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Block, Stift oder direkt in den Computer. Autobiografisches Schreiben bedarf erst einer genauen Sortierung von Gedanken und dem Erlebten. © areebarbar/Adobe

von Larissa Mass

Der Literaturkreis der Deutschen aus Russland verjüngt sich zunehmend. Wie Verfremdung des biografischen Schreibens die Chance bietet, russlanddeutsche Literatur bekannter zu machen, und welches Potential in den Texten steckt, in den Schulunterricht aufgenommen zu werden, wurde in Nürnberg diskutiert.

Auf der einen Seite des Raumes sitzen ältere Mitglieder des Literaturkreises der Deutschen aus Russland, auf der anderen Seite neu dazugekommene junge Frauen zwischen 20 und 35 Jahren, für die solch ein Treffen ein Debüt ist. Alle hören gespannt Eleonora Hummel zu. Die russlanddeutsche Autorin gewährt einen Einblick in ihren Schreibprozess und gibt Tipps für das autobiografische Schreiben. Auch wenn auf den ersten Blick ein starker Generationsunterschied zwischen den Teilnehmenden besteht, vereint sie ein Ziel: zu lernen, wie die eigene Geschichte oder die der Vorfahren aufs Papier gebracht werden kann. Dazu hat das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland ein Autorenseminar in Nürnberg veranstaltet.

Die Gründer des Vereins, Autoren der älteren Generation, hatten teilweise bereits dem Schriftstellerverband der UdSSR angehört und berichten in ihrem Schreiben von ihren Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und den Repressionen in der Sowjetunion. Die zweite Gruppe sind interessierte Nachwuchsschriftsteller, die zum großen Teil in den 1990er Jahren und später nach Deutschland eingereist und hier aufgewachsen sind. Sie haben einen Fokus auf Integration und Ankommen.

Der Literaturverein möchte Autoren aus den postsowjetischen Ländern unterstützen und begleiten – aktuell zählt er über sechzig Mitglieder. Jährlich erscheint ein deutscher und auch ein russischer Almanach.

Artur Rosenstern, der Leiter des Literaturvereins, beobachtet, dass in den letzten Jahren viel Bewegung in den Verein gekommen ist und sich vermehrt auch frische Autorinnen und Autoren bei ihm melden: »Es freut mich besonders, dass so viele junge Menschen gekommen sind, die ihre Geschichte und die ihrer Eltern interessiert, und sie diese auf verschiedene Art und Weise aufarbeiten.«

Eine der jungen Autorinnen ist Julia Kling. Es ist das erste Mal, dass sie auf Gleichgesinnte trifft, mit denen sie generationenübergreifend über ihre russlanddeutsche Identität und ihren eigenen Schreibprozess spricht. Die dreißigjährige Sozialpädagogin ist mit ihrer Familie vor knapp 13 Jahren aus Kasachstan nach Deutschland ausgewandert. Ihre Liebe zur Literatur und dem literarischen Schreiben besteht seit ihrer Kindheit. Durch Freunde wurde sie auf die Tagung im Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland aufmerksam und freut sich, ihr eigenes Schreiben professionalisieren zu können. Bisher hat sie nur privat für sich geschrieben und in Gedichten und Kurzgeschichten Autobiografisches verarbeitet.

»Die größte Herausforderung sind die eigenen Gefühle«, sagt die Jungautorin. »Vor ein paar Jahren habe ich angefangen, mich mit der Geschichte meines Großvaters zu beschäftigen, der im Alter von vier Jahren zusammen mit seiner Familie aus dem Wolgagebiet nach Kasach­stan deportiert wurde. Ich war die erste in der Familie, die sich dem gestellt hat.« Diese Hürden haben andere Themengebiete nicht, sagt Kling. »Wenn man die traumatische Vergangenheit seiner Familie und ihre Auswirkungen erforscht, erlebt man das Leid der Menschen beim Aufschreiben selbst. Das kann sehr belastend sein.«

Wege zur Schullektüre

Wie aus autobiografischem Material oder aus einem Zeitzeugenbericht gute Prosa wird, ist das Hauptthema der Werkstatt. Die Lektorin Carola Jüchert weist darauf hin, dass Schreibende vor allem mit der eigenen Erinnerung vorsichtig sein sollten. Denn Zeitspannen und Räumlichkeiten werden im Rückblick oft falsch eingeschätzt. Anhand von Beim Autorenseminar in Nürnberg tauscht sich die junge und die ältere Generation von Russlanddeutschen über die eigene Geschichte aus. © Larissa Massberühmten, teilweise fiktionalisierten Autobiografien nähert sie sich mit den Teilnehmenden verschiedenen Erzählmethoden.

Zusätzlich führt die erfahrene Autorin Eleonora Hummel aus, wie in ihrer Schreibwerkstatt Szenen entstehen, und berichtet über die Methoden beim Aufbau von Szenen. Hummel hat im Herbst 2019 ihren vierten Roman veröffentlicht, ihre ersten beiden Romane Die Fische von Berlin und Die Venus im Fenster waren autobiografisch inspiriert von ihrer Kindheit in Kasachstan, der Ausreise und der Integration in Deutschland.

Hummel diskutiert mit dem Literaturkreis die besonderen Herausforderungen bei der Verfremdung von autobiografischem Material. Einen Tipp, der ihr in ihrer Schreibentwicklung selbst früh mitgegeben wurde, gibt sie an die Teilnehmenden weiter: Der Name der Hauptfigur darf dem der Autorin nicht zu ähnlich sein. Zu schnell würde der oder die Lesende sie sonst mit der Verfasserin gleichsetzen.

Die russlanddeutsche Literatur wird im Vergleich zu der Literatur der Rumäniendeutschen, die mit Herta Müller eine Literaturnobelpreisträgerin hat, in der deutschen Literaturszene kaum beachtet. Nur wenige haben es geschafft, in anerkannten Verlagen zu publizieren und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bekommen. Eleonora Hummel ist eine davon: Sie veröffentlichte ihre ersten drei Bücher im Steidl-Verlag, und sie gewann mehrere Preise, unter anderem den Förderpreis zum Adelbert-von-Chamisso-Preis. Auf die Nachfrage, warum die russlanddeutsche Literatur so unbeachtet bleibt, denkt sie nicht lange nach: Sie habe aus der Literaturszene als Rückmeldung erhalten, die Themen der Russlanddeutschen seien für Bundesdeutsche »unsexy«.

Ein Potential der russlanddeutschen Literatur sieht Julia Podelo besonders als Schullektüre. Podelo ist Dozentin für Deutsch als Zweitsprache und Doktorandin an der Universität Bayreuth mit Schwerpunkt interkulturelle Literatur. Sie beschäftigt sich mit der Literatur der Russlanddeutschen und möchte sie für den Schulunterricht aufarbeiten.

Podelo sieht allerdings ein weiteres allgemeines Problem und sagt, »der Zugang zur russlanddeutschen Literatur ist sehr schwierig, da die meisten Autoren immer in der geschlossenen Gruppe der Landsmannschaft publizieren«. Sie würde gern an junge Schriftsteller/innen herankommen, »die Texte schreiben, die sich für die Schule eignen«.

Junger Wind, frische Perspektiven

Doch die Lage soll sich ändern, aufgeschlossener, zugänglicher möchte der Literaturverein werden, und das soll mit jungen talentierten Schreibenden geschehen, die sich mit der russlanddeutschen Thematik auseinandersetzen wollen und aktuelle Themen behandeln. »Unser primäres Ziel ist es, bei der jüngeren Generation das Bewusstsein für unsere Kulturgeschichte zu schärfen, damit die Sache weitergetragen wird«, sagt Artur Rosenstern. »Und natürlich wollen wir neue junge Autoren entdecken und sie fördern. Das war schon immer mein wichtigstes Anliegen, vor allem deshalb habe ich das Ehrenamt beim Literaturkreis übernommen.«

Vor allem in russlanddeutscher Literatur und Texten, die nach dem Jahr 2000 geschrieben wurden, sieht Podelo eine gute Entwicklung: Sie brauchen sich nicht zu verstecken hinter beliebten interkulturellen Texten etwa von türkischstämmigen oder rumäniendeutschen Autorinnen und Autoren.

»Ich möchte eigentlich zeigen, dass es keinen Unterschied gibt zwischen diesen und anderen Autoren, die wir lesen. Wir müssen sie auch nicht extra als Eleonora Hummel spricht beim Autorenseminar über das biografische Schreiben. © Larissa Massrusslanddeutsch betiteln, ich möchte eher zeigen, welches allgemeingültige Potential die Texte haben«, sagt Podelo. Denn auch in diesen Texten sind klassische, für die Literaturanalysen wichtige Motive zu finden: Tod, Verlust, Liebe und Identitätsfindung. »Mir ist es wichtig, dass Lehrer sich nicht immer nur an den klassischen Kanons orientieren, die sie selbst damals in der Schule gelesen haben, sondern im Blick haben, dass es auch anderes zur Auswahl gibt, wie beispielsweise die Geschichten der russlanddeutschen Literatur«, findet Podelo.

Sie sieht auch gerade in der Unbekanntheit des Materials eine große Chance für den Schulunterricht: Dadurch, dass es nicht schon mehrfache Interpretationen dazu

gibt, ist es für die Schüler auch möglich, unvoreingenommener an die Themen heranzutreten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. »Der Lehrer kann genauso unbefangen an das Werk gehen wie die Schüler, und das ist genau das, was wir im modernen Literaturunterricht wollen: einen subjektiven Zugang.«

Die Teilnehmerin Julia Kling geht motiviert aus dem Workshop: »Der Kurs hat mir sehr viel Orientierung und Motivation vermittelt. Die beiden Workshop-Leiter haben gezeigt, dass das literarische Schreiben ein Handwerk ist, das man erlernen kann«, sagt sie. »Das macht mir Mut. Durch die Inhalte bekommt mein Schreiben mehr Struktur.«

Sie möchte sich im Literaturkreis engagieren, »weil ich mit Menschen aus meinem Kulturkreis in Kontakt bleiben möchte und mir das historische und literarische Erbe unserer Familien sehr am Herzen liegt.«

Zukünftig soll es im Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland regelmäßig ähnliche Workshops geben, um junge russlanddeutsche Autoren zu fördern. Geplant ist für 2020 auch ein Literaturwettbewerb, der jährliche Almanach wird nun bezuschusst und kann dadurch an Qualität gewinnen.

Artur Rosenstern dagegen ist es wichtig, im Blick zu haben, welche Strategien nötig sind, um die Literatur der Russlanddeutschen sichtbarer zu machen. Die Gewinnung junger Autoren, die auch von aktuellen Phänomenen erzählen, ist ein weiterer Schritt, um voranzukommen.