gehalten am 23. September 2010 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin
Glaubt man György Konrád (und wir haben keinen Grund, ihm nicht zu glauben), dann zeichnet sich der Mitteleuropäer durch eine besondere ästhetische Empfänglichkeit für Komplikationen aus. Anders gesagt, das existenzielle Dasein dazwischen, in der Zone permanenter gesellschaftlich-historischer Nichtrealisierung, weckte eine besondere Sensibilität, sogar bei geographischen Namen. Mitteleuropa ist eine Weltgegend, in der Geographie unmerklich in Poetik übergeht. Daraus ist die Geopoetik entstanden.
Meine eigenen Sensoren reagierten vor fünfzehn Jahren auf den Titel nach galizien – und auf die im Untertitel erwähnten Chassiden, Huzulen, Ruthenen und Polen. Noch hielt ich das Buch nicht in der Hand, da erreichten mich von überallher Signale seiner, verzeihen Sie das nicht-mitteleuropäische Wort, Message. Noch hielt ich es nicht in der Hand, hatte aber schon Lust, mit seinem Verfasser zu diskutieren. Ihm zum Beispiel darzulegen, dass eben diese Huzulen und Ruthenen als Komponente nicht auf dieselbe Ebene gehören, weil alle Huzulen auch Ruthenen sind, in heutiger Sprache also Ukrainer. Oder, sagen wir, ihn ausführlich darüber zu befragen, was er sich dabei gedacht hatte, als er im Titel die Präposition »nach« verwendete – die Richtung einer Bewegung oder die Feststellung des Todes. Galizien als Atlantis? Ein verlorener Kontinent? Hatte der Verfasser eben das gemeint, würde ich ihn vom Gegenteil überzeugen. So oder so war ich ihm zutiefst dankbar allein dafür, dass er, ein Mensch des Westens, über unsere Chassiden, Huzulen, Ruthenen und Polen schrieb.
Was das angeht, irrte ich mich allerdings – er ist kein Mensch des Westens, wie er auch keiner des Ostens ist. Martin Pollack ist Mitteleuropäer. Und wie wir schon festgestellt haben, heißt das, dass er über eine besondere ästhetische Sensibilität verfügt.
Beim erneuten Lesen von der tote im bunker werde ich den Eindruck nicht los, gemeinsam mit dem Autor Nachforschungen anzustellen. Im Ukrainischen steckt in diesem Wort die Wurzel »Spur«. »Auf-spüren« kann man verstehen als Erneuerung der verwischten und angeblich verschwundenen Spuren, sie zu lesen, an ihnen zu arbeiten, sie zu bewältigen. Ich könnte es auch Restaurierungsarbeiten zur Erneuerung des historischen Gedächtnisses nennen.
Was aber wissen wir vom historischen Gedächtnis, und wie verstehen wir es?
In der heutigen Ukraine manifestiert sich der Regimewechsel, neben anderen unguten Neuigkeiten, in der Einweihung neuer Stalin-Denkmäler. Ja, Sie haben richtig gehört. Das ist keine künstlerische Metapher. Es ist Realität: neue, frisch hergestellte Denkmäler für einen der größten Massenmörder in der Geschichte der Menschheit. Und wissen Sie, wie die Initiatoren diesen Kataklysmus nennen? Sie nennen es Erneuerung des historischen Gedächtnisses und der Gerechtigkeit und sprechen davon, den Generalissimus anlässlich des 65. Jahrestags des Großen Siegs breit und im ganzen Volk zu ehren.
Das ist nicht nur bitter, sondern tragisch. Es scheint, als hätte es nicht nur die letzten fünf Jahre der »chaotischen Freiheit« unter dem letzten Präsidenten nicht gegeben. Auch die neunzehn Jahre unserer Staatlichkeit gab es nicht, nicht einmal Gorbatschow mit seiner Perestroika und der damaligen schrittweisen Aufdeckung der Stalinschen Verbrechen. Wo befinden wir uns heute? In den 1970er Jahren, zu Zeiten Generalsekretär Breschnews, inmitten der damaligen UdSSR? Aber selbst Breschnew hat keine Stalin-Denkmäler gebaut – bei all seiner Ehrfurcht vor dem Generalissimus-Kanibalissimus. Wie konnte das in der Ukraine möglich werden? Woher kommt plötzlich dieser anachronistische Präsident mit seiner bandokratischen Regierung und Umgebung? Wie hat er das geschafft – nach einem so ungewissen Sieg, fast schon einem Pyrrhussieg bei wieder einmal nicht ganz ehrlichen Wahlen, in wenigen Wochen im ganzen, noch immer geschockten Land die absolute Macht zu ergreifen? Woher kommt dieser Neostalinismus?
Ich habe meine eigene Erklärung, warum es so gekommen ist: Bei uns wird zu wenig Martin Pollack gelesen. Wir kennen seine Werke nicht. Und dagegen muss natürlich unbedingt etwas unternommen werden.
Eine vollwertige und rücksichtslose Arbeit an der Vergangenheit hat bei