Im August dieses Jahres jährt sich zum 80. Mal die Verschleppung der Russlanddeutschen durch Stalin in die Weiten der Sowjetunion. Der größte Teil ihrer Nachfahren befindet sich mittlerweile in Deutschland. Doch auch dieser »Transfer« war nicht immer ganz einfach, wie die zweite Generation der Russlanddeutschen weiß. Auf Spurensuche nach der eigenen Identität nutzen sie künstlerische und journalistische Wege, um sich auszudrücken und politisch aktiv zu werden. Von Larissa Mass
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Die »Buranowskije Babuschki« (deutsch Großmütter aus Buranowo) sind eine russische Gesangsgruppe, die seit 40 Jahren besteht und beim Eurovision Song Contest 2012 in Baku den zweiten Platz belegte. Im gleichen Jahr traten sie bei in der ARD-Sendung »Helene-Fischer-Show« im Velodrom in Berlin auf. Foto: © IMAGO / Christian Schroedter

Jelena Petrowna, geboren in Sibirien und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, könnte ein Lied von ihrer russlanddeutschen Identität singen. Stattdessen wurde sie unter ihrem Künstlernamen Helene Fischer berühmt und ist mit rund sechzehn Millionen verkauften Tonträgern eine der kommerziell erfolgreichsten Entertainerinnen Deutschlands.

Obwohl Fischer ihre Familiengeschichte nur selten anklingen lässt, wurde sie tonangebend für eine neue Generation junger Künstler, die sich ihrer russlanddeutschen Sozialisierung bewusst werden.

Beispielsweise der 21-jährige Pop-Musiker Mike Singer, der in Offenburg als Sohn russlanddeutscher Eltern aus Kasachstan aufwuchs. In jungen Jahren wurde er durch die Castingshow »The Voice Kids« bekannt. Im Jahr 2020 folgte dann die Teilnahme am »Free ESC«, einem deutschen Musikwettbewerb ähnlich dem originalen Eurovision Song Contest. Als Singer für Kasachstan antrat, brachte er damit nicht nur die Medien, sondern vor allem auch seine Fans zum Staunen.

Mit ihrem russlanddeutschen Hintergrund punktete auch Stefanie Giesinger – »Germany’s Next Topmodel« des Jahres 2014. Geboren wurde sie zwar in Kaiserslautern, ihre Eltern aber wanderten 1995 aus Sibirien nach Deutschland ein. Ihre russischen Wurzeln kommen nicht nur auf ihrem Instagram-Kanal mit fast vier Millionen Abonnenten gut an, sondern auch in Drogeriemarktketten, über die sie ihre eigene Gesichtspflege-Serie mit dem Namen »MOЙ« vermarktet.

Beide, Singer und Giesinger, verkörpern eine Geschichte, in der sich immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene heute wiederfinden: In Deutschland mit deutschen Nachnamen geboren und ohne Akzent aufgewachsen, werden sie als »Bundesdeutsche« wahrgenommen. Als Kinder von Spätaussiedlern werden sie nicht mehr von offiziellen Statistiken des Bundesverwaltungsamts erfasst. Und doch ist es ihnen wichtig, ihre Wurzeln zum Thema zu machen.

Dieser Findungsprozess beginnt wie bei allen Familien am heimischen Küchentisch. Doch Aufwachsen in einem russlanddeutschen Haushalt bedeutet mehr als nur Buchweizen statt Bratwurst. Ob ein altdeutscher Dialekt der Großeltern oder ein Mischmasch aus Russisch und Hochdeutsch – zuhause wird die eigene Identität lebendig. Denn oftmals bringt die Familie durch Großeltern oder sogar Urgroßeltern sowohl Einflüsse aus den ehemaligen Sowjetstaaten als auch aus den ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten mit. Sprache, Kulinarik, Erinnerungen verbinden und prägen die Nachfahren, doch anderswo sitzen sie immer noch zwischen den Stühlen. Die »doppelte Fremdheit« wird dieses Gefühl genannt, doch die trifft längst auf dankbare Ohren.

Identität und Familiengeschichte in Audio­formaten verpackt

»Er legte eine Liste vor mich auf den Tisch. ›Such dir schnell einen aus‹, sagte der Beamte. Ich verstand nicht, was er von mir wollte, schaute mir die Liste dann genauer an. ›Iris, Irene, Ivonne‹ stand da drauf und weitere Namen, die sehr deutsch klangen und alle mit dem Buchstaben ›I‹ begannen«, erzählt Irina Peter in einem ihrer Social-Media-Posts zu dem Podcast Steppenkinder über ihre eigene Einwanderungserfahrung. Peter, Marketing-Managerin und Kulturschaffende, thematisiert ihre Familiengeschichte in den sozialen Medien. Sie möchte einerseits auf die Geschichte der Russlanddeutschen aufmerksam machen, andererseits auch andere Aussiedler dazu motivieren, sich mit der eigenen (Re-)Migration und den Erfahrungen ihrer Großeltern und Urgroßeltern auseinanderzusetzen, sagt sie.

Zusammen mit Edwin Warkentin, Kulturreferent der Russlanddeutschen, hat sie die Podcast-Reihe Steppenkinder – der Aussiedlerpodcast entwickelt. Im November 2020 veröffentlichten sie ihre erste Folge, seitdem erscheinen alle drei Wochen neue Folgen mit Gesprächen rund um Geschichte, Kultur und Mentalität.

Auch andere Podcast-Formate sorgen für einen jungen, frischen Blick auf die Subkultur der Russlanddeutschen und ihren Umgang mit der eigenen Identität. Seit Beginn 2020 gibt es den Podcast »ХЗ« der drei Berlinerinnen Julia Boxler, Ani Menua und Helena Melikov. In ihrer Sendung sprechen die drei Frauen über ihre sowjetische und postsowjetische Kindheit der achtziger und neunziger Jahre zwischen Kasachstan, Armenien, Russland und Deutschland. Dabei thematisieren sie ihr »Identitäts-Chaos«, wie sie es nennen. Besonders die vielfältige Gästeauswahl trägt zu ungewöhnlichen Perspektiven im Diskurs bei. Ihr Schwerpunkt liegt auf einer Übersicht über die gesamte post-sowjetische Migration. Mehrere Folgen handeln beispielsweise von sogenannten »Kontingentflüchtlingen«, also jüdischen Migranten aus den postsowjetischen Ländern. Die Macherinnen sagen, dass sie den postmigrantischen Diskurs in die Mitte der Gesellschaft bringen möchten.

Veröffentlichungen erreichen auch die Gesamtgesellschaft

Nicht nur in den digitalen, auch in den gedruckten Medien veröffentlichen immer häufiger junge russlanddeutsche Journalisten ihre persönliche Geschichte. Wie beispielsweise Juri Wasenmüller in einer regelmäßigen Kolumne im Missy Magazin. Dort wird etwa der Zwiespalt beschrieben, den die Corona-Soforthilfe auslöst. Wasenmüllers Familie hatte noch nie staatliche Unterstützungsleistungen beantragt, seit sie in den Neunzigern aus der Sowjet­union nach Deutschland kam. Der 26-Jährige Artur Weigandt veröffentlichte im vergangenen August in der Zeitung Die Welt den Artikel Das Dorf am Ende der Welt, aus dem ich komme. Er beschreibt einen Roadtrip, den er und seine Familie jedes Jahr fünf Tage lang mit dem Auto bis nach Kasachstan machen, um die Großeltern zu besuchen. Dabei fahren sie auch an der Wolga entlang, dem ehemaligen Siedlungsgebiet seiner Vorfahren.

Die Aussiedlerthematik sorgt auch in der Literatur- und Kunstszene für frischen Wind. Lange galten die Autorin Eleonora Hummel mit ihren Romanen und der Fotograf Eugen Litwinow mit dem Projekt »Mein Name ist Eugen« als zwei der wenigen Persönlichkeiten, die es schafften, Buchformate zur Aufarbeitung des eigenen (Re-)Migrationsprozesses auf den Markt zu bringen, die auch außerhalb der russlanddeutschen »Blase« Aufmerksamkeit erhielten. Mittlerweile haben sie Gesellschaft bekommen: Der Journalist Viktor Funk brachte 2017 seinen Debütroman Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich heraus, die Coming-of-Age-Geschichte eines jungen Mannes, der im Kindesalter von Kasachstan nach Niedersachsen zog.

Der Kleinverlag »Ostbooks« fördert diese junge russlanddeutsche Literaturszene ganz gezielt. Katharina Martin-Virolainen beschreibt in ihrem Roman Die Stille bei Neu-Landau den Generationenkonflikt einer russlanddeutschen Familie: Die fast dreißigjährige Julia, die immer bemüht war, so »deutsch« wie möglich zu werden, reibt sich an ihren Großeltern, die ihr erlebtes Kriegsschicksal mit Deportation und Arbeitslager verschweigen. Doch in Gesprächen kommen sich die Generationen näher und geben dem Leser einen Einblick in die Siedlergeschichte der Russlanddeutschen, in Kriegsschicksale und in die Schwierigkeiten, in Deutschland »anzukommen«.

Engagement für offene Denkweisen

In den letzten Jahren, vor allem seit den Bundestagswahlen 2017, werden Aussiedler aus den ehemaligen Sowjetstaaten in den deutschen Medien vermehrt als kollektiv rechts und AfD-nah wahrgenommen. Als Gegenreaktion haben sich politische Initiativen gebildet, wie das Webportal o[s]tklick.

O[s]tklick möchte vor allem zeigen, dass die russlanddeutsche Community in Deutschland vielfältig ist. »Zusammen stellen wir uns der Instrumentalisierung durch rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppen und Parteien entgegen«, kündigen sie auf ihren Plattformen an. In Workshops werden Argumentationshilfen gegen Rechts gegeben.

In einem Artikel auf der Webseite von o[s]tklick erklärt der Historiker und Migrationsforscher Jannis Panagiotidis den Hintergrund: Einige russlanddeutsche Spätaussiedler protestierten 2016 gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung. Auslöser dafür war die erfundene Vergewaltigungsgeschichte einer jungen Russlanddeutschen, der sogenannte »Fall Lisa«. Das sorgte für großes mediales Interesse und brachte den Russlanddeutschen den Ruf ein, vermehrt für rechtspopulistische und -extreme Parteien zu stimmen und sich deren Ideen zuzuwenden. Doch Panagiotidis klärt auf, dass nur 15 bis 20Prozent der Russlanddeutschen die AfD wählen würden, das sei keine enorme Steigerung zum Wahlverhalten der Gesamtbevölkerung, die bei 12,5Prozent liege. Auffällig sei auch, dass 40Prozent der Russlanddeutschen eher links der Mitte wählen würden.

O[s]tklick startete 2021 seine Webpräsenz. In dem Projektteam haben mehrere Personen russlanddeutsche Vorfahren, aber dabei alle ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, erklärt Illiana Kiefer, Leiterin der Initiative. Träger des Projekts ist das Zentrum Liberale Moderne, ein gemeinnütziges Start-up-Unternehmen auf dem Feld politischer Bildung und internationaler Zusammenarbeit in Berlin.

»Die Russlanddeutschen müssen sich stärker mit ihren Herkunftsländern auseinandersetzen«

Klaus Harer, Referent für Osteuropa am Deutschen Kulturforum östliches Europa, beobachtet die Entwicklung der letzten Jahre mit großem Interesse. Er bestätigt, dass es bis vor zehn Jahren noch kaum derartige innovative Projekte von jungen Russlanddeutschen gab. »Die neue Generation macht das sehr professionell«, kommentiert er. Verglichen mit anderen Aussiedlergruppen seien die Russlanddeutschen am aktivsten, konstatiert Harer. Viele kreative Anträge, die beispielsweise bei der Ausschreibung »Vielstimmige Erinnerung« eingehen, stammen von Russlanddeutschen. Die regelmäßige Ausschreibung zielt auf Projekte, die sich mit der Kultur und Geschichte der Regionen des östlichen Europa befassen, in denen Deutsche zum Teil bis heute leben.

Harer vermutet, dass die Gruppe der Russlanddeutschen einen stärkeren Drang habe, ihre Identität zu hinterfragen: »Vermutlich wegen eines bestehenden Konflikts mit den Herkunftsländern«. Denn die Herkunftsländer der Russlanddeutschen stehen immer wieder im medialen Fokus – und oft werden sie sehr kritisch gesehen. Seit 2014, dem Jahr der Maidan-Proteste und der Krim-Annexion, wird in Deutschland zunehmend die Ukraine und die Selbstfindung des Landes zwischen Europa und Russland wahrgenommen – und Russlands Rolle hinterfragt. Das gibt manchen Russlanddeutschen das Gefühl, sich positionieren zu müssen. Die Aussiedler aus Oberschlesien oder anderen Regionen im heutigen Polen haben im Vergleich weniger Konfliktpotential zum Nachbarland – daher sind viele von ihnen schon länger »angekommen«. Auch bei den Deutschen aus Rumänien sieht Harer keine neue Jugendbewegung aufkommen.

Die Hosts des Podcasts Steppenkinder stellen ebenfalls fest, dass junge Russlanddeutsche noch bis vor wenigen Jahren kaum in der Öffentlichkeit sichtbar waren. Co-Autorin Irina Peter sagt: »Die meisten haben sich sehr gut integriert, um nicht zu sagen assimiliert. Sie wollten nicht auffallen. Viele haben sich auch für ihre Herkunft geschämt und tun es teilweise noch heute. Deshalb waren ihre Geschichten auch nur selten in der Öffentlichkeit zu hören.« Ihre Eltern seien selbst zu sehr mit der Integration beschäftigt, um ihren Kindern bei dieser zu helfen. Außerdem hätten sie von der Generation zuvor, die in der Sowjetunion die Deportation und den Gulag erlebt habe, gelernt, zu schweigen und nicht aufzufallen.

Umso auffälliger ist das neue Selbstbewusstsein der jungen Russlanddeutschen, die nun eine Stimme für sensible Themen ihrer Familiengeschichten finden: Deportation, Arbeitslager und Repressionen in der Sowjetunion sind mit Abstand besser zu verarbeiten. Deshalb können heute gerade die jüngeren »Mitgebrachten« die familiären Traumata, Migrationsprobleme und den Konflikt zu ihren Geburtsländern besser benennen – Themen, die ihre Eltern nicht ansprechen wollten und konnten. Und mit ihren vielfältigen Projekten zeigen sie sowohl den Russlanddeutschen als auch der Gesamtgesellschaft, was in ihnen steckt.