümmelt, dass es selbst einem so routinierten Ermittler wie Eberhard Mock die Sprache verschlägt. Einiges deutet darauf hin, dass sie eine Ausländerin war, zumal sie, wie man bald weiß, mit dem Zug aus Lemberg gekommen ist. War sie womöglich eine Spionin? Hat der Mord politische Hintergründe? Das soll Eberhard Mock möglichst schnell herausfinden, und dazu reist er nach Polen.
Diesmal hatte also der deutsche Titel die übliche Signalwirkung, doch nur teilweise seine Berechtigung, weil die Handlung in erster Linie in Lemberg spielt. Finster geht es in dem Buch aber in der Tat zu. In Breslau wimmelt es wie immer von zweifelhaften Gestalten, die für eine düstere Atmosphäre sorgen. Und auch Lemberg, dessen vielbeschworenen Vorkriegscharme Marek Krajewski mit der üblichen Präzision wiedergibt, erscheint zuweilen in sehr dunklen Farben. Mock hat also allen Grund, sich dort sofort heimisch zu fühlen, zumal sein polnischer Kollege, Kommissar Edward Popielski, perfekt Deutsch spricht und ihm in vielen Dingen ähnlich ist.
So sind es diesmal nicht nur zwei Kollegen, sondern bald auch zwei beste Freunde, die den Mörder jagen. Dass diese Jagd an einen griechischen Mythos erinnert, kann man schon am polnischen Originaltitel erkennen: Das Haupt des Minotaurus. Es bleibt nur, wie es scheint, die Frage, wer zum Schluss als sein Bezwinger Theseus fungieren wird. Als allerdings eine neue Figur – ein Aristokrat, Mathematikgenie und Sadist in einem – den Plan betritt, beginnt man zu ahnen, dass Marek Krajewski ein viel einfallsreicher Mytheninterpret ist als auf den ersten Blick angenommen.
Und der Mythos Breslau? Was macht er eigentlich in seinen Krimis mit dem? Gibt er ihm neue Nahrung? Zerstört er ihn, indem er die Stadt oft von seiner hässlichsten Seite zeigt? Marek Krajewski macht sich offenbar auch darüber Gedanken, denn auf die entsprechende Frage hat er sofort eine Antwort parat:
»Breslau war gar nicht so schrecklich, wie ich es schildere. Im Gegenteil, es war eine wunderbare Stadt, geradezu genial geplant, jedenfalls für die damaligen Verhältnisse. Voller wunderschöner Mietshäuser. Hell, sonnig, reich. Eine richtige Kaufmannsstadt. Sie war wirklich herrlich. Warum ich sie also dermaßen deformiere? Weil ich Krimis schreibe, keine Liebesromane.«
Und außerdem: Man soll wohl all die schrecklichen Dinge, die in seinen Büchern passieren, nicht ganz ernst nehmen. Oder besser: sie als unverzichtbaren Teil seiner schriftstellerischen Werkstatt betrachten. Das denkt man jedenfalls, wenn man hört, mit welchem Genuss Marek Krajewski seinen amerikanisch-französischen Kollegen Jonathan Littell zitiert, der auf die Bemerkung eines Journalisten, in seinem Roman Die Wohlgesinnten würde es so viele grausame Stellen geben, antwortete: »Wenn ich einen makabren Passus schreibe, denke ich nicht an die Leichen. Ich denke an die Kommas.«
Die polnischen Rezensenten zeigten sich jedenfalls von seinem Hang zum Makabren und Grausamen ziemlich unbeeindruckt, als sie gleich zu Beginn für seine Bücher den Begriff »Retro-Krimis« erfanden. Diese Bezeichnung sollte, wie ich vermute, als zweifaches Zeichen der Anerkennung gelten – für den glücklichen Einfall, das alte Breslau wiederzubeleben, und für den gelungenen Versuch, dem polnischen Kriminalroman, der eine recht kurze Tradition hat, eine neue, originelle Note zu geben: Ein Urteil, dem ich mich natürlich voll anschließe und das man im Ausland zu teilen scheint. Auch in Deutschland – wie nicht zuletzt die heutige Auszeichnung mit dem Georg-Dehio-Preis beweist, zu der ich Ihnen,
lieber Marek Krajewski,
ganz herzlich gratuliere.