Gelegen in der heutigen Woiwodschaft Ermland-Masuren (Warmia i Mazury), trennen das Ermland keine natürlichen Grenzen von den Nachbarregionen, nur seine besondere historische Entwicklung sowie die konfessionelle Zugehörigkeit: Einst war es eine katholische Insel inmitten der überwiegend evangelischen Provinz Ostpreußen. Noch heute spiegelt sich diese geschichtliche Sonderrolle in der Architektur und dem Kulturerbe der Landschaft wider. Vor allem in den zahlreichen Bildstöcken.
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Fotos © Markus Nowak

Die Sonne strahlt sanft durch die dichten Blätter des Waldes am Rande von Göttkendorf/Gutkowo, einem Dorf am Stadtrand von Allenstein/Olsztyn. An einer kleinen Lichtung steht ein säulenartiger Backsteinbau: Hinter Glas befindet sich eine Marienfigur, darüber die Kreuzigungsszene und darauf ein gusseisernes Kreuz mit zwei Daten darauf: 1909 und 2020.

»Einst war sie völlig vergessen und verfallen«, erinnert sich Robert Jan Szewczyk und zückt sein Handy, um Fotos darauf zu zeigen. Zu sehen sind wahllos im Wald liegende Ziegelsteine, ein Fundament und eine arbeitende Menschengruppe. »Dank der Entschlossenheit der Bewohner konnte sie wieder aus den Trümmern auferstehen.« 2020 war das, erinnert sich Szewczyk, der damals noch Stadtrat von Allenstein war. Im Frühjahr 2024 wurde er zum Stadtpräsidenten, so etwas wie dem Oberbürgermeister, gewählt. »Jeder hat sich ein wenig engagiert, und so haben wir aus diesem Haufen Ziegeln mit eigenen Kräften wieder eine Kapelle gebaut«, sagt der 43-Jährige, als er an das mehrwöchige Projekt der Dorfbevölkerung denkt. »Das hilft dabei, Identität zu erschaffen.«

Bildstöcke als Zeichen der Identität

Identität ist etwas, das im Ermland/Warmia eine besondere Rolle spielt. Und die Heiligenhäuschen wie in Göttkendorf haben dabei eine wichtige Bedeutung. Mal ist es eine Heiligenstatue, mal eine Marienskulptur oder ein Kreuz. Häufig teilen sich gleich mehrere sakrale Figuren die Häuschen. Fast immer sind diese aus Backstein oder weiß verputzt, und nicht selten weist eine Jahreszahl auf ihre mehr als hundertjährige Geschichte hin. »Die Bildstöcke sind sehr wichtige und unverwechselbare Identitätsmerkmale des Ermlands«, sagt Iwona Liżewska. Sie muss es wissen, als Buchautorin mehrerer Publikationen zu dem Thema und als Leiterin der Allensteiner Abteilung des Nationalinstituts für Kulturerbe (Narodowy Instytut Dziedzictwa). Die Einrichtung stellt ein zentrales Register zusammen, auf das sich die Denkmalschutzbehörden beziehen.

Besondere Baukunst

So katalogisierte Liżewska mit ihrer Einrichtung im Jahr 2012 die kapliczki warmińskie, wie die Heiligen-häuschen auf Polnisch heißen, und zählte ganze 1 333 auf dem Gebiet des Ermlands. Davon seien heute rund ein Drittel denkmalgeschützt. Zusammen mit bereits verwüsteten Bildstöcken – wie einst der in Göttkendorf – dürfte die Zahl auf über 1 500 steigen, glaubt sie. »Auf dem Gebiet des historischen Ermland von rund 4 000 Quadratkilometern ist das wirklich viel«, ergänzt Liżewska. 4 000 Quadratkilometer entsprechen der eineinhalbfachen Größe des Saarlandes. Liżewska unterstreicht das nochmals, da im mehrheitlich katholischen Polen Bildstöcke auch in anderen Regionen, wie etwa im südlichen Polen, keine Seltenheit seien. »Der ermländische Bildstock weist meistens auch eine besondere Baukunst auf«, fügt sie als weiteres Unterscheidungsmerkmal hinzu. In anderen Regionen sei die sakrale Figur ebenso wichtig wie die architektonische Ausgestaltung des Heiligenhäuschens. Hier aber überdauerten zahlreiche der kleinen Bauten, während viele Figuren abhandengekommen sind oder später ersetzt wurden.

Auch die Erzählungen zu den Bildstöcken überdauerten nur selten. »Es sind sehr individuelle Geschichten und Motive, warum die Heiligenhäuschen gebaut wurden«, sagt Mirosław Bojenko. Der Fotograf do-kumentiert seit Jahren die Bildstöcke seiner Heimatregion und widmete diesem besonderen ermländischen Erbe mehrere Ausstellungen und Bücher. »Manchmal wurden sie zum Dank aufgestellt, etwa wenn der Sohn vom Krieg heimgekehrt war oder wenn ein Dorf eine Epidemie überlebt hatte.« Manche hatten eine Schutzfunktion und befanden sich am Wegrand, oder sie sollten für eine Ernte »sorgen« und standen daher bei Feldern, berichtet der Fotograf und Kenner dieses ermländischen Erbes. »Nur bei wenigen der Objekte kennen wir den genauen Ursprung.« Er versuchte, von den Dorfbewohnerinnen und -bewohnern die Geschichte der Bildstöcke zu erfahren, aber weil der Großteil der Bevölkerung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ausgetauscht wurde, sei auch die Überlieferung abgerissen. »Es sind stumme Zeugen der Geschichte und des tiefen Glaubens der Menschen hier«, resümiert der 70-Jährige.

Der Glaube hat im Ermland in der Tat eine große Bedeutung. Ursprünglich war es das Siedlungsgebiet eines der prußischen Volksstämme. Ob aus jener Zeit die rund zwanzig menschengroßen Bildsteine stammen, die im Ermland an verschiedenen Orten gefunden wurden, ist nicht abschließend geklärt: Figuren mit einem rundlichen Gesicht und menschlichen Gesichtszügen. Baba pruska wurden sie auf Polnisch genannt, »prußisches Weib«, so die deutsche Übersetzung. Zwar gibt es über ihre Entstehung und Bedeutung nur Legenden und Hypothesen, diese befeuern aber die Nutzung als touristisches Maskottchen des Ermlands. Im Mittelalter wurde die Region nach der Eroberung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert zu einem Bistum innerhalb des Deutschordensgebiets. Erster Bischof wurde bereits 1250 der Ordenspriester Anselm, erster Kapitelsitz war zunächst Braunsberg/Braniewo, ab 1284 Frauenburg/Frombork. Ab 1341 war Wormditt/Orneta Bischofssitz, von 1350 bis 1795 Heilsberg/Lidzbark War-miński und dann bis 1945 wieder Frauenburg. Dem Ermland wurde schnell eine selbstständige Stellung innerhalb des Ordensgebiets zuteil: So wurden vorwiegend Bischöfe, die außerhalb des Ordens standen, berufen und hatten weitreichende Kompetenzen, sie konnten etwa Stadtrechte verleihen. Kaiser Karl IV. vermerkte in der Goldenen Bulle von 1356 den ermländischen Bischof als Reichsfürsten, das Ermland war nunmehr ein »Fürstbistum«. Als das Ordensland nach dem Zweiten Frieden von Thorn 1466 geteilt wurde, fiel das Fürstbistum ebenso wie das westliche Preußenland an die Krone Polens und bewahrte unter deren Oberhoheit eine gewisse Eigenständigkeit. Dadurch war dies auch das einzige Gebiet des alten Preußen, in dem die Re-formation überhaupt nicht Fuß fassen konnte und das vollständig katholisch blieb.

Protestanten hatten nach der Reformation zunächst kein Dauerwohnrecht im katholischen Fürstbistum Ermland. »Zinten liegt im Ausland«, dieser Spruch stammt aus jener Zeit, als die Evangelischen am Neujahrstag ins »Ausland« nach Zinten/Kornewo im Herzogtum Preußen gingen, um nach dem Dreikönigstag wieder ins Ermland zurückzukehren. Das Ermland wie ganz »Preußen königlichen Anteils«, also die 1466 an die Krone Polens gefallenen Regionen, kam im Zuge der ersten Teilung Polens 1772 zum König-reich Preußen und verblieb bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 innerhalb deutscher Grenzen.

Bis dahin aber – unter polnischer Hoheit – zogen viele Polen hierher. Vor allem der Klerus war polnisch geprägt, Heilsberg als Bischofssitz wurde ein wichtiges Zentrum polnischer Kultur. Einer seiner bekanntesten Vertreter war Fürstbischof Ignacy Krasicki (1735–1801). Er wurde später Erzbischof von Gne-sen/Gniezno und Primas von Polen und war als Schriftsteller einer der wichtigsten Vertreter der Aufklärung in Polen-Litauen. Zudem verkehrte er beim »Alten Fritz« und seinen Nachfolgern in Potsdam. Der katholische Glaube blieb im Ermland prägend, auch in Abgrenzung zum restlichen Teil Ostpreußens. »Das Ermland hat so seine Besonderheiten, gerade als katholische Region, umgeben vom evangelischen Masuren«, sagt Kornelia Kurowska. Und das habe Einfluss auf die Landschaft, zu der die Bildstöcke gehören. Kurowska ist Vorsitzende der »Borussia«, einer Organisation, die seit Anfang der 1990er Jahre die Geschichte und Kultur des Ermlands und Masurens erforscht und sich für Toleranz und Dialog einsetzt. Die Nichtregierungsorganisation erhielt 2004 den Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte und 2021 den Georg Dehio-Kulturpreis des Deutschen Kulturforums östliches Europa.

Für Kurowska ist das Ermland aber mehr. Da seien etwa die kilometerlangen Alleen, deren dichtes Laub fast an einen Tunnel erinnert. Bei Straßensanierungen werden sie immer wieder abgeholzt, weil sie bei Autofahrenden als gefährlich gelten. Auch sei das Ermland in den 1980er Jahren ein »Geheimtipp« für polnische Künstler und Aussteiger gewesen, die diese »nicht so imposante, aber dennoch reizvolle Landschaft«, wie Kurowska sie bezeichnet, angezogen habe.

»Borussia« ist der lateinische Name für Preußen. Sie hat ihren Sitz ebenfalls in einem Allensteiner »Geheimtipp«, der bald sogar UNESCO-Weltkulturerbestatus erreichen könnte. Die Kulturorganisation entdeckte und sanierte das 1913 errichtete ehemalige »Haus der Reinigung« (Bet Tahara) – am jüdischen Friedhof in Allenstein. Es ist das Erstlingswerk von Erich Mendelsohn, dem weltberühmten Architekten der Moderne und einem Sohn Allensteins. Zudem ist es das einzige Überbleibsel der einstigen jüdischen Gemeinde. Das Dom Mendelsohna, das Mendelsohn-Haus, wie es heute genannt wird, könnte bald gemeinsam mit anderen Mendelsohn-Bauwerken zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt werden. Ein internationaler Initiativkreis arbeitet an der Nominierung.

Auch weitere, vor allem sakrale Bauwerke verdienten den Weltkultur­erbestatus, etwa das Backstein­ensemble in Frauenburg, dem ehemaligen Sitz des ermländischen Domkapitels. Der Astronom Nikolaus Kopernikus war einer der Domherren und verstarb hier – sein Grab und die Gebeine konnten 2010 mit einem DNA-Test nachgewiesen werden. Mit Kopernikus ist auch Heilsberg verbunden, bis 1795 diente die heute noch existierende imposante Burg als Residenz der ermländischen Bischöfe. Streng genommen auf protestantischem Boden liegt dagegen eines der wichtigsten sakralen Bauwerke Ermlands, die Wallfahrtskirche in Heilige­linde/Święta Lipka.

Zwischen dem Dunkelgrün der Wälder und dem Tiefblau der Seen erhebt sich in einer leuchtenden dunkelgelben Farbe die schmuckvolle Fassade des Barockkomplexes aus Gotteshaus und Jesuitenkloster. Barocke Üppigkeit auch innen: bunte Deckengemälde, das Presbyterium und das Hauptschiff aus-gemalt mit Fresken. Mit den fast 4 000 Pfeifen macht die vierzigstimmige Orgel dem in dunklem Holz gehaltenen und golden verzierten Hauptaltar optisch Konkurrenz. Um die Entstehung ranken sich Legenden, etwa, dass ein Verurteilter die Mutter Gottes um Hilfe angefleht haben soll. Sie trug ihm auf, eine Figur zu schnitzen. Der Verurteilte wurde daraufhin freigelassen und hängte seine Holzfigur »Unse-rer Lieben Frau« an einer Linde auf. Weniger eine Legende ist, dass das ermländische Domkapitel Land an der Stelle erwarb, um eine Kapelle zu errichten. Später übergaben sie es an die Jesuiten, die daraus einen berühmten Marienwallfahrtsort formten, das »Tschenstochau des Nordens«.

Wobei in Sachen Pilgerstätte ein Ort im Ermland – zumindest für gläubige Katholiken – einen noch höheren Rang genießen sollte, findet Denkmalpflegerin Liżewska. Die Rede ist von Dietrichswalde/Gietrzwałd. Dessen Bedeutung sei völlig unterbewertet. »Wir sind uns überhaupt nicht bewusst, dass wir den einzigen Ort in Polen haben, an dem eine von der Kirche anerkannte Marienerscheinung statt-fand.« Im Sommer 1877 soll der 13-jährigen ­Justine Schafrinska (polnisch Justyna Szafryńska) und der ein Jahr jüngeren Barbara Samulowska mehrfach eine lichte Figur erschienen sein. In der Zeit des Kulturkampfs gingen die preußischen Truppen im saarländischen Dorf Marpingen noch rabiat gegen die Gläubigen vor, als ein Jahr zuvor drei Kindern ebenfalls eine solche Erscheinung widerfuhr und zehntausende Menschen in den Härtelwald strömten.

In Dietrichswalde ging es weniger schonungslos zur Sache: Die Dorfbevölkerung durfte zwar keine Pilger aufnehmen oder ihnen zu essen geben und beten durften die Wallfahrer nur in der damals noch kleinen Kirche, die erst nach dem Kulturkampf ausgebaut wurde. Die weitaus größere Sprengkraft aber lag darin, wie die Muttergottes die beiden Mädchen ansprach: auf Polnisch, aber in ermländischer Mundart. Dieser Dialekt wurde damals von vielen Menschen südlich von Allenstein, wo die Sprachgrenze zwischen Deutsch und Polnisch verlief, gesprochen. Der Ahornbaum, unter dem die Mädchen ihrer Erscheinung begegneten, steht nicht mehr. Dafür an seiner Stelle ein Bildstock mit der Dietrichswälder Maria. Er reiht sich ein in die mehr als 1 300 ermländischen Heiligenhäuschen, die so charakteristisch für die Region sind – und dank Initiativen wie jener der heute in Göttkendorf lebenden Menschen auch bleiben werden.