Rituale, mit denen die Jahreszeiten eingeläutet oder verabschiedet werden, gibt es in vielen Regionen des östlichen Europas. Die meisten blicken auf lange Traditionen zurück und nur in Kriegs- oder Katastrophenzeiten wurden sie nicht oder nur eingeschränkt gefeiert. Bei einem Winterabschiedsritual in Siebenbürgen allerdings gab es mehrere Unterbrechungen: nach dem Krieg und nach dem Massenexodus der Deutschen aus Siebenbürgen in den 1990er Jahren. Mittlerweile haben die Rumäninnen und Rumänen das Urzeln-Brauchtum adaptiert und gerettet.
Agnetheln/Agnita, eine Ortschaft mit 8 000 Menschen im Harbachtal zwischen Hermannstadt/Sibiu und Schäßburg/Sighișoara, ist eine ruhige Kleinstadt wie viele andere in Siebenbürgen. Doch immer am letzten Sonntag im Januar, wenn auf den Straßen noch Schnee liegt, die Erde kalt ist und der Frühling weit weg, verwandelt sie sich. Schon am frühen Morgen dringt aus den weit geöffneten Fenstern Krapfengeruch. Zwischen den Häusern ertönt Blasmusik. Und dann füllen sich die Straßen mit maskierten Zottelwesen.
Der Bär symbolisiert die Kürschnerzunft. © Sebastian Marcovici
Peitschenknallend und mit ein paar Krapfen in ihrer »Quetsche«, also einer Holzzange, ziehen die vogelähnlichen Gestalten mit Menschengesichtern durch die Straßen und die Leute kommen aus ihren Häusern, um den Festzug zu begleiten. Urzeln werden die Wesen genannt und ihr Umzug ist ein Grund zur Freude. Er soll Hoffnung schenken, dass bald die Bäume wieder blühen und der Frühling ins Land einzieht. Die maskierten Fantasiegestalten sollen mit ihren Kuhglocken und mit Peitschenknallen den Winter und die bösen Geister vertreiben. Mit dem Urzellauf hat sich in Agnetheln einer der ältesten und bedeutendsten siebenbürgisch-sächsischen Bräuche bis auf den heutigen Tag erhalten und zieht jeden Winter Menschen von nah und fern an. Neunzig Prozent der Stadtbewohnerinnen und -bewohner sind heute rumänisch, und auch sie sind besonders stolz auf dieses in ihrem Land einzigartige Ereignis.
Urzellied
Wir wünschen Glück in diesem Haus,
wir treiben mit Schelle und Peitsche
die Sorgen und den Ärger aus.
Unsere Lieder und Witze kann jeder hören.
Und dass wir Euch besuchen kommen,
beweist, dass wir Euch ehren.
Warum »Urzeln«?
Die Ursprünge des Urzellaufs liegen weit in der Vergangenheit. Zur Herkunft des Namens »Urzeln« gibt es mehrere Hypothesen. Der etymologische Ursprung der Urzeln ist wahr-scheinlich urtz, was so viel wie »Rest von etwas« bedeutet. Der einst mit den Agnethler Handwerkerzünften verknüpfte Brauch wurde im Jahr 1689 urkundlich belegt, es gibt ihn aber mit Sicherheit schon viel länger. Jeden letzten Sonntag im Januar fand in der Stadt der sogenannte »Mummenschanz der Zünfte« statt, ein Maskenfest, das dem Fasching ähnelt.
Die vier Agnethler Zünfte – Schuster, Schneider, Kürschner und Fassbinder – zogen durch die Straßen der Stadt, um ihre Zunftladen den neuen Zunftmeistern zu übergeben. Begleitet wurden sie von zotteligen Fantasiegestalten, den Urzeln. Diese spielten damals nur eine Nebenrolle, sie galten als Ordnungshüter beim Forttragen der Laden. Aber als sich 1911 alle Zünfte zu einer einzigen vereinigten, blieben nur die Urzeln übrig und wurden zu den Hauptfiguren der Parade. Seitdem muss jede Urzel zur Disziplinierung eine Nummer tragen, anhand derer sie nachträglich identifiziert werden kann.
Zur Urzeltracht gehört die Zottelkleidung: Das Hemd und die Hose sind aus grobem Leinen gefertigt, auf das viele schwarze gleichmäßig geschnittene Tuchlappen genäht werden, dazu kommt eine Peitsche und die »Quetsche« für die Krapfen. Über die Lenden schnallen sich die Urzeln einen Riemen, an dem mehrere Kuhglocken hängen. Doch am schönsten am Urzelkostüm ist die Maske, die sogenannte Larve. Diese wird aus einem Drahtgeflecht gefertigt, auf das eine unheimliche Fratze gemalt wird. So, wie es keine Menschen mit identischen Gesichtern gibt, ähnelt keine Larve der anderen. Manche Urzeln haben große rot geschminkte Lippen, andere tragen Schnurrbart oder haben riesige, weit aufgerissene blaue Augen mit dicken Wimpern. Das Drahtgeflecht der Larve wird mit Fuchs- oder Hasenfell eingefasst. Manchmal wird ein Fuchsschwanz an die Larve angenäht, manchmal Elster- oder Krähenflügel. Bei der Gestaltung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
Als während des Zweiten Weltkriegs deutsche Truppen im Ort stationiert waren, fand im Winter 1941 der größte Urzellauf in der Geschichte Agnethelns statt. Und es war vorläufig der letzte, denn nach Kriegsende wurde das Ritual eingestellt. Es sollte zwei Jahrzehnte dauern, bis es den Menschen in Agnetheln gelang, sich gegen die Kommunisten durchzusetzen und die Parade 1969 wieder einzuführen. Ihr größter Gegner war damals der Direktor des Agnethler Kulturhauses. Dafür erhielt er den Spitznamen Antilolă, also »Antiurzel«. Lolă lautet der rumänische Begriff für Urzel.
Vor 1989 gab es auch in Großschenk/Cincu und in Marpod Urzelläufe, hier waren die zotteligen Wesen in die »Hässigen«, die Hässlichen, und die »Hieschen«, die Hübschen, unterteilt. Bis zum Massenexodus der Deutschen aus Siebenbürgen nach der Wende 1989 hatten sie jeden Winter mit stetig steigender Anzahl von Urzeln stattgefunden. Dann gingen 16 Winter ohne sie ins Land. Am letzten Sonntag im Januar waren die Straßen leer und still, man konnte kein Peitschenknallen und keine Blasmusik mehr hören. Die Initiative, den Brauch wieder aufzunehmen, kam überraschenderweise von rumänischer Seite. Im Winter 2006 lief der Deutschlehrer Bogdan Pătru mit seinen in Urzelkostümen gekleideten Schülern durch die Straßen Agnethelns. Da erinnerten sich die Menschen an den Brauch und beschlossen, die Parade wieder jedes Jahr zu veranstalten. Pătru gründete den Verein Breasla Lolelor (»Die Urzelzunft«), der den Urzellauf bis heute organisiert und rund 150 Mitglieder hat.
Auch eine »Delegation« der nach Deutschland ausgewanderten Siebenbürger Sachsen aus Sachsenheim kommt immer wieder nach Agnetheln. © Sebastian Marcovici
Wurde vor 1990 das Fest nur von der deutschen Bevölkerung gefeiert, gehören die Urzeln jetzt allen. Die rumänischen Ortsansässigen haben das Ritual übernommen und legen großen Wert darauf, es in der überlieferten Form zu bewahren, als Andenken an ihre ehemaligen deutschen Nachbarinnen und Nachbarn.
Auch diese führen die Tradition fort. Die neue Heimat der Urzeln ist heute das schwäbische Sachsenheim, wo 1965 der alte Brauch eingeführt wurde. Inzwischen hat sich der Urzellauf auch hier fest etabliert und jedes Jahr wird die Parade größer. Auch die Gemeinschaft der Urzeln in Agnetheln wächst von Jahr zu Jahr, vor allem Jugendliche haben großen Spaß daran. Zu den Urzelvereinen im Ausland gibt es gute Kontakte.
Wie sich das Vogelhafte des Kostüms im Laufe der Zeit kaum verändert hat, wird auch der Ablauf des Urzellaufs bis auf den heutigen Tag streng eingehalten. So wird die Parade von einem Hauptmann angeführt, der von zwei Engeln begleitet wird (Schusterzunft), es folgen das tanzende Schneiderrösschen mit der hageren Gestalt des Mummerl als Symbol der Schneiderzunft, der Bär mit dem Bärentreiber, ein drehbares Rad bestückt mit ausgestopften Füchsen (Symbole der Kürschnerzunft) und die Reifenschwinger als Vertreter der Fassbinderzunft. Dann folgen die Urzeln. Mit Reifen und Peitschen versehen, laufen sie unter Schellengeläut durch die Stadt. Begegnen sie einer Frau, schlingen sie ihren Reifen um sie und tanzen.
Der Festzug wird bei der Spiritusfabrik aufgestellt. Von hier aus begibt sich die Parade samt Blasmusik zum Rathaus. Die Urzeln begleiten den Bürgermeister mit Musik auf den Marktplatz hinaus. Hier finden vor einer jubelnden Menschenmenge die Schauhandlungen der Zünfte statt: Der aufrecht schreitende Bär tanzt nach Vorgabe des Treibers, das Mummerl und das Rösschen führen einen menuettartigen Tanz vor und der Reifenschwinger begeistert die Zuschauerinnen und Zuschauer mit seiner Kunst. Nachdem von allen Anwesenden – egal ob rumänisch oder deutsch – das Siebenbürgenlied gesungen wird, setzen die Urzeln den Umzug fort. In Gruppen, den sogenannten Parten, werden zuerst die wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt besucht, als erster der evangelische Pfarrer. Danach geht es weiter zu Freunden und Bekannten, wo mit Essen, Trinken und Tanz bis in den Morgen gefeiert wird.
Am nächsten Tag werden die Urzelkostüme sorgfältig im Schrank verstaut. Sie werden erst im nächsten Jahr wieder herausgenommen, im Winter, wenn es aus den Häusern von Agnetheln wieder nach Krapfen duftet und Peitschenknallen durch die Gassen hallt.