Wischen zu der Mode deutscher Siedler, reinklicken in Videointerviews mit Zeitzeugen und scrollen durch Memes, also Bilder, die mit kurzen Texten versehen sind und auf sozialen Medien verbreitet werden, zu Identitätsfragen. Geschichtsunterricht einmal anders – sowohl formal wie auch inhaltlich bietet das »mBook« zur russlanddeutschen Kulturgeschichte Neues.
Der Geschichtslehrer Andreas Hütter beobachtet im Unterricht bei seinen Schülern der Oberstufe am August-Hermann-Francke-Gymnasium in Detmold eine sehr hohe Motivation, als sie den Schwerpunkt zur russlanddeutschen Geschichte durchgehen. Grund dafür ist nicht nur das ungewöhnliche Themenfeld, sondern auch das »mBook« zur russlanddeutschen Kulturgeschichte – ein digitales Schulbuch, das mit Tablets durchgearbeitet wird. Das vom Institut für digitales Lernen entwickelte Lehr- und Lernmaterial holt die Jugendlichen dort ab, wo ihre Lebenswirklichkeit heute stattfindet – in der digitalen Vernetzung.
Andreas Hütter ist seit 2002 Lehrer für Geschichte und Deutsch am Gymnasium in Detmold und nutzt das Buch seit der Publikation Anfang 2017. Nach Hütters Schätzung haben 70 bis 80 Prozent der Schüler an dem Gymnasium einen russlanddeutschen Hintergrund. Die Historie der Russlanddeutschen hatte er zuvor im Unterricht nicht thematisiert. Erst das »mBook« hat den Impuls und die richtigen Materialien gegeben, dieses besondere Kapitel der deutsch-russischen Geschichte mit aufzunehmen.
Bisher steht die russlanddeutsche Geschichte auf keinem Lehrplan in Deutschland. Das Medium bietet nun die Möglichkeit, in das Themenfeld von Migration und Integration einzutauchen und es methodisch vielfältig durchzunehmen. Der Anstoß zu einem solchen Projekt ging von den Russlanddeutschen in Nordrhein-Westfalen selbst aus. Sie haben Interesse daran, die Geschichte ihrer Gruppe zu einem Bestandteil der deutschen Geschichtskultur zu machen.
Mehr als 620000 Aussiedler und Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten sind in Nordrhein-Westfalen beheimatet. Es ist das erste Bundesland, das ein Schulbuch speziell für russlanddeutsche Geschichte in Auftrag gegeben hat, gefördert durch das Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales in NRW.
Preiswürdige Lernhilfe
Nicht nur im Unterricht kommt das Buch gut an, sondern auch auf dem Bildungsbuchmarkt. In der Kategorie Non-Fiction hat das »mBook« den eBook Award 2017 gewonnen, der jährlich auf der Frankfurter Buchmesse vergeben wird.
Das »mBook« ist bundesweit das erste und bisher einzige digital-mediale Lehrwerk zum Thema Russlanddeutsche. Der Geschäftsführer des Instituts für digitales Lernen, Johannes Grapentin führt aus, dass die Beschäftigung mit der russlanddeutschen Geschichte für die Mitarbeiter sehr spannend war, da sie normalerweise weiter zurückliegende historische Ereignisse behandeln.
Das Besondere an dem Schulbuch ist der Bezug auch zu aktuellen Ereignissen: Es befasst sich nicht nur mit der Geschichte und der jetzigen Situation der Russlanddeutschen, sondern auch mit dem Verhältnis von Russland und Deutschland in der Vergangenheit und Gegenwart. Der Anspruch, aktuell zu sein, ist bei einem digitalen Lehrwerk auch einfacher umzusetzen als in herkömmlichen Lehrwerken. Beispielsweise sind auch die Krimkrise und ihre Nachwirkungen in eine der Überarbeitungen mit eingeflossen. Die Buchproduktion hat von der ersten Idee bis zur Herausgabe zwei Jahre umfasst.
Das Institut für digitales Lernen sah zunächst auch ein Risiko in dem politischen Thema, erklärt Geschäftsführer Grapentin. Es war sehr wichtig, dass die Russlanddeutschen sich mit dem Ergebnis nicht missverstanden fühlen. Deswegen haben viele russlanddeutsche Partner das Institut von Anfang an in den Entstehungsprozess mit einbezogen.
Das Produktionsteam hat Interviews geführt, ist zu den diversen Vereinen gefahren und hat nach Erfahrungen und Schicksalen gefragt. Das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold stand beratend zur Seite.
Als das Institut das Konzept des »mBook« entwickelte, dachten die großen Verlage noch, dass ein digitales Schulbuch in deutschen Schulen nicht funktionieren würde. Als Begründung führten sie an, dass kaum Internet und technische Ausstattung in den Schulen vorhanden sei. Außerdem sollten Kinder nicht noch zusätzlich in der Schule vor dem Bildschirm sitzen. Erfolgreiche Buchprojekte wie dies zur russlanddeutschen Kulturgeschichte haben die großen Verlage vom Gegenteil überzeugt – das Konzept des »mBook« wurde im Sommer 2017 vom Cornelsen Verlag gekauft und dient nun als Vorlage für eine groß angelegte Produktlinie.
Von Klamotten bis Deportation
Ein Blick in den Aufbau verrät die vielfältige Gestaltung des Buches: Es beginnt mit dem Menschen als Wanderer und seinen Motiven und Gründen, warum er seine Heimat verlässt. In anschaulichen Videos wird die Auswanderung der Deutschen nach Russland mit dem Einladungsmanifest von Katharina der Großen verbunden, sodass jeder es verstehen kann, ohne je zuvor von der Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen gehört zu haben.
In den Kapiteln finden sich Informationstexte, Originalquellen, Bilder, manchmal auch Memes und Verweise zu Instagramseiten, Grafiken und Videos. Auch in Rollenspielen können Schülergruppen sich gemeinsam in den jeweiligen Kontext hineinversetzen: beispielsweise sich in die verschiedenen Charaktere einzelner Familienmitglieder aufteilen und eine Diskussion darüber führen, ob eine Auswanderung in ihrer Situation sinnvoll ist. Dabei werden auch Generationskonflikte deutlich.
Es werden auch fachübergreifende Themenfelder betrachtet: In dem Kapitel »Identitäten und Heimaten« wird ein Blick auf Stereotype, Mode und auch aufs Essen geworfen. Geschichtslehrer Hütter berichtet aus seiner Praxis, dass das Kapitel zur Esskultur bei Schülern besonders gut angekommen sei. Hier konnten sich die Schüler gut einfühlen und austauschen. Ihm ist aber auch aufgefallen, dass die Schüler – auch wenn sie selbst einen russlanddeutschen Hintergrund hatten – bisher kaum mit der historischen Wanderungsgeschichte vertraut waren. Umso wichtiger sei es, die geschichtlichen Informationen zu beleuchten.
Besondere Schwerpunkte sind die Geschehnisse um den Zweiten Weltkrieg: Die große Säuberungsaktion gegen die Deutschen und die Deportation, die Zwangsarbeit in der Trudarmee und der Sondersiedlungsstatus sowie die spätere Rehabilitation. Ein weiterer wichtiger Themenkomplex liegt auf dem Zerbrechen der Sowjetunion und der Ausreisewelle Anfang der 1990er Jahre. Dies wird anschaulich dargelegt mit Quellen wie dem Tagesschau-Beitrag vom 25. Dezember 1991, als das Ende der UdSSR verkündet wurde.
Besonders interessant ist das Kapitel »Botschaft an die zukünftige Generation«, mit dem das »mBook« abschließt. Hier formulieren verschiedene Stimmen der Russlanddeutschen in kurzen Videoclips ihre Wünsche und Hoffnungen an die Leser des Buches. Beispielsweise fordert die Vertreterin des Jugendrings Julia Iwakin dazu auf, immer Fragen an Russlanddeutsche zu stellen, damit mehr Verständnis geschaffen wird.
Vielfältiger Einsatz
Das Schulbuch hat noch weitere Verwendung außerhalb des klassischen Unterrichts gefunden: Edwin Warkentin, Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, berichtet, dass das »mBook« seit Mai 2019 Bestandteil einer Rallye im Museum geworden ist. Schüler scannen auf ihrem Weg QR-Codes und sehen sich parallel zu den Museumsinhalten noch Videos, Statistiken und kurze Informationen und Erfahrungstexte auf einem Tablet an. Im Vordergrund steht dabei, die Geschichte spielend zu begreifen. In diesem Jahr wurde die Museumsrallye »Entdecken und Forschen« entwickelt, die unterschiedlichen Altersgruppen einen digital unterstützten Zugang bietet.
In der Unterrichtspraxis sieht der Geschichtslehrer Andreas Hütter den Einsatz des Buches in Deutschland als sehr sinnvoll an: »Ich sehe vor allem Themen wie Migration, Fremdartigkeit, Integration und Identität – das alles sind wichtige Themen für Heranwachsende.« Man müsse keinen russlanddeutschen Hintergrund haben, um sich für wichtige Themen zu interessieren wie: Was ist Deutsch? Wo fängt Deutschsein an und wo sind wir eine ineinander übergehende Masse? Was ist Heimat?
Der erfahrene Geschichtslehrer empfiehlt das Buch mit der multimedialen Anwendung weiter. Wichtig ist nur eine technische Grundausstattung: Tablets sollten zur Verfügung stehen und auch das Lehrpersonal sollte das Interesse haben, mit moderner Technik umzugehen. Die Schüler haben auf diese Art der Wissensvermittlung auf jeden Fall Lust.