Die kulturelle Vielfalt und Geschichte der deutschen Minderheiten im östlichen Europa ist ein Schatz, der auch junge Menschen inspiriert und verbindet. Unter dem Schlagwort #eastplorers will das Deutsche Kulturforum östliches Europa junge Erwachsene, Jugendliche und auch Kinder mit spannenden Projekten für das kulturelle Erbe begeistern und auf diese Weise eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft schlagen. Beispielsweise durch einen Podcast-Workshop, eine Architektur-Exkursion oder eine Nachwuchstagung. Ariane Afsari, Martin Pabst und Renate Zöller gewähren einen Blick hinter die Kulissen von drei der vielen Projekte.
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Beim Schul-Workshop in Guben/Gubin 2013 sprachen die beteiligten Schülerinnen und Schüler auf der polnischen und deutschen Seite der Stadt mit über einem Dutzend Einwohnerinnen und Einwohnern, fertigten Plakate mit dem jeweiligen Portrait und ausgewählten Informationen zur Person an und hängten sie in der jeweils anderen Stadthälfte auf, um die Menschen in Guben und Gubin aufeinander aufmerksam zu machen. © Ariane Afsari

Die Köpfe haben sie eng zusammengesteckt, trotzdem dominiert Stimmengewirr den Raum. Im neutral-nüchternen großen Seminarraum III der Begegnungsstätte Heiligenhof in Bad Kissingen sitzen 23 Studierende aus Kroatien, Tschechien, Polen, der Ukraine und Belarus zusammen, um über ein Gefühl nachzudenken, das niemals neutral sein kann: Heimat. Sie sind Teilnehmer der 18. Mitteleuropäischen Nachwuchsgermanistentagung, die der Heiligenhof alljährlich in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa durchführt.

Im Losverfahren wurden die jungen Menschen in kleine Gruppen aufgeteilt, dabei wurde darauf geachtet, dass die Gesprächspartnerinnen und -partner aus unterschiedlichen Ländern stammen und sich so voraussichtlich noch nicht kennen. Wie beim Speed-Dating versuchen sie nun, ihr Gegenüber möglichst schnell kennenzulernen und zu erfassen, welche Emotion das Thema »Heimat« bei diesem auslöst. Ihr Ziel? Unter Anleitung von Vera Schneider und Renate Zöller vom Deutschen Kulturforum östliches Europa am nächsten Tag mit Aufnahmegerät, Mikrofon und Kopfhörer selbst eine Podcastfolge der Reihe Von Asch bis Zips zu gestalten – ein akustisches Heimaten-Mosaik.

Bei der Gruppenarbeit am nächsten Tag wird schnell deutlich: Heimat ist für die jungen Menschen kein einfacher Begriff. Schon bei dem Versuch, eine Definition zu finden, zeigt sich die Vielfalt der Ansichten. Alen, aus Kroatien und 24 Jahre alt, sagt: »Heimat ist etwas Utopisches, also etwas, wo alles perfekt ist.« Ein Ideal, das in der Realität kaum existiert, ergänzt er. Lukáš, der seit seiner Geburt in einem kleinen Dorf bei Pardubitz/Pardubice lebt und die halbe Stunde zur Universität in Königgrätz/Hradec Králové pendelt, hat dieses Ideal gefunden. Er ist froh, dass er Tschechien nicht verlassen muss, denn er kann sich nur schwer vorstellen, mehrere Heimaten zu haben. Seine Heimat ist Lukas sozusagen in die Wiege gelegt worden. Roksana, 22, aus Jauer/Jawor in Niederschlesien, hat dagegen eine diametral andere Perspektive: »Für mich ist Heimat der Ort, den ich selbst gewählt habe.« Sie betont, dass sie ihre Großeltern sehr liebt, bei denen sie aufgewachsen ist. Doch das Dorfleben sei ihr zu klein. Heimat ist für sie nicht nur ein geografischer Ort, sondern vor allem eine Entscheidung.

Für Kristina, die aus Belarus nach Polen ausgewandert ist, ist Heimat ein schwieriges Thema: »Eigentlich habe ich keine. Ich werde in Belarus als Ausländerin gesehen. Und in Polen auch.« Und doch trage sie durch die Menschen, die ihr wichtig seien, immer ein Gefühl der Sicherheit mit sich. »Heimat bedeutet für mich die Menschen, die für mich wertvoll sind. Deshalb habe ich sie eigentlich nie verlassen – sie bleibt immer bei mir in Form der Menschen und Gefühle.« Sie habe wunderbare Erinnerungen an ihre Kindheit: die Sommer bei den Großeltern, Sonnenblumenfelder, den Geruch von frisch gebackenem Brot. Trotzdem plant sie nicht, nach Belarus zurückzukehren. Erstmal will sie sich auf ihr Studium konzentrieren und dann schauen, wo das Leben sie hinspült.

Das ist vielleicht eine Quintessenz, die viele hier teilen: Sie haben für das Studium ihren Geburtsort verlassen und leben in den Universitätsstädten. Auch wenn sie ihr Land nicht verlassen mussten, sind sie gerade dabei, sich einen neuen Freundeskreis, ein neues Leben, ein neues Zuhause aufzubauen. Heimat ist dabei für sie ein Ankerpunkt. Julia Grzescek, 21, aus dem pommerschen Swinemünde/Świnoujście beispielsweise lebt mittlerweile in Breslau/Wrocław. »Zuhause bei meinen Eltern ist Heimat, dort bin ich immer willkommen«, sagt sie. »Ich fühle mich dort sicher und frei.« 

Und mit solch einem Gefühl kann man sich entspannt neuen Perspektiven zuwenden. Marija aus der Ukraine ist vor dem russischen Angriffskrieg nach Polen geflohen: »Ich habe 17 Jahre in meiner Heimat verbracht. Viele schöne Kindheitserinnerungen verbinden mich mit ihr, besonders die Feiertage und Bräuche. Aber jetzt? Ich plane nicht, zurückzukehren. In der Ukraine ist es zu unsicher.« Das klingt nicht deprimiert. Sie sieht sich als interkulturellen Menschen, der durch den Krieg gezwungen wurde, neue Möglichkeiten zu suchen – und diese voller Zuversicht ergriffen hat.

Als der Workshop endet, sind nicht nur die Podcast-Interviews aufgenommen, sondern auch neue Verbindungen entstanden. Im abschließenden Gespräch reflektieren die Studierenden gemeinsam darüber, dass die Überlegungen über die Heimat der anderen sie einander nähergebracht haben. »Früher hätte ich einfach gesagt, Zagreb ist mein Zuhause«, sagt die 27-jährige Dorothea, die in der kroatischen Hauptstadt geboren wurde und jetzt studiert. »Aber in den vergangenen Tagen habe ich mehr darüber nachgedacht und festgestellt, dass es doch komplizierter ist.« Heimat sei viel größer als nur ihr Zuhause und ihre Familie. Die Menschen, die Traditionen, der Dialekt der Stadt … »Ich habe jetzt das Gefühl, dass Heimat etwas ist, das sich ständig verändert.«

Zufrieden packen Vera Schneider und Renate Zöller die Aufnahmegeräte wieder zusammen. Ziel erreicht. Es ist nicht einfach nur eine Podcastfolge bei diesem Workshop entstanden. Er hat auch die Vielfalt von Heimat greifbar gemacht und gezeigt, dass das Nachdenken darüber einander näherbringt. Und dieses Erlebnis hallt hoffentlich nach – in den Köpfen und Herzen der jungen Menschen.

»Wie eine Rakete gestartet!«

So fasste einer der Mitveranstalter, Kaspar Renner von der Universität Potsdam, die erste Interdisziplinäre deutsch-baltische Nachwuchstagung im Oktober 2023 zusammen. Dass dieser Start derart glatt und erfolgreich verlaufen sollte, damit hatten die beiden Mitorganisatoren Reet Bender, Dozentin an der Universität Dorpat/Tartu, und Martin Pabst, beim Kulturforum zuständig für die baltischen Länder, nicht unbedingt gerechnet, als sie nur zehn Monate zuvor bei einem Kaffee beschlossen, dieses Experiment zu wagen. 

Nicht, dass es keine Tagungen und Konferenzen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gäbe, die die baltischen Länder erforschen. Aber eben noch keine, die einerseits die Grenzen der verschiedenen akademischen Fächer, aber auch von Staaten überschreitet, deren Bühne andererseits aber ausschließlich dem »akademischen Nachwuchs« gehören soll. Und drittens inhaltlich den deutschen Anteil an Kultur und Geschichte der Länder zwischen Memel und finnischem Meerbusen thematisiert.
Als die »Rakete« in Dorpat startete, stand Estlands alte Universitätsstadt schon ganz im Zeichen des bevorstehenden Kulturhauptstadtjahrs 2024. So kamen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fast schon wie in einem kleinen gallischen Dorf vor, das sich vom ganzen #TARTU2024-Trubel um sie herum unbeirrt in jahrhundertealte deutschsprachige Reiseberichte aus Wilna/Vilnius stürzte. Oder sie diskutierten die Frage, wie man das (deutsch-)baltische Studentenleben des 19. Jahrhunderts im heutigen Geschichtsunterricht thematisieren kann. Die Studentinnen und Studenten zeigten nicht nur in den eigenen Vorträgen fachliche Expertise und Begeisterung für die selbstgewählten Forschungsthemen. In den Pausen und beim abendlichen Get-together im nur von Kerzen erleuchteten Dorpater Stadtbürgermuseum wurde weiterdiskutiert, wurden Kontaktdaten getauscht, Tipps gegeben und empfangen – eben jenes Networking betrieben, was Konferenzen und Symposien so wertvoll macht. 

Die Rakete fliegt weiter: Im Oktober 2024 tagte man in Wilna unter der Überschrift »Vom Hansehandel bis zu Kochbüchern von heute«, im Herbst 2025 wird wieder die Universität Dorpat Gastgeberin sein. Wie immer wird es auch diesmal unter anderem um den deutschen Einfluss auf Geschichte und Kultur der baltischen Länder gehen. Die Vortragenden stehen in ihrer Laufbahn irgendwo zwischen hochmotiviert im Bachelor-Studium und »Dissertation gerade eingereicht«. 

Mit dem Zeichenblock dem Erbe auf der Spur

Ihr Lieblingsfoto von der Architektur-Exkursion nach Reichenberg/Liberec in Nordböhmen erinnert Ariane Afsari vom Kulturforum als Computer-Bildschirmhintergrund an schaffensreiche Tage: Darauf lagern 24 Studierende der Bauhaus-Universität Weimar mit ihrer Professorin Sabine Zierold auf dem langgestreckten Sockel und den Eingangstreppen der Galerie für schöne Künste und zeichnen. Im Blick haben sie das Nordböhmische Museum, dessen Dachstuhl alle noch vor ein paar Minuten bewundern durften. Beim Rundgang durch den riesigen Neorenaissancebau war die tschechische Museumsführerin so angetan von den unermüdlich und zügig hingeworfenen Skizzen, dass sie anbot, auch die Holzkonstruktion im Dach in Augenschein zu nehmen. Seit einigen Jahren besteht die gemeinsame Durchführung von Zeichenexkursionen ins östliche Europa zwischen dem Kulturforum und der Bauhaus-Universität Weimar. 

»Darstellen und Gestalten« ist ein wichtiger Kurs für Weimarer Erstsemester an der Fakultät Architektur und Urbanistik. Hier wird das Freihandzeichnen von Bauten in der Umgebung geübt. Diese Übung lässt sich wunderbar mit dem Kennenlernen einer neuen Stadt oder einer Region verbinden, mit Vorliebe in den mit der Bahn gut zu erreichenden Nachbarländern Polen und Tschechien. Das wurde bei einem Ausflug von Weimarer Studierenden und ihren Professoren zum einzigen Bau von Henry van de Velde in Polen deutlich. 

Am Vorabend zu van de Veldes 150. Geburtstag wollten sie ihre Wissenslücke zum berühmten Architekten und Designer schließen und wandten sich 2013 an das Kulturforum. Die Potsdamer Einrichtung hatte ein Buch zu der als Sanatorium geplanten und heute als Altersheim genutzten Anlage herausgebracht.
Als die Studierenden schließlich gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren des Bandes vor dem restaurierten Komplex im neumärkischen Trebschen/Trzebiechów standen, fotografierten zwar die meisten, einige holten aber auch ihre Skizzenblöcke heraus und zeichneten. Die Ergebnisse flossen in eine Ausstellung zu Ehren van de Veldes ein. Gezeigt wurde sie in Weimar, das nicht nur seine Universität dem vielseitigen Jugendstilkünstler verdankt.

Einen besonderen Eindruck hinterlassen bei den mehrtägigen Fahrten die Begegnungen mit den Menschen vor Ort. Sie können sich häufig dem Bild der in ihre Arbeit vertieften jungen Zeichnerinnen und Zeichner auf winzigen Klapphockern oder auf Bordsteinen sitzend nicht entziehen. Sie fragen nach, kommentieren die auf dem Papier entstehenden Entwürfe, nicken bewundernd oder neigen den Kopf auch etwas kritisch, sind aber immer begeistert. Die Studierenden sind es ebenfalls, denn auch wenn sie kein Polnisch oder Tschechisch verstehen: Hier reicht es, in die Gesichter ihres Publikums zu schauen. Das Besichtigungs- und Informationsprogramm ist dicht und die wichtigsten Zeichenobjekte in Brünn/Brno oder Posen/Poznań und Umgebung, bei den Schrotholzkirchen in Oberschlesien oder eben beim Nordböhmischen Museum in Reichenberg, stellen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer jeweils selbst vor. 

Ariane Afsari freut sich immer, wenn sie auch Treffen mit Studierenden in den besuchten Gegenden organisieren kann, wie das zuletzt in Brünn geklappt hat. 2025 geht es nach Aussig/Ústí nad Labem. Dort wurde Martin Krsek gebeten, den Studierenden bei einem Spaziergang die Stadt zu zeigen. Der Historiker und Publizist hat ein wunderbares Buch mit dem Titel Šedesát ústeckých NEJ (»Sechzig Aussiger Superlative«) geschrieben und kann ihnen eine Menge Objekte zum Zeichnen vorstellen: unter anderem den schiefsten Turm Mitteleuropas, die größten Zuckerfabriken in Österreich Ende des 19. Jahrhunderts, das höchste Gebäude in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit oder die schönste Brücke der Welt …