Im sozialistischen Rumänien war die Donau einer der Wege, um in den Westen, in die Freiheit zu fliehen. Unter Diktator Nicolae Ceaușescu gerieten schon diejenigen ins Visier des Geheimdiensts Securitate, die sich auch nur kritisch äußerten. Sie wurden drangsaliert und verfolgt.
Bei den Deutschen, die unweit der westlichen Staatsgrenze lebten, verbreitete sich in den siebziger und achtziger Jahren eine eigentümliche Stimmung, die die Banater Autorin Herta Müller so beschreibt: »Alle lebten von Fluchtgedanken. Sie wollten durch die Donau schwimmen, bis das Wasser Ausland wird.«
Jenseits der Donau lag das liberalere Nachbarland Jugoslawien. Obwohl die rumänische Grenze hier scharf bewacht wurde und der Schießbefehl galt, versuchten Tausende Menschen, heimlich den Fluss zu überqueren. Wie viele dabei umkamen, ist unbekannt. Die meisten Toten spülte die Donau ans jugoslawische Ufer. Sie wurden auf den dortigen Friedhöfen bestattet – meist als Unbekannte und ohne das Wissen der Angehörigen.
»Aufpassen auf das Boot!«
Zu den Menschen, die ihr Leben riskierten, um im Westen neu anzufangen, gehören Hermine und Jakob Breitenbach. Sie flüchteten am 2. Dezember 1981 über die Donau. Ihre Kinder Christian (7) und Heike (5) blieben bei den Großeltern im Banat zurück. Erst ein Jahr später durften die beiden zu ihren Eltern in die Bundesrepublik ausreisen.
Hermine und Jakob Breitenbach, beide Jahrgang 1950, sind Banater Schwaben. Sie stammen aus den Dörfern Guttenbrunn/Zăbrani und Billed/Biled. Nach ihrem Mathematikstudium arbeiteten sie bis zu ihrer Flucht in der Großstadt Temeswar/Timișoara. Dort lebte die Familie in vergleichsweise gesicherten Verhältnissen im zehnten Stock eines neu gebauten Wohnblocks. Dennoch stand für beide Eltern fest: Ihre Kinder sollten einmal in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen. Doch ihre Ausreiseanträge wurden abgelehnt, die Breitenbachs wurden aus der Partei ausgeschlossen und durften keine Dienstreisen ins sozialistische Ausland mehr machen. So reifte ihr Entschluss, die Auswanderung selbst in die Hand zu nehmen.
Breitenbachs bereiteten ihre Flucht von langer Hand vor. Von Bekannten hörten sie, es gebe einen serbischen Fassbinder, der schon mehrfach erfolgreich Flüchtlingen über die Donau geholfen habe. Dieser Mann wohnte in Possessena/Pojejena, einem Ort direkt am Flussufer im abgeriegelten Grenzgebiet. Hier, nahe dem Eisernen Tor, zwängt sich die Donau durch die Karpaten und ist weniger breit als anderswo. Der Fluchthelfer versprach Breitenbachs, sie ans rumänische Donauufer zu bringen, ohne dass sie von Grenzsoldaten entdeckt würden. Wann genau, das stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest. Nicht im Sommer, denn dann herrschte reger Schiffsverkehr und damit erhöhte sich das Risiko, entdeckt oder überfahren zu werden.
Ohnehin musste sich die Familie erst einmal ein Boot beschaffen. Das war in Rumänien zu dieser Zeit nahezu unmöglich – erst recht, wenn man keinen Verdacht erregen wollte. Den Breitenbachs gelang es dennoch. Im Sommerurlaub am Schwarzen Meer kauften sie deutschen Touristen deren Schlauchboot ab.
Hermine und Jakob Breitenbach wussten, wie stark die Strömung der Donau am Eisernen Tor ist. Sie mussten unbedingt Paddeln trainieren. Aber wie, ohne dass jemand Verdacht schöpfte? Vor allem die Kinder sollten nichts vom Fluchtplan ihrer Eltern mitbekommen. Deshalb wurden die Trainingsstunden als Wochenendausflug getarnt. Im Spätsommer 1981 verbrachte die Familie ihre freie Zeit am Fluss Marosch/Mureș, »immer in der Angst, dem Boot könnte etwas passieren«, erinnert sich Jakob Breitenbach noch heute.
Die Familie Breitenbach übt Paddeln und bereitet sich damit auf die Flucht auf der Donau vor, Sommer 1981. © Donauschwäbisches Zentralmuseum
Die Flucht
Im Herbst übernahm der Fluchthelfer die Regie. Das Boot holte er frühzeitig nach Possessena, unauffällig in einem Koffer versteckt. Hermine Breitenbachs in Deutschland lebender Bruder kam mit dem Auto nach Jugoslawien. Seine Rolle bestand darin, Schwester und Schwager nach der Überquerung der Donau noch in der Nacht aufzulesen und direkt zur Deutschen Botschaft in Belgrad zu bringen, damit sie nicht vorher gefasst und inhaftiert werden konnten.
So kam der alles entscheidende Tag – und mit ihm eine Enttäuschung. Der Fluchthelfer sagte ab: Bei der Flucht einer anderen Gruppe sei es zu Verzögerungen gekommen. Breitenbachs gingen wieder in Wartestellung, während der Bruder nach vergeblichem Warten an der Donau voller Sorge nach Hause zurückfuhr.
Drei Tage später, am 2. Dezember 1981, war es aber soweit. Der Vater fuhr Tochter und Schwiegersohn im Auto zum vereinbarten Treffpunkt, einer Gaststätte. Es schneite. Der Helfer brachte die beiden im Dunkeln zu sich nach Hause. Dort folgten Stunden des Wartens, während derer das Ehepaar mit Brot, Wurst und Wein verpflegt wurde und das Schlauchboot aufpumpte. Um Mitternacht, zur Zeit des Wachwechsels bei den Grenzposten, prüfte der Fluchthelfer vor der Tür die Lage. Er zeigte Hermine und Jakob Breitenbach den Weg zur Donau und riet ihnen, das Bellen der Hunde zu ignorieren. Die zwei klemmten sich das Boot unter die Arme und rannten. Kaum lag das Schlauchboot im Wasser, paddelten sie los. Am gegenüberliegenden Ufer sahen sie ein Licht, an dem sie sich orientieren konnten. So kamen sie unbemerkt über die Grenze. Ihre ersten Stunden in Jugoslawien verbrachten sie im Nieselregen auf einem Acker. Erst gegen Morgen wagten sie sich in ein Dorf und erreichten einen Bus nach Belgrad. Dort bekamen sie in der deutschen Botschaft Ersatzpässe ausgestellt, nachdem sie nachgewiesen hatten, dass sie Deutsche waren. Dann stiegen sie in einen Zug in die Bundesrepublik.
Donaugeschichten
Die Fluchtgeschichte der Familie Breitenbach können Besucher in der künftigen Dauerausstellung des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm entdecken. Denn das Museumsteam plant derzeit die Aktualisierung und Modernisierung der zwanzig Jahre alten Präsentation. Dabei soll Bewährtes erhalten, aber auch vieles neu hinzugefügt werden. Herzstück des Museums bleibt die Darstellung der donauschwäbischen Geschichte von der Auswanderung im 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die in 13 Räumen erzählt wird.
Gänzlich neu hingegen entsteht eine zusätzliche Ausstellung zur Kulturgeschichte der Donau und des Donauraums. Mit 2 860 Kilometern ist die Donau einer der längsten Flüsse in Europa und der einzige, der von West nach Ost fließt. Zehn Länder liegen am Donaulauf – so viele Länder und Kulturen durchfließt kein anderer Strom. Die Donau war Verbindungsweg zwischen Mittel- und Südosteuropa, zum Beispiel für deutsche Siedler, die im 18. Jahrhundert von Ulm aus donauabwärts eine neue Heimat suchten und im damaligen Ungarn auch fanden. Die Donau war auch Trennlinie, etwa zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie oder wie im Fall der Familie Breitenbach.
Charakteristisch für den Donauraum ist seine kulturelle Vielfalt. Entlang des Stroms lebt eine Vielzahl von Völkern und Volksgruppen, es werden unterschiedliche Sprachen gesprochen und Religionen ausgeübt. Die Makroregion war über Jahrhunderte geprägt von den Großreichen der Osmanen und der Habsburger, die sich lange feindselig gegenüberstanden. In den Donauländern finden sich bis heute materielle und immaterielle Zeugnisse dieser Epoche. Das aus osmanischer Zeit stammende Rudas-Bad in Budapest oder die vom österreichischen Architekten Ferenc Pfaff entworfenen Bahnhöfe von Zagreb oder Temeswar sind Beispiele dafür. Ethnische, religiöse oder kulturelle Grenzen verlaufen im Donauraum meist nicht entlang der politischen Abgrenzungen, was seit jeher nicht nur zu kulturellem Austausch über die Schranken zwischen Staaten hinweg führt, sondern auch Konflikte zur Folge hat.
Auf 550 Quadratmetern wird die Donau künftig im Mittelpunkt stehen, ja sogar optisch in der Ausstellung gegenwärtig sein: Der Fluss schlängelt sich in Gestalt eines blauen Bandes durch die Gewölberäume einer denkmalgeschützten Kaserne aus dem 19. Jahrhundert. Das Ausstellungsbüro »It’s about« aus Berlin entwickelt derzeit das grafische und architektonische Gesamtkonzept. »Wir wollen die Donau, die nur wenige Meter vom Museum zwischen Ulm und Neu-Ulm fließt, in die Ausstellung holen«, erläutert Charlotte Kaiser, Gründerin und Leiterin des Architekturstudios. »Die Besucherinnen und Besucher sollen die Vielfalt der Donau erfahren, indem sie durch das Flussbett gehen und an den Ufern spannende Geschichten entdecken.« Die Themen sind nicht abstrakt, sondern immer konkret an einzelnen Personen oder Ereignissen festgemacht. Die Besucher erwartet eine Entdeckerausstellung, an der sie aktiv teilhaben können. Das Museumsteam folgt dabei dem Prinzip: immer ganz nahe am Fluss bleiben und Geschichten aufspüren, die die Menschen an den Ufern mit der Donau verbinden. 24 Erzählungen verdichten sich so bis zur Eröffnung im Herbst kommenden Jahres zu einem fließenden Mosaik rund um die Menschen entlang der Donau.