»Wie schreibt man über eine Stadt, in der man noch nie war und in die man (erstmal) nicht fahren kann? Wikipedia durchsuchen? Bücher lesen?«
So beginnt der erste Blogeintrag von Alexandra Stahl, der Stadtschreiberin 2020 von Rijeka. Die in Berlin lebende Journalistin und Autorin konnte ihren Aufenthalt in Rijeka aufgrund der Corona-Pandemie erst Ende Juni antreten. Ihr Stadtschreiber-Blog findet sich unter stadtschreiberin-rijeka.de
»Viel Spaß in Rumänien!«, schreibt mein Onkel im Scherz, als ich nach Rijeka aufbreche, und damit ist leider ziemlich viel gesagt. Es klingt wie: »Osteuropa?!« Freunde wiederum sehen mich unsicher an, als ich erzähle, dass ich bald ein halbes Jahr in Rijeka verbringen werde. »Äh, wo?« Und mein Vater macht einfach Rejika draus. Auch ich habe erst 2018 festgestellt, dass Rijeka existiert. Damals war ich in Triest und sah auf der Landkarte nach, welche Orte eigentlich so drum herum liegen. Rijeka also.
Als ich Mitte Juni 2020 in der Stadt ankomme, weiß ich viel über sie, aber sie nichts über mich. Eine Stadtschreiberin? Aus Berlin? Die Möwen gehen unbeeindruckt ihrem Tagesgeschäft nach, Essen stehlen und Tauben quälen, die Menschen auch – Kaffee trinken und rauchen. Vielleicht fällt mir das zuerst auf: Dass alle rauchen. Die Übersetzerin meines Blogs hat schon mit zwölf angefangen. Sie kommt nicht aus Rijeka. Das Rauchen scheint also irgendwie zu Kroatien zu gehören, aber gehört Rijeka auch zu Kroatien?
Immer wieder höre ich, die Stadt sei anders, liberaler, linker, irgendwie unkroatisch. Faktisch ist sie seit den neunziger Jahren Teil des Landes, als Kroatien sich für unabhängig erklärte. Davor war die Stadt mehr als vier Jahrzehnte Teil Jugoslawiens, davor, zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1943 Teil Italiens, dann von den Nationalsozialisten besetzt, und davor wiederum Teil des Habsburgerreichs, vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs nämlich. Nicht nur die Staatszugehörigkeit wechselte die Stadt mehrmals – manche Haushalte sollen mehrere Flaggen auf Vorrat gehabt und die passende aus dem Fenster gehängt haben, je nachdem, wer gerade das Sagen hatte. Auch der Name Rijekas änderte sich im Lauf der Jahrhunderte. Neben Fiume (italienisch) oder Szentvit (ehem. ungarisch) ist auch ein deutscher darunter: St. Veit am Pflaum. Eine nennenswerte deutschsprachige Minderheit gibt es heute zwar nicht mehr in der Stadt, aber viele Einwohner verstehen die Sprache. Deutsch wird auch an drei Schulen und an der Universität unterrichtet.
Klar ist: Geschichte liegt hier auf der Straße. Klar wird aber auch: Man sieht sie nicht unbedingt, wenn man sie nicht kennt. Das Fledermaussymbol in dieser einen schmalen Gasse? Hätte ich für eine Batman-Hommage gehalten, hätte ich nicht gelesen, dass sich Rijekas Autonome im 19. Jahrhundert gegen die ungarische Verwaltung auflehnten und wegen ihrer nächtlichen Treffen Fledermäuse genannt wurden.
Geschichte liegt auf der Straße
Es gibt so viel Skurriles in der Stadt, aber kaum Hinweistafeln. Und zu wenig auf Englisch. Im Nationaltheater lief den ganzen Juli über keine einzige Vorführung mit englischen Übertiteln. Und eine Ausstellung im Museum für Moderne und Zeitgenössische Kunst über die neunziger Jahre in Rijeka und die Auswirkungen der Jugoslawienkriege bietet auf der Museums-Homepage ein paar Zeilen auf Englisch, in der Ausstellung aber nichts.
Moment, ist Rijeka nicht gerade Europäische Kulturhauptstadt? Die Bewohner winken ab oder lachen, wenn ich sie darauf anspreche. Für viele scheint die Sache gelaufen, seitdem das Corona-Virus im Frühjahr dafür gesorgt hat, dass zwei Drittel des geplanten Programmes gestrichen werden mussten und ähnlich viele Mitarbeiter des 2020-Teams ihre Jobs verloren.
Was diesen Sommer vom Kulturhauptstadtjahr übrig ist, sehe ich mir natürlich an, etwa eine futuristisch-gruselige Roboter-Installation oder die Tanzperformance Yugo-Yoga. Öfter aber recherchiere ich eigene Themen. Suche die Rettungsweste, die vom Untergang der Titanic 1912 stammt – das Schiff Carpathia, das damals von New York nach Fiume unterwegs war, rettete Titanic-Fahrgäste. Suche Titos Kakadu Koki auf Brijuni – die Insel vor Istrien war einst im Privatbesitz des ehemaligen jugoslawischen Staatschefs und ist heute Touristenziel, auch wegen Koki, der immer noch dort lebt. Suche auch nach italienischen Spuren in Rijeka und lande in den Redaktionsräumen der Zeitung La Voce del Popolo (»Die Stimme des Volkes«).
Auch die Geschichten liegen hier auf der Straße, man muss sie nur aufheben. Die Leute, die ich interviewe, nehmen sich Zeit, und die, die ich gar nicht interviewen wollte, erzählen drauf los. Die Menschen wirken offen, sie haben Humor, niemand hier scheint sich selbst zu ernst zu nehmen. So wird auch mein Leben eine Spur langsamer.
Liegt es an den alten Güterzügen, die im Schritttempo mitten durch die Stadt rollen, so dass ich minutenlang warten muss, bis ich die Straße überqueren kann? An den erratischen Busfahrplänen, die nicht mal die Einheimischen verstehen? Am Bora-Wind, der an meinen Fenstern und Gedanken rüttelt? Daran, dass eigentlich keiner auf meine E-Mails antwortet und wenn, erst hundert Jahre später? Oder an den aberwitzigen Zugverbindungen – wahlweise sieben oder zwölf Stunden Fahrzeit mit dreimal Umsteigen ins gerade mal siebzig Kilometer entfernte Triest? Auf die Züge angesprochen, reagieren die Leute so wie auf das Europäische Kulturhauptstadtjahr: Sie winken ab und lachen. Nicht nur der zweiköpfige Adler auf dem Stadtturm stammt aus der österreichisch-ungarischen Zeit, sondern auch ein Großteil der Infrastruktur. Seitdem hat sich nicht viel getan. Auf den Schienen zumindest. Die Stadt aber hat mehrere Transformationen durchgemacht: Von der Monarchie in den Faschismus, in den Kommunismus, in die Demokratie. Wobei manche in Rijeka viel zu nationalistisch finden, was da heute aus Zagreb kommt. Und fehlt da nicht noch was?
Hier hat alles mit dem Krieg zu tun
Diese eine Sache jedenfalls ist unsichtbar. Man riecht sie nicht in der salzigen Luft an der Adria. Man sieht sie nicht über den Köpfen der Marktverkäufer, die ihren Fisch durchschütteln, und man hört sie nicht, wenn in der lauen Abendluft auf dem Theatervorplatz die Gläser vor den Bars klirren und der Straßenmusiker Suzanne Vega singt, »My name is Luka, I live on the second floor, yes I think you’ve seen me before …«
Nein, diese Sache ist unsichtbar. Und trotzdem allgegenwärtig: der Krieg in den Neunzigern, der historisch betrachtet im Grunde erst vorgestern war. Deswegen ist er auch noch sehr präsent in den Köpfen.
Da ist der Mietwagenhändler, der erklärt, ich müsse keine Angst haben, dass der Wagen gestohlen werde, Autos stehlen würden nur die Serben und die Bosnier, nicht die Kroaten. Da ist der Kellner, der erzählt, er habe Glück gehabt und damals nicht kämpfen müssen. Da ist der Historiker, der glaubt, sein Onkel habe ein Kriegstrauma. Da ist der Künstler, der mit seiner Familie aus Bosnien geflohen ist. Und da ist die Serie Novine, die in Rijeka spielt, und in der ein Dialog so lautet: »Hat das mit dem Krieg zu tun? – Alles hier hat mit dem Krieg zu tun.« Dabei gab es in Rijeka keine direkten Kämpfe. Aber das, was in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawien geschah, ist auch hier zu spüren, allein weil viele Menschen hierher flüchteten. Anfang August erinnerte ein Nationalfeiertag an die Operation Oluja 1995, eine Großoffensive Kroatiens gegen die von Serbien ausgerufene Republik Serbische Krajina auf dem Gebiet Kroatiens, in dem Serben seit der Zeit der österreichischen Militärgrenze die Mehrheit bildeten. Mit der Militäraktion endete der seit 1991 dauernde Kroatienkrieg. Tafeln vor dem Rathaus in Rijeka beschreiben die Ereignisse, auch auf Englisch – und sie bebildern sie mit kroatischen Opfern. »Steht da auch was von serbischen Opfern geschrieben?«, fragt mich später eine kroatische Freundin, aber ich erinnere mich nicht, davon gelesen zu haben. Sie winkt resigniert ab.
Wie schwer eine gemeinsame Erinnerung über Ländergrenzen hinweg ist, kann man sich vorstellen, wenn man sich klarmacht, dass das frühere Jugoslawien nicht in einem Krieg, sondern in einer ganzen Serie teilweise brutalster Bürgerkriege zerfiel, aus denen bis heute folgende Staaten hervorgingen: Kroatien, Slowenien, Serbien, Nordmazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Kosovo.
Jedes Land erinnert sich anders, die Wunden sitzen tief. Wer nach einer objektiven Gesamtdarstellung sucht, dem empfehle ich Die Geschichte Jugoslawiens der Historikerin Marie-Janine Calic. Und wer sich dem Ganzen literarisch nähern will, liest den Kriegsroman E. E. G. von Daša Drndić. Bei der kroatischen Schriftstellerin geht es nämlich auch um Rijeka und um Kroatien und am Ende irgendwie um alles.