937 Kilometer lang ist die Memel von der Quelle bis zur Mündung ins Kurische Haff. Rund 360 Kilometer ist KK-Redakteur Markus Nowak mit seinem Fahrrad mehrfach abgefahren, zuletzt im Sommer 2022. Sein Weg führte quer durch das Memelland, zuweilen auch den Fluss entlang, mit Zielpunkt Memel/Klaipėda. Eine Radtour, die nicht nur bei deutschen Fahrradtouristinnen und -touristen beliebt ist, sondern auch am Wegesrand viel Geschichte erzählt. Von Markus Nowak
September/Oktober 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1431
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© Markus Nowak

Den Sommer über in Litauen im Home-Office, ein paar Tage frei von der Arbeit, und es herrscht Pandemie. Die Reise beginnt in Wilna/Vilnius. Das Fahrrad wird mit zwei Taschen auf dem Gepäckträger beladen, darin nur das Nötigste, aber auch Flickzeug für den Fall der Fälle und ein wenig Proviant. Wilna, die Stadt von Nobelpreisträger Czesław Miłosz, von Elijah Ben Salomon Salman, der als Gaon von Wilna in die Geschichtsbücher einging, und von Johann Christoph Glaubitz, dem aus Schlesien stammenden Baumeister des berühmten Wilnaer Barock. Durch die Stadt fließt die Neris, ein Nebenfluss, der im Laufe der Reise in die Memel mündet. Die ersten Kilometer geht es über eine vielbefahrene Straße durch ein Wilnaer Indus­triegebiet. Schön wird die Strecke erst, wenn die Hauptstadt hinter einem liegt.

Ein erster markanter Punkt auf dem Weg ist Trakai, im Mittelalter kurzzeitig Hauptstadt Litauens. Die hiesige Wasserburg wurde einst vom Deutschen Orden belagert – das heutige Aussehen verdankt der Backsteinbau aufwendigen Renovierungen Ende des 19. Jahrhunderts. Er darf auf keiner Litauen-Postkarte fehlen.

Hinter Trakai geht es durch die Dörfer der Dzūkija. Wie in den anderen Regionen Litauens – in Samogitien/Žemaitija, Oberlitauen/Aukštaitija oder Sudaue/Suvalkija – dominiert hier bäuerliche Holzarchitektur. Die meisten Häuser sind mit Asbestdächern bestückt. Hier und da steht ein Gehöft abseits der Dörfer, und nach rund hundert Kilometern grüßen die Vororte von Kaunas. In der zweitgrößten Stadt Litauens müsste eigentlich die Memel-Tour beginnen, denn hier – am Rande der Altstadt – mündet die Neris von Belarus kommend in den Nemunas, wie die Memel auf Litauisch heißt. Noch kurz vor der Stadt wird die Memel zum Kauno marios, dem Meer von Kaunas, aufgestaut. Für den Stausee wurden in sowjetischer Zeit über vierzig Dörfer überschwemmt und am Ufer in Rumšiškės ein Freilichtmuseum angelegt, unter anderem mit Häusern aus dem Memelland.

Kaunas selbst ist insbesondere 2022 einen Besuch wert, denn in diesem Jahr ist es eine der drei Europäischen Kulturhauptstädte. Mehrere hundert Veranstaltungen laden an den Zusammenfluss von Neris und Memel ein. Ein besonderes Projekt im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres ist das Memory Office, das »Erinnerungsbüro«. Dessen Ziel ist es, das multikulturelle Gedächtnis der Stadt und den einst bestehenden Stolz der Bürgerinnen und Bürger wiederzuerwecken. »Die Identität von Kaunas war bis vor wenigen Jahren in einer Krise«, sagt Daiva Citvarienė, Kuratorin des Erinnerungs-Programms. Denn die Geschichte der Stadt hat so ihre Brüche: Im zaristischen Russland war sie eine Garnisonsstadt mit einem imposanten Festungssystem. In der Zwischenkriegszeit war Kaunas die Hauptstadt Litauens, weil der Nachbar Polen nach dem Ersten Weltkrieg das südliche Litauen mit Wilna erobert hatte. Nach dem Krieg wurde Litauen zu einer Sowjetrepublik und Kaunas zu einer Provinzstadt degradiert. Die Zwischenkriegszeit wird daher von heutigen Kauniečiai, wie die Bewohnerinnen und Bewohner von Kaunas auf Litauisch genannt werden, als die Goldenen Jahre bezeichnet.

Damals entstanden Museen, Opernhäuser und alle Regierungsgebäude in kurzer Zeit und in modernistischer Architektur. Letztere ist heute so zahlreich vertreten, dass die Stadt die Bauten gerne auf die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste setzen würde. Vielleicht hilft das Kulturhauptstadtjahr, denn es werden dafür keine großen Neubauprojekte in Angriff genommen, sondern kleinere Initiativen. Mehrere modernistische Gebäude werden zugänglich gemacht, um Diskussionen über dieses sozialistische Erbe anzustoßen.

Povilas Konkulevičius ist mittendrin. Von Beruf ist er Architekt und hat ein Faible für alte Häuser. »Sie haben eine Seele«, sagt er und sieht es als Lebensprojekt, das alte Holzhaus seines Großvaters in Žaliakalnis zu sanieren. Bei der Renovierung eines der Nachbarhäuser kam die deutschsprachige Werbung einer Bauhandelsgesellschaft aus Memel/Klaipėda zum Vorschein (die KK berichtete in Ausgabe 1428 darüber).

Sie illustriert eine Zeit des Umbruchs: Im Januar 1923, zeitgleich mit der französisch-belgischen Besetzung des Ruhrgebiets, besetzte Litauen das Memelland und die Stadt Memel. Trotzdem blieben das Gebiet und die Stadt bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs deutschsprachig.

KK 1431 08 13 Nowak Entlang der Memel Ruhe 741x499 © Markus NowakNun weiter flussabwärts. Ein kilometerlanger Fahrradweg läuft direkt am Flussufer entlang bis zum Dorf Pavilkijys. Hier wird die Memel mit einer Fähre überquert und man befindet sich nördlich des Flusses in Vilkija, 1364 als Wilkenbethe erstmalig urkundlich belegt. Nun geht es wieder westwärts entlang der Memel, dieses Mal sechzig Kilometer am Stück auf einer mäßig von Autos befahrenen Landstraße nach Georgenburg/Jurbarkas. Im 14. Jahrhundert erbaute der Deutsche Orden hier eine Burg als Vorposten an der Grenze zu Litauen. Die Stadt selbst entstand im Zuge des Friedens von Melnosee, einem 1422 geschlossenen Vertrag zwischen Polen-Litauen und dem Deutschen Orden, der die Grenzen (Ost-)Preußens für rund 500 Jahre bis 1920 festlegte. Die des Memellandes beginnt tatsächlich nur wenige Kilometer westlich. Mažoji Lietuva, also »Kleinlitauen«, steht auf einer Plane am Ufer des Flüsschens Swentoje/Šventoji. Mažoji Lietuva gleicht im Litauischen zwar dem Memelland, historisch bezeichnet es »Preußisch Litauen«, also jene Gebiete im nördlichen Ostpreußen, in denen große Litauisch sprechende Gruppen lebten – und damit auch Gebiete südlich des Memellandes, die im heutigen Oblast Kaliningrad liegen.

Schmalleningken/Smalininkai ist auf dieser Reise die erste Ortschaft im eigentlichen Memelland und liegt am Ufer des Flusses. Auf der gegenüberliegenden Flussseite befindet sich Russland und so patrouillieren immer wieder Boote der Grenzschutzpolizei auf dem Gewässer, das auf beiden Seiten schon seit dem frühen Morgen von Anglern belagert ist. Anders als in den vorherigen Dörfern gibt es in Schmalleningken mehr gemauerte Häuser als die sonst in Litauen übliche Holzarchitektur. Gut zwanzig Kilometer weiter lohnt sich ein Halt in Willkischken/Vilkyškiai. Hier fährt man auf der Johaneso Bobrovskio gatvė in den kleinen Ort ein, der Johannes-Bobrowski-Straße. Einst lebte in dem Ort die Tante Bobrowskis, die er immer wieder besuchte, und seit fast zehn Jahren gibt es im ehemaligen lutherischen Gemeindehaus eine Bobrowski-Ausstellung. Unter anderem ist es dem evangelischen Pfarrer Mindaugas Kairys zu verdanken, dass das Arbeitszimmer des Schriftstellers aus Berlin-Friedrichshagen in Willkischken nachgestellt wurde. Darin ist auch die Schreibmaschine zu sehen, mit der Bobrowski sein Werk Litauische Claviere getippt hat. »Nun entdecken auch die Litauer Bobrowski, bisher war er hier nicht bekannt«, sagt der Pastor. Er schmunzelt: »Wer einmal ins Memelland kommt, der verliebt sich in die Gegend und die Menschen.« Auch Bobrowski war von der sarmatischen Landschaft, die sich von hier weiter gen Westen ausdehnt, fasziniert.

Und so geht die Reise weiter, an kleinen Dörfern mit lustig klingenden Namen wie Polompen/Palumpiai, Lompönen/Lumpėnai oder Baubeln/Būbliškė vorbei. Bemerkenswerte Namen haben aber auch manche Restaurants oder Dienstleistungsbetriebe entlang der Route. In Jugnaten/Juknaičiai gibt es das – derzeit zum Verkauf stehende – Café Prūsija, das Café Preußen; in Prökuls/Priekulė die Vokiška konditerija, eine »Deutsche Konditorei«; und in der Stadt Memel/Klaipėda gibt es weitere Cafés, aber auch Hotels und Pensionen, ja selbst Immobilienmakler oder Frisöre, die »Preußen« oder die »Memel« im Firmennamen tragen. Memel blue beispielsweise heißt ein Blauschimmelkäse, der in ganz Litauen in den Kühlschränken der Geschäfte liegt.

»›Memel‹ ist auf jeden Fall ein Qualitätsprädikat, mit dem man die alten deutschen Tugenden verbindet«, sagt Rasa Miuller. Als Fremdenführerin zeigt sie insbesondere deutschen Touristen die Hafenstadt und ist im Deutschen Verein in Memel aktiv. »Deutsche schmunzeln darüber, wenn sie das hören, aber für die heutigen Bewohner Klaipėdas heißt es: Memel – das muss was Gutes sein.« Diese Sicht der Dinge sei neu, sagt Arūnas Baublys, deutscher Honorarkonsul und Dozent an der Universität Memel. »Der Name Memel durfte in der sowjetischen Zeit nicht verwendet werden.« Das deutsche Erbe wurde lange tabuisiert. Heute dagegen ist es eine Werbe-Ikone.

Zurück zur Radtour. Kurz vor Pogegen/Pagėgiai führt die Route wenige hundert Meter auf der Europastraße 77. Verpasst man die Abzweigung nach Memel, geht es geradeaus nach Königsberg. 134 Kilometer sind es von hier aus nach Karaliaučius/Kaliningrad, wie es auf dem Ortsschild steht. An der Abzweigung erinnert ein Denkmal an die »1944–1947 umgebrachten und verhungerten Einwohner Ostpreußens« sowie ein Holzkreuz an die sogenannten Wolfskinder, die als Waisen durch das Litauen der Nachkriegszeit irrten. Weiter westwärts – hier fließt die Memel südlich der Radstrecke bereits in ein Delta – muss man sich kurz vor Heydekrug/Šilutė entscheiden. Links nach Heydekrug reinfahren, was immer einen Besuch wert ist, oder doch weiter auf der Umgehungsstraße? Es sind noch gut fünfzig Kilometer bis zum Ziel Memel.

KK 1431 08 13 Nowak Entlang der Memel Memel 1200x800 © Markus NowakEgal von welchem der beiden Wege aus, das Abbiegen zum Gut Matzicken/Macikai zwingt sich geradezu auf. Hier wurde 1857 ein weiterer bekannter memelländischer Schriftsteller geboren: Hermann Sudermann. Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt er neben Gerhart Hauptmann als führender Dramatiker des deutschen Naturalismus. Mit den Litauischen Geschichten und darin der Reise nach Tilsit setzte er dem Memelland ein literarisches Denkmal. Ein Sudermann-Ehrenmal steht auch in Heydekrug, in Matzicken erinnert eine Tafel am Geburtshaus und eine in die Bushaltestelle integrierte Ausstellung an den Autor.

Die letzten Kilometer vor Memel führen entlang einer vierspurigen Straße, Autos brettern vorbei. Hinter dem Ortsschild Klaipėda ziehen sich noch gut sechs Kilometer lang die Satellitensiedlungen aus sowjetischer Zeit, ehe das Kopfsteinpflaster der Altstadt erreicht wird. Wenige Pedaltritte weiter steht der Simon-Dach-Brunnen mit dem Ännchen von Tharau. Der Schlusspunkt der Route ist nach rund 358 Kilometern erreicht!

Je nach Wetter kann der erschöpfte Radler nun ein Bad in der Ostsee genießen oder doch lieber erst ein Bier. Švyturys (Leuchtturm) nennt sich die aus der 1784 gegründeten Brauerei Reincke hervorgegangene heutige Brauerei. Ihr Bier soll laut Werbung »Dankbarkeit dem Memelland und seinen Menschen ausdrücken«. Welch anderer Name könnte besser passen als »Memelbräu«? Į sveikatą!, Litauisch für Prost!

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1431: Juli/August 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1431 | September/Oktober 2022

mit dem Schwerpunktthema:
Stadt. Land. Fluss. Memel(Land)