gehalten am 23. September 2010 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
»Du merkst nicht, wenn du anfängst, Viadrinisch zu sprechen«, teilen seine jungen Gewährsleute dem Herrn Reporter mit. Prosaisch ausgedrückt, handelt es sich beim Viadrinischen um einen deutsch-polnischen Kauderwelsch von jungen Juristinnen und Juristen, die in Frankfurt (Oder) deutsches und polnisches oder gleich auch europäisches Recht in deutscher Sprache studieren, schritt po schrittche, unter Berücksichtigung verschiedener juristischer mainungi, falls die Sache sztrajtyś ist usw. Aber, so erfahren wir bei Włodzimierz Nowak, es gibt viele neue Sprachen dort in den west-östlichen Grenzgebieten: das Guben-Gubinische zum Beispiel, oder das Schlesisch-Opelanische. Und dann natürlich, sehr wichtig, das Rotwelsch der Schmuggler und Schlepper, die »die Ware über den Fluss werfen«, wenn die »Zolls« und die »Wops« gerade nicht aufpassen, eine Ladung Zigaretten oder eine Ladung »Schwarze«, also Afghanen, Tamilen, was so kommt.
Wann entstehen solche neuen Sprachen? Dann, wenn sich neue Lebenswelten derart rasch und brachial in- und übereinander schieben, dass die Sprache nicht nachkommt, improvisieren oder lautmalerisch arbeiten muss. Und die Schnitt- oder die Bruchkante, an der diese Lebenswelten sich in- und übereinander schieben, ist bei Nowak fast immer der Fluss, der hier Oder und dort Odra heißt. Freilich, es sind Momentaufnahmen, die keinerlei Gewähr bieten, dass es heute im Jahr 2010 noch so ist wie, sagen wir, 1998, 2002 oder 2006, als Nowak diese Reportagen geschrieben hat. Hier am Fluss ist alles im Fluss. Aber genau das ist es ja auch, was diese Reportagen vermitteln.
Włodzimierz Nowak hat sich in diesen Fluss der Entwicklungen über weite Strecken hinweg selbst mit Haut und Haaren hineinbegeben. Jene Fernen, die der Altmeister dieses Genres, Ryszard Kapuściński, in anderen Kontinenten oder in den Tiefen des »Imperiums«, der einstigen Sowjetunion, durchschweift hat, hat Nowak ganz in der Nähe gefunden. Das war, wenn ich es als Außenstehender richtig beurteile, Teil einer groß angelegte Suchbewegung, mit der nach dem Umbruch des Jahres 1989 eine ganze Plejade jüngerer Autorinnen und Autoren sich in Polen daran gemacht hat, mit den Mitteln der literarischen Reportage das eigene Land mitsamt seinen alten und neuen Grenz- und Übergangszonen zu erkunden.
Diese große Suchbewegung hatte, so vermute ich, nicht nur mit der ironischen Tatsache zu tun, dass gerade der »reale Sozialismus«, der sich auf seine angebliche Wissenschaftlichkeit so viel zugutehielt, es durch Propaganda, Zensur, Sprachregelungen und schlichten Konformismus fast unmöglich machte, ein klares Bild der eigenen Gesellschaft zu gewinnen. In dieser rastlosen Suchbewegung, so vermute ich weiter, werden sich auch aufgestaute Bedürfnisse einer historischen Selbstvergewisserung ausgedrückt haben, die immer noch mit der gewaltsamen Verschiebung auf der Landkarte zu tun hatten, im Ergebnis eines katastrophischen Kriegs, in dem Polen zeitweise vollständig von allen Landkarten getilgt schien und zum Klärbecken eines monströsen völkischen Aussonderungs- und Neuzüchtungs-Experiments geworden war. Deshalb also diese enorme Welle von Reportagen aus dem eigenen Land, mit Nowaks Zeitung, der von der früheren Opposition 1989 gegründeten Gazeta Wyborcza, als ihrem publizistischen Hauptzentrum. 2006 hat Martin Pollack uns deutsche Leser in einer ersten Anthologie Von Minsk nach Manhattan mit einigen dieser spannenden Arbeiten bekannt gemacht, die, wie er schrieb, »die Probe der Zeit bestanden« haben. Und er hat die neidvolle Frage gestellt, warum die Polen ein so bedeutendes Genre einer welthaltigen Literatur zur Verfügung haben, von der wir mit einer scheinbar viel reicheren publizistischen Landschaft nur träumen können.
Jetzt also hat uns Eichborn Berlin mit den Reportagen von Włodzimierz Nowak bekannt gemacht. Genauer gesagt, handelt es sich um »Zwölf deutsch-polnische Schicksale«. Es sind Biographien, die wie Falltüren in historische Abgründe hinunter führen – oder in ungewisse Zukünfte hinaus, ins Offene oder auch ins Leere.
Die titelgebende nacht von wildenhagen etwa führt uns zu einem Phänomen, das in der so weitgefächerten Historiographie über das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg bisher kaum zur Kenntnis genommen worden ist, obwohl es in zahllosen Zeitzeugnissen erwähnt wird und fast epidemischen Charakter trug: die kollektiven Selbstmorde von ganzen Familien oder zurückgebliebenen Frauen mit Kindern beim Herannahen der Roten Armee. Es bedurfte offenbar des fremden, befremdeten und dennoch einfühlenden Blicks eines polnischen Reporters, eben Włodzimierz Nowaks, der dabei seinerseits auf die Spur gebracht wurde von Angelika Kużniak, die an der Viadrina studierte, um diese allseits beschwiegene Geschichte eines solchen Massensuizids zu rekonstruieren.
Die da als Überlebende aus kindlicher Perspektive sprechen, sind heute alte Menschen, die ihre Geschichte nie haben erzählen können, weil sie in kein geläufiges Bild der Ereignisse hineinpasste. Und Nowak gibt uns eine Ahnung davon, wie viele solcher aus allen vorgefertigten Rahmungen hinausfallenden Schicksale und Lebenslinien es gab und gibt – und dort, im Grenzgebiet, in besonderer Häufung.
Da sind die beiden Töchter des geköpften polnischen Widerstandskämpfers, die – während ihre Mutter in Ravensbrück saß – als geraubte polnische Kinder mithilfe des von der SS betriebenen »Lebensborn« kinderlosen deutschen Paaren übergeben wurden, bei denen es ihnen freilich recht gut ging, so dass sie mit ihren falschen Namen und ihrer Gewöhnung an die deutsche Sprache und Umgebung fast schon zu Anderen wurden, bevor ein Suchdienst sie 1947 aufspürte und zurückbrachte; mit der tröstlichen Pointe (in diesem einen Falle) dass es sogar zu einer richtigen, späten Freundschaft zwischen »Mutti« und »Mami« kam.
Aber da ist auch die tragische Gegengeschichte von der illegitimen Enkelin eines deutschen Gutsbesitzers, die in den Wirren der Kriegs- und Nachkriegszeit in die Hände eines liebevollen polnischen Paares geriet, ohne Ahnung über ihre Herkunft, bis Kinder aus dem Dorf sie als »Findling« und »blöde Deutsche« hänselten, eine Tante sich verplapperte, sie anfing nachzubohren und – schon als reife rothaarige, auf sich gestellte Kranführerin Irka – ruhelose Nachforschungen anstellte. Zuerst stieß sie auf einige Tanten, bis sie endlich (begleitet von Nowak) ihre Mutter als völlig verarmte Witwe in einer winzigen Hütte in einem serbischen Dorf fand. Und erst als sie, die Mittfünfzigerin, ihre fast achtzigjährige Mutter umarmte und sie sich in Serbisch und Polnisch stockend unterhielten, hatte sie das Gefühl, endlich »zu wissen, wer sie ist«.
»Mutterherz, Tochterherz« nennt Włodzimierz Nowak diese Erzählung, und vielleicht klingt das alles arg gefühlig und allzu harmonisch. Nichts weniger als das: Nowaks Duktus ist eher lakonisch, aber er lässt seinen handelnden Personen ihre (mal kitschige, mal expressive) Sprache und ihre (fast immer gemischten, manchmal paradoxen) Gefühle und Selbstbeschreibungen, mittels derer sie sich ihre zersplitterten Biographien und die Ungeheuerlichkeiten einer über sie hinweggegangenen Geschichte fassbar und erträglich zu machen versuchen.
Die Mehrzahl von Włodzimierz Nowaks Reportagen spielen freilich ganz in der Gegenwart – nur, was heißt schon Gegenwart, wenn sich der Boden unter den Füßen bewegt und alle irgendwie mitrennen müssen, um nicht auf der Strecke zu bleiben. Einige, sehr viele sind da schon gestrauchelt oder gefallen, allerdings mit erstaunlichen Nehmer- oder Steher-Qualitäten, wie man beim Boxen oder im Radsport sagt. Es ist nicht nur die Namensaffinität, wenn meine besondere Anteilnahme dem in Polen als obdachlosem Faktotum gestrandeten, ehemaligen deutschen Kleinunternehmer Gerhard Z. gilt, der sich nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 ganz in die Hilfsaktionen für Polen gestürzt und darüber seine Firma und seine Familie verloren hat – nicht zuletzt wegen der schönen Wanda, der Oberschwester einer Warschauer Klinik, für die er medizinisches Gerät und Medikamente herangeschafft, die er geheiratet, mit der er ein großes Haus gebaut hat, bis herauskommt, dass alle Besitzurkunden auf sie eingetragen sind und dass da schon ein anderer Mann ist; weshalb sich der eben noch so großspurige Gerhard Z. in so vergebliche wie ruinöse Prozesse gegen seine Ex verstrickt, die ihn völlig »ausgenommen« habe – aber das ist natürlich nur seine Version, sie hat eine ganz andere. Und so findet Nowak seinen trübseligen Helden dann als jenes abgerissene, grauhaarige Faktotum in Trainingshosen, das sich als Aushilfe bei den Bauern durchschlägt, aber vor allem (so sieht es aus) bei Frau Ewa gelandet ist, die ihn zärtlich-spöttisch »Gerdi« nennt, dort an der »Süßen Ecke«, wo die Drawa in die Noteć fließt und vor dem Krieg die deutsche und die polnische Seite sich gegenüberlagen. Und schon macht »Gerdi« Pläne, vielleicht das Hotel, das hier früher mal lag, wieder aufzubauen für die »Heimattouristen« aus Deutschland – aber vorher muss er noch den Prozess gegen seine »Alte« gewinnen, die falsche Wanda. So ganz im Ungefähren verlässt Nowak diesen Ritter von der traurigen Gestalt.
Das also und vieles mehr ist Nowaks Welt, in der alles im Fluss ist und alle sich abstrampeln, manche untergehen, viele sich durchschlagen und einige mit Elan in die Welt hinaus streben. Wo gestern noch das Bonanza der Grenzmärkte war, ist heute gähnende Brache. Aber man geht hinüber und herüber, schaut sich um, sucht Möglichkeiten. Unter einigen Spannungen und Reibungen wachsen Guben und Gubin vielleicht doch zur »Europastadt« zusammen, die sie auf dem Papier schon sind. Es gibt sie durchaus, die stillen Helden dieses Projekts, auf beiden Seiten. Aber das ist alles viel weniger pompös, viel alltäglicher als zu den Zeiten, da an den hohen Festtagen die Stacheldrahtverhaue auf der »Brücke der Freundschaft« kurz beiseite geräumt und die Proletarier der einen und der andern Seite in Delegationen aufmarschierten, um der Freundschaftszeremonie ihrer Parteisekretäre und Bürgermeister zu applaudieren – bevor die Drahtverhaue wieder zugingen.
Jetzt bosseln sie in den Rathäusern wie den Vereinen an den ellenlangen Anträgen an die jeweiligen EU-Töpfe für mal gemeinsame, mal auch nur parallele Projekte. Das Guben-Gubinische ist nicht zuletzt eine deutsch-polnische Kunstsprache im Brüsseler Antragsslang. Nichts ist großartig, aber manches ermutigend. In Nowaks Welt wird niemand geschont und nichts geschönt. An die Stelle von Moralpredigt und Verständigungsrhetorik tritt der unbeirrbare und unvoreingenommen beobachtende Blick auf das Leben und Streben der Leute selbst, nicht ohne einige Prisen milder Ironie. Die polnischen und jetzt endlich auch die deutschen Leser bekommen ein durchaus gemischtes und tendenzloses Porträt ihrer jeweiligen Seite und ihrer Landsleute. Genau das ist, worauf es heute ankommt, da die großen Fragen erledigt, die Geister der Vergangenheit aber nicht schon allesamt gebannt sind, und da alles von einem praktischen, konstruktiven Zusammenwirken abhängt. Deshalb war die Verleihung des Ehrenpreises an Włodzimierz Nowak eine so gelungene Entscheidung, und deshalb habe ich mich der Aufgabe dieser Laudatio sehr gerne gestellt.
Sie gilt im Übrigen ja auch noch einer zweiten Person. Denn dass wir deutschen Leser all dieses Viadrinische, Guben-Gubinische, Schlesisch-Opelanische, überhaupt: die vielen, symphonischen Stimmen dieses Buches so unverstellt hören können und dass wir die Art, wie der Autor selbst seine Figuren zum Erzählen gebracht und seine zwölf Geschichten arrangiert und wiedergegeben hat, mit solch großem Lesegenuss würdigen können, das verdankt sich nicht zuletzt der Übersetzungsleistung von Joanna Manc. Die Tatsache, dass sie – in Gdynia/Gdingen geboren und im Zuge der großen Emigration von 1968 als junges Mädchen nach Deutschland gekommen – selbst zu jenen Grenzgängerinnen gehört, von denen Włodzimierz Nowaks Buch handelt, ja eigentlich sehr gut eine seiner Figuren sein könnte, wird sicherlich ebenso dazu beigetragen haben wie dass Joanna Manc sich bei ihrer täglichen Arbeit in einem weiten Feld zwischen Poesie (die sie gelegentlich auch selbst schreibt), Belletristik, Essayistik, Reportage und der prosaischen Sprache amtlicher Dokumente bewegt. Das alles kommt hier in lebendiger Weise zusammen und ist sehr zu Recht Teil dieser Preisverleihung. Denn ohne unsere guten Übersetzer wären wir alle, lieber Herr Nowak, in jeder fremden Sprache »niemcy« – Stumme.