Manchmal kommt Konstantin Gaber zum Joggen hierher. Mehrere hundert Höhenmeter gilt es zu überwinden, doch die Anstrengung lohnt sich. Die Aussicht auf das Dorf Bogeschdorf/Băgaciu mit seiner Kirchenburg, eingebettet in die sanft geschwungenen Berge, ist einfach phänomenal. Im Spätsommer und frühen Herbst tauscht der 29-Jährige seine Lauf- gegen robuste Arbeitsschuhe und erklimmt den Weinberg mit dem Geländewagen und Traktor. Denn jetzt beginnt die Weinlese. »Wir bauen hier Riesling und Chardonnay an, Grauburgunder und ebenso autochthone Sorten, also aus dieser Region stammende Trauben«, erläutert Gaber beim Gang zwischen den Reben. Feteasca Regală nennen sich Letztere, in Deutschland bekannt als Königsast. »Sie sind eher süßlich und daher hier in Rumänien gern gemocht.« Vom trockeneren Riesling baue er über acht Hektar an, 18 Hektar Land werden mit Trauben bestellt. »Das entspricht etwa 26 Fußballplätzen«, sagt der Winzer nicht ohne Stolz. Das ist nichts gegen jene 350 bis 400 Hektar, die zur Hochzeit des Weinbaus in Bogeschdorf Anfang des 20. Jahrhunderts angebaut wurden. »Jede Familie im Dorf hatte ihre eigenen Parzellen, Weinbau hat in dieser Region eine lange Tradition«, weiß der junge Winzer. Auch die Gabers gehörten dazu, bis sie im Zuge eines Bodenreformgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg enteignet wurden. 250 Hektar Land besaß die Familie einst, der Gaber-hof zählte damals zu den schönsten im Ort, sagt der gebürtige Bremer. Mit den Enteig-nungen endete auch der Weinbau vieler Siebenbürger Sachsen, da zahlreiche Anbaugebiete zu Staatsbetrieben zusammengefasst wurden. Viele von ihnen überlebten nicht.
Seit 1974, als Heinrich Gaber im Rahmen des Freikaufs von Rumäniendeutschen mit seiner Familie in die Bundesrepublik auswanderte, hatte kein Gaber mehr den Hof betreten. Dass sein Enkel Konstantin heute wieder in Bogeschdorf lebt und Weinberge bewirtschaftet, ist das Ergebnis ungewöhnlicher Wendungen, mutiger Entscheidungen und einer Prise Schicksal – doch dazu später mehr.
Jedenfalls spiegelt die Geschichte der Familie die vieler Siebenbürger Sachsen wider, geprägt von Umbrüchen, Migration und dem Streben nach Bewahrung von Traditionen. Diese gehen zurück auf ihre Ansiedlung, als sie sich im Mittelalter auf Einladung der ungarischen Könige auf »Königsboden« niederließen. Terra regis bezeichnen es mittelalterliche Quellen und deuten auf die besondere Rechtslage hin: Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts warb König Géza II. gezielt Siedler aus dem römisch-deutschen Reich an, um das relativ dünn besiedelte Land zu entwickeln. Später gewährte ihnen König Andreas II. mit dem Freibrief von 1224, dem sogenannten Andreanum, weitreichende Privilegien. Darin verankert waren unter anderem die Freiheiten, ihre Dörfer und Städte selbst zu verwalten und die Früchte ihrer Arbeit zu behalten.
Diese Privilegien ermöglichten den Siebenbürger Sachsen eine blühende Kultur und Wirtschaft – beflügelt auch durch den Weinbau. Denn der alkoholhaltige Traubensaft und der Handel damit bescherte den Dörfern im sogenannten Weinland rund um Mediasch/Mediaș als einstigem Weinumschlagplatz einen gewissen Wohlstand. Noch heute schmücken Reben das Wappen der Stadt an der Großen Kokel/Târnava Mare.
»Der Weinbau war prägend für die Region«, sagt Gaber. »Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell.« Der Wohlstand ermöglichte es den Dörfern, Kirchenburgen wie die in Bogeschdorf zu bauen – massive Festungsanlagen, die bis heute die Landschaft dominieren und an die Bedeutung der Region im Mittelalter erinnern. »Es geht nicht nur um den Wein«, sagt Konstantin Gaber. »Es geht darum, das Erbe meiner Vorfahren und der Siebenbürger Sachsen zu bewahren.«
Und damit sind wir wieder bei den tollkühnen Entscheidungen und Launen. »Ich will das alles wiederhaben«, soll Konstantins Großvater Heinrich Gaber wie aus einer Laune heraus gesagt haben. 2006 war das, als er mit zweien seiner Söhne, darunter Helmuth, Konstantins Vater und Bremer Geschäftsmann, in Bogeschdorf war. Die Reise in die Heimat – 32 Jahre nach der Auswanderung – war ein Geschenk zu Heinrichs 70. Geburtstag. Bei der Festtafel stieß Großvater Heinrich erneut aus: »Meine Söhne, die kaufen jetzt alles zurück«, erinnert sich Konstantin.
»Mein Vater dachte: ›Ich probiere mal, unseren Familienhof zurückzukaufen‹«, berichtet der Sohn. Als die Dorfbevölkerung davon Wind bekam, brachte das einen Stein ins Rollen, und immer mehr heutige Bogeschdorfer boten Helmuth Land zum Ankauf an. So erwarb er 230 Hektar, darunter allerdings auch Grundstücke, die vor der kommunistischen Enteignung in Familienbesitz gewesen waren, erklärt Konstantin. Anstatt auf Restitution zu setzen, die vor Rumäniens EU-Beitritt 2007 möglich gewesen wäre, entschied sich der Vater, das Land käuflich zu erwerben.
Und so kam der ehemalige Gaber-Hof wieder zurück in den Besitz der Familie, doch wegen seines baufälligen Zustands wurde er abgerissen. Im Laufe der Jahre wurde auf dem nur wenige hundert Meter entfernten Reinerth-Hof ein landwirtschaftlicher Betrieb aufgebaut. 180 von 230 Hektar Ackerflächen wurden bewirtschaftet und mehrere Betriebsleiter wechselten, ehe im vergangenen Jahr Konstantin selbst die Leitung übernahm. Schon als Student hatte er während der Semesterferien bei der Weinlese geholfen. »Ich war mit meinem Politikstudium fertig und habe mir gesagt: ›Komm, lass es mich doch mal versuchen, Wein- und Ackerbau‹«, erinnert er sich heute. »Ich habe das zwar nicht studiert, aber es ist intuitive Arbeit und ich sehe da Potenzial drin«, sagt der Landwirt mit Politikdiplom. Ein Jahr später erntete er zum ersten Mal Zuckerrüben, Soja und Weizen. Konstantin lernte innerhalb eines Jahres so gut Rumänisch, dass er sich inzwischen mit den Angestellten auf dem Hof gut verständigen kann. Bei der Weinlese helfen schon mal über zwei Dutzend Tagelöhner. »Mir ist wichtig, dass wir auf Augenhöhe kommunizieren«, sagt er. Deshalb kickt er in der Freizeit bei der Bogeschdorfer Fußballmannschaft. »Ich will, dass mich die Leute nicht nur von der Arbeit her kennen und so fühle ich mich im Dorf gut integriert.« Nach einem Jahr bezeichnet er sich gar als Bogeschdorfer.
»Was gibt es Besseres, als die Welt zu ernähren?«, schmunzelt er heute. Etwa diese auch mit Bogeschdorfer Wein zu versorgen. »Terra Regis« heißt das Weingut der Gabers, passend zum Ort. Mitverantwortlich für die Entstehung war der 2015 verstorbene Karl Müller. Der Siebenbürger Sachse und Önologe bekam Wind davon, dass Helmuth Gaber in Bogeschdorf Land kaufte. Bereits an Krebs erkrankt, überredete er Helmuth, so dass 2011 die ersten Rebstöcke gepflanzt wurden. Drei Jahre später wurde der erste Wein gekeltert. »Der zweite Jahrgang Riesling 2015 gewann schon die ersten Preise«, erzählt Konstantin nicht ohne Stolz.
Bisher wurden die Terra-Regis-Weine allerdings nicht in Bogeschdorf verarbeitet: Ein Großteil der Trauben wurde nach manueller Lese direkt an die Bevölkerung in der Umgebung verkauft. Über Siebenbürgen hinaus ist die Tradition von hausgemachtem Wein im eigenen Keller sehr verbreitet, weiß Konstantin. »Manche unserer Kunden kommen 300 bis 400 Kilometer, sogar aus Ungarn, um unsere Trauben zu kaufen.« Ein Teil der Rebfrüchte wurde bis vergangenes Jahr per Kühl-Lkw nach Deutschland gebracht. In Neustadt an der Weinstraße wurden diese gepresst, gekeltert und so zu Wein verarbeitet. Die rund 5 000 Flaschen jährlich wurden vom Lager in Bremen verkauft, meist unter Siebenbürger Sachsen oder über das Internet.
Doch das hat sich nun geändert. Seit diesem Jahr gibt es in Bogeschdorf eine eigene Kelterei. Konstantin öffnet das Tor zu einem Anbau auf dem Hof. Dahinter sind mehrere riesige Aluminiumbehälter. »Die kleinen hier fassen jeweils 2 500 Liter, die großen 7 500 Liter und die beiden anderen haben 3 500 Liter«, erklärt er. »Das alles ist die Ernte von diesem Jahr«, sagt Kellermeister Csaba Czirmai. Der 37-Jährige ist nun Partner in dem Weinbetrieb und sieht das als Herausforderung. »Meine Familie stellt seit über vierzig Jahren zu Hause Wein her, aber bisher haben wir nicht industriell produziert.«
Als Weiterbildung absolviert er derzeit ein Studium in Weinherstellung in Budapest und ist jetzt schon von der Gärung des Mosts begeistert, während er aus einem der Fässer Federweißer abfüllt. Ein erster Vorgeschmack auf das, was noch kommen mag. Beide heben das Glas und blicken prüfend auf die trübe, perlende Flüssigkeit. »Das wird ein guter Wein«, sagt der Kellermeister und nimmt einen Schluck. »Es ist faszinierend, wie der Most sich entwickelt«, sagt Konstantin. »Das ist nur der Anfang, aber wir wissen schon jetzt, dass dieser Jahrgang etwas Besonderes wird.« Ein gänzlich im siebenbürgischen Bogeschdorf produzierter Wein.