Im Verwaltungskreis Temesch/Timiș, dessen Hauptstadt Temeswar ist, sind heute 4 700 Angehörige der deutschen Minderheit zu Hause. Das ist eine überschaubare Zahl. Entsprechend machen die deutschen Jugendlichen nur noch einen kleinen Teil der Schülerschar aus. Dafür schicken viele rumänische Familien ihren Nachwuchs in die deutsche Nikolaus-Lenau-Schule. Von Raluca Nelepcu
September 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1437
1
© Zoltán Pázmány

Ein Frühjahrsmorgen in Temeswar/Timișoara. Die Sonne strahlt warm. Aus der benachbarten Fußgängerzone duftet es nach frisch geröstetem Kaffee und gegrilltem Fleisch. Vor dem hellgelb gestrichenen Gebäude in der Gheorghe-Lazăr-Straße Nr. 2 stehen viele junge Menschen aufgeregt schwatzend beieinander. Sie sprechen rumänisch, aber einige von ihnen tragen deutsche Trachten. Es sind die Schüler des Nikolaus-Lenau-Lyzeums, der wichtigsten deutschen Schule im Banat, und sie erwarten heute hohen Besuch: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier befindet sich in der Stadt und wird auch an der Lenau-Schule, wie sie allgemein genannt wird, kurz Halt machen. Kein Wunder, denn diese Bildungseinrichtung ist das perfekte Beispiel für die erfolgreiche deutsch-rumänische Zusammenarbeit.

Etwa neunzig Prozent stammen aus rumänischen Familien. Seit 23 Jahren unterstützen die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und die Kultusministerkonferenz als feste Partner die Lenau-Schule. Der Unterricht erfolgt von der ersten bis zur zwölften Klasse. Ihre Besonderheit: Seit dem Jahr 2000 hat sie eine Spezialabteilung für die deutsche Sprache, deren Absolventinnen und Absolventen ein deutsches Abitur erwerben können. Und das eröffnet viele Möglichkeiten. Mehr als die Hälfte studiert nach dem Abschluss im deutschsprachigen Ausland.

1870 als Ungarische Oberrealschule gegründet, wurde die Lehranstalt 1919 in ein Deutsches Staatsgymnasium umgewandelt. Seit 1942 trägt sie, mit einer zeitweiligen Unterbrechung, den Namen des Banater Dichters Nikolaus Lenau (1802–1850). Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt sie als die wichtigste Schule der deutschen Minderheit im Banat. Bereits zu sozialistischen Zeiten herrschte ein gewisser »liberaler Geist« an der Lenau-Schule. Die Lernenden wurden zum selbstständigen Denken angeregt, was für die damaligen Zeiten nicht selbstverständlich war, erinnern sich viele Absolventinnen und Absolventen der 1980er Jahre.

Direktorin der Schule ist seit April 2003 Helene Wolf. Ihr Büro befindet sich im ersten Stock der sogenannten »großen Schule«, also der Klassen neun bis zwölf. An der Wand hinter ihrem Schreibtisch hängt ein großer Terminkalender, in dem die wichtigsten Schulprojekte eingetragen sind, viele davon gemeinsame Projekte mit Schulen aus Deutschland, aber auch etliche Urkunden, die herausragende Schülerleistungen würdigen. Derzeit besuchen 1 680 Schülerinnen und Schüler die Lehranstalt, erzählt die 58-Jährige. Die hohe Zahl ist auf ein rumänisches Bildungsgesetz von 2011 zurückzuführen, erklärt sie.

KK 1437 30 33 Reportage Lenauschule Schulleiterinschulleiterin 1200x822Schulleiterin Helene Wolf. © Raluca Nelepcu

Die Grundschülerinnen und -schüler von damals sind nun in den Abschlussklassen. »Wenn diese einmal von der Schule abgegangen sind, werden die Schülerzahlen hoffentlich wieder zurückgehen«, sagt die Direktorin und rechnet vor: Derzeit sind es bis zu sechs Klassen in einem Jahrgang, künftig werden es vier oder fünf Klassen sein. Fakt ist: Um Schüler braucht die Schule nicht zu ringen, denn das Interesse am Erler-nen der deutschen Sprache ist nach wie vor groß im multikulturellen Temeswar, in Rumänien überhaupt. In 15 von 41 Verwaltungskreisen und in der Hauptstadt Bukarest wird Unterricht auf Deutsch angeboten.

»Gekämpft« wird aber um gutes pädagogisches Personal. Denn: Wer die deutsche Sprache beherrscht und eine gute Ausbildung hat, verdient in der Wirtschaft viel mehr als im Unterrichtswesen. Am Anfang der Laufbahn ist mit einem Gehalt von rund 600 Euro pro Monat zu rechnen, in der Wirtschaft ist das Einkommen mindestens doppelt so hoch. »Ab der 5. Klasse gibt es Fächer, für die wir leider die Hoffnung aufgegeben haben, deutschsprachige Lehrkräfte zu finden«, erklärt die Schulleiterin: »Wer zum Beispiel Informatik und Deutsch studiert hat, der arbeitet ganz bestimmt nicht im Schulwesen.« Und auch Mathematik oder Chemie seien Mangelfächer. Wenn Lehrerinnen in Mutterschutz gingen oder junge Lehrer das Unterrichtswesen aus finanziellen Gründen verließen, würde manchmal bereits verrentetes Lehrpersonal aushelfen.

Übrigens: An deutschsprachigen Lehrbüchern mangele es nicht – brauchbare Fachbücher kamen des Öfteren auch aus Deutschland, das letzte Mal im Frühjahr dieses Jahres, als eine umfangreiche Bücherspende, sowohl Literatur als auch Fachbücher, von mehreren Karlsruher Schulen nach Temeswar geliefert wurde. Die Spende wurde vom Freundeskreis Karlsruhe–Temeswar vermittelt, ein Bindeglied zwischen den beiden Partnerstädten. In ganz Rumänien streikten die Lehrkräfte Ende Mai, um bessere Gehälter zu fordern. Auch das Kollegium der Lenau-Schule machte bei den Protestaktionen mit. Ein Ausstand, den auch die stellvertretende Schulleiterin Andreea Goța befürwortet. »Der Streik ist gerecht. Die Lehrer brauchen angemessene Gehälter«, sagt sie entschlossen.

Als Deutschlehrerin unterrichtet Andreea Goța seit neun Jahren an der Lenau-Schule. Sie studierte Germanistik an der Temeswarer West-Universität, um nach dem Abschluss zunächst in der Temescher Gemeinde Lowrin/Lovrin und anschließend in Orzydorf/Orțișoara Deutsch als Fremdsprache zu lehren. Fünf Jahre lang pendelte sie in die Ortschaften, in denen sie ihre Stellen hatte – das waren in den ersten drei Jahren 500 Kilometer pro Woche. Als die Stelle an der Lenau-Schule frei wurde, eröffnete sich ein Traumjob für sie. »Ich liebe es, mit Kindern zu arbeiten, und ich finde es wichtig, dass Kinder mehrere Sprachen beherrschen. Meine eigenen Lehrer haben mich dazu inspiriert – so zum Beispiel meine ehemalige Deutschlehrerin Magdalena Balogh«, sagt Andreea Goța. An der Lenau-Schule fühlt sie sich wie zu Hause – vielleicht auch, weil sie hier schon zwölf Jahre als Schülerin verbracht hat. Sie muss nun nicht mehr zur Arbeit pendeln, sondern nur zwischen den beiden Gebäuden, in denen die Lenau-Schülerinnen und -Schüler untergebracht sind. Goța unterrichtet Deutsch in den Klassen fünf und zwölf, die in zwei verschie-denen Gebäuden untergebracht sind. Das als »große Schule« bekannte Gebäude in der Fußgängerzone beherbergt die Gymnasial­klassen neun bis zwölf.

In der »kleinen Lenau-Schule« am Domplatz/Piața Unirii sind die meisten Grundschulklassen untergebracht, weitere sind im Schulinternat und die Klassen fünf bis acht im sogenannten »Mincu«-Gebäude – benannt nach dem rumänischen Architekten Ion Mincu. »Durch die Verteilung der Klassen auf mehrere Gebäude können wir auf Unterricht in mehreren Schichten verzichten«, erläutert Wolf. »Jetzt haben wir nur vormittags Unterricht. Das ist ein Preis, den wir gerne zahlen, sowohl wir als auch die Eltern«, sagt die Direktorin. Ein moderner Schulcampus wird derzeit in der naheliegenden Oituz-Straße gebaut – nach der Inbetriebnahme nächstes Jahr sollen die Klassen bis zur Achten dorthin umziehen. Zurück zu den jetzigen Schülern: Mitglieder des Debatten- und der Robotik-Clubs haben zahlreiche Preise bei Wettbewerben erhalten, und auch bei Schülerolympiaden konnten Lernende der Lenau-Schule verschiedene Erfolge verzeichnen. Auf der Opernbühne wurden anlässlich der 150-Jahr-Feier der Schule, die mit einer dreijähri-gen pandemiebedingten Verspätung in diesem Jahr begangen wurde, einige der besten Lenau-Schülerinnen und -Schüler ausgezeichnet.

Ein besonderes Projekt stellten die Elftklässler Mihnea Bucovan und Matei Crăiniceanu vor. Die beiden sind Mitglieder des Teams »Unplugged Robotics« und beteiligen sich an zahlreichen Wettbewerben im Informatik-Technik-Bereich. Sie bauten einen Roboter, der den Müll von der Straße sammeln und direkt trennen kann. Für dieses Projekt wurden sie mit dem Carmen-und-Jakob-Walbert-Förderpreis ausgezeichnet. »Meine Eltern haben mich gleich in der ersten Klasse in der deutschen Schule angemeldet«, sagt Matei Crăiniceanu und zeigt sich dankbar dafür: »Die deutsche Sprache bietet viele Möglichkeiten. Auch meine Eltern haben das schnell erkannt.« Gewinner des Elsa-Lucia-Kappler-Preises war Bernard Rudăreanu aus der elften Klasse der Fachrichtung »Mathematik-Informatik«. Sowohl den Kappler- als auch den Walbert-Preis stiften ehemalige Lenau-Schüler über den Verein der Freunde der Lenau-Schule aus Deutschland. »In meiner Familie wird Deutsch gesprochen, denn auch meine Mutter hat die Nikolaus-Lenau-Schule abgeschlossen«, erklärt Rudăreanu seinen Erfolg, der Mitglied der Schülertheatergruppe »NiL« ist. Aus dieser gingen mehrere Schauspieler des Deutschen Staatstheaters Temeswar hervor.

Ihren guten Ruf hat die Lenau-Schule auch durch zwei international berühmte Absolventen: Herta Müller, die 2009 mit dem Literaturnobelpreis geehrt wurde, und Stefan Hell, der 2014 den Chemie-Nobelpreis erhielt. Zwei Tafeln neben dem Schuleingang weisen auf die beiden Persönlichkeiten hin.

Die Lenau-Schule sei immer noch »ein Leuchtturm im Milieu der Schulen in Temeswar und im Banat«, sagt Schulleiterin Helene Wolf, und das soll sie auch weiterhin bleiben. Klar ist nämlich: Solange auch rumänischsprachige Familien die Vorteile des deutschsprachigen Unterrichts erkennen und zu schätzen wissen, ist auch die Zukunft der Nikolaus-Lenau-Schule gesichert.