Foto: © Kulturkorrespondenz, Markus Nowak
Was haben Johann Gottfried Herder, Heinz Erhard und Oliver Kahn gemeinsam? Der eine ist einer der einflussreichsten Schriftsteller und Denker deutscher Sprache, der andere unvergessener Komiker und Letzterer eine Torwartlegende. Eine Antwort auf diese Fragen könnten Nutzer einer Smartphone-App geben. »Deutsche Spuren« nennt sich das Programm und ist kostenlos für Mobiltelefone zu haben. In mehreren Ländern und Hauptstädten können sich »Smartphone-User« auf die Suche nach Spuren, Bezügen und Hinterlassenschaften von deutschen Persönlichkeiten oder deutscher Kultur machen – oder wie im Fall von Oliver Kahn: von deutschen Sportlern.
Denn alle drei eingangs genannten Personen haben ihre ganz persönlichen Bezüge zum heutigen Lettland. Während Herder in Riga bekanntlich als Lehrer und evangelischer Prediger tätig war und somit dort seine »Lehrjahre« verbrachte und während der vielseitige Unterhaltungskünstler Erhard in Riga geboren wurde und an der Stadt an der Düna seine ersten Bühnenerfahrungen sammelte, ist die Sache mit Oliver Kahn etwas komplizierter. »Ja, es stimmt. Meine Großmutter ist Lettin und mein Vater wurde dort geboren«, sagte der Welttorhüter vor einem Spiel bei der Europameisterschaft zwischen Deutschland und Lettland 2004. »Ein Viertel-Lette« lautet die Überschrift zum Artikel über Oliver »Titan« Kahn in der App »Deutsche Spuren Lettland«.
Verfasst hat ihn Alexander Welscher. Seit 2006 lebt der deutsche Journalist in Lettlands Hauptstadt Riga und arbeitet für die Deutsche Presse-Agentur als Korrespondent für die drei baltischen Staaten. Als die Idee aufkam, eine App über deutsche Spuren auch in Lettland zu realisieren, war er als Autor mit im Boot. Seit 2016 sind »Deutsche Spuren Lettland« in den sogenannten Appstores für die Mobiltelefon-Betriebssysteme iOS (Apple) und Android verfügbar, implementiert in einen vom Goethe-Institut initiierten interaktiven Reiseführer. »In Riga lag die Sache mit den deutschen Spuren einfach auf der Hand«, sagt Gisela Wahl, stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts in Riga.
Deutsches Erbe präsent in Riga und in ganz Lettland
»Das deutsche Erbe hier ist sehr präsent, man kann praktisch keine Stadtführung durch Riga machen, ohne dass man darüber stolpert«, ergänzt Wahl. Angefangen beim Rigaer Dom, für den der Rigaer Gründungsvater Bischof Albert von Buxthoeven aus Bremen 1211 den Grundstein legen ließ, über das wiederaufgebaute Schwarzhäupterhaus, 1334 als das »Neue Haus der Großen Gilde« vorwiegend für die deutsche Bürgerschaft für Zusammenkünfte errichtet, bis hin zur heutigen lettischen Nationaloper, die im 19. Jahrhundert als »Deutsches Theater« errichtet wurde. »Wir wollen aber nicht nur historische Spuren«, sagt Goethe-Instituts-Mitarbeiterin Wahl. »Ziel der App ist es auch, aktuelle zeitgenössische Bezüge herzustellen.«
Neben Wissenswertem über den »Viertel-Kurländer« Oliver Kahn gibt es Texte etwa über den »sozialistischen Wetteifer im Eiskanal«, also die Bob- und Rodelbahn Segewold/ Sigulda, wo in den 1980er Jahren eine von DDR-Ingenieuren projektierte Bobbahn errichtet wurde, oder eine Bierbrauerei in der Nähe von Wolmar/Valmiera, in der seit mehreren Jahren ein deutscher Braumeister darauf achtet, dass nach dem deutschen Reinheitsgebot von 1516 gebraut wird. »Wir versuchen aus allen Epochen was zu finden«, sagt Wahl. Aber selbstverständlich gebe es auch »Klassiker«, also Artikel zum Schwarzhäupterhaus, Richard Wagner in Riga oder die von Touristen oft fotografierte Skulptur der Stadtmusikanten aus Rigas Partnerstadt Bremen.
Alexander Welscher, der die meisten der bisher fast 40 Spuren verfasst hat, ergänzt, sein Anspruch sei es zudem, über den Tellerrand von Riga zu schauen, obwohl die meisten Lettlandbesucher die Hauptstadt ansteuern und Kurland oder die weiteren Regionen des Landes eher unbekannt seien. »Wenn man in Riga vor die Haustür geht, dann stolpert man an jeder Hausecke über eine deutsche Spur. Aber wir wollten auch in die Provinz gehen und zeigen, dass es in den Regionen auch eine lange deutsche Historie gab«, sagt der Journalist. Fehlen durfte daher auch nicht ein Artikel über Herren- und Gutshäuser der Deutschbalten. »Man muss manchmal abstrahieren«, sagt Alexander Welscher und nahm als Aufhänger für den Text einen Hotelier aus Deutschland, der vor Jahren einen heruntergekommenen Hof kaufte, ihn liebevoll zu einem Hotel restaurierte und eine Art Trend begründete, den Welscher als »Gutsherrentourismus« bezeichnet.
»Man kann schöne Geschichten erzählen«
Denn immer mehr ehemalige Landsitze des deutschbaltischen Adels, die in der Sowjetzeit vernachlässigt wurden und nun oft heruntergekommen sind, werden von Privatinvestoren wiederhergerichtet. Darin können Touristen nicht nur übernachten und essen, sondern – wie im Fall des Gutshofs Kukschen/Kukšu muiža – einen Einblick in die Lebensweise des deutschbaltischen Adels der vergangenen Jahrhunderte erhalten. Eine »zeitgenössische Spur«, wie Welscher sagt, Geschichtliches verbunden mit aktuellen Bezügen. »Man kann schöne Geschichten erzählen.« Fotos und in manchen Fällen auch Ton- und Videoaufnahmen illustrieren die Artikel zu den deutschen Spuren in Lettland und machen sie nach dem einmaligen Herunterladen aus dem Internet auch offline nutzbar.
Foto: © Kulturkorrespondenz, Markus Nowak
Gerade auch hier liegt der Reiz des Programms: dass sich Interessierte auf der ganzen Welt vor einem Besuch im Baltikum informieren und in die wechselvolle deutsch-baltische Geschichte eintauchen können. Zugleich dürfen die Artikel nicht zu lang und die multimedialen Elemente nicht zu ausschweifend und groß sein, da sich der Speicherplatz der App aufbläht. »Die Idee der App ist auch, dass wir Spuren und die Historie zeigen, die für jedermann interessant sind«, sagt Autor Alexander Welscher. »Für Letten, Deutsche, Einheimische und Touristen, junge Leute und Ältere.« Wobei unter den Smartphone-Nutzern eher jüngere Menschen zu finden sind.
Für Gisela Wahl, die auch die Spracharbeit des Rigaer Goethe-Instituts leitet, sei gerade das lettische Publikum wichtig, da das Programm auch für den Spracherwerb von lettischen Schülerinnen und Schülern und praktisch von allen Smartphone-Usern auf der Welt genutzt werden kann. Deutsche Touristen machen häufig eine Stadtführung, wenn sie Interesse an deutschen Spuren und Bezügen in Riga haben. Dagegen gebe es vereinzelt Schulen in Lettland, die mit der App arbeiten. »Gut, dass deutsche Spuren so in den lettischen Unterricht Eingang finden«, resümiert Wahl. Zudem ist das Programm auch in einer lettischen Sprachversion installierbar und bietet auch der nicht Deutsch sprechenden lettischen Bevölkerung einen Zugang zum deutschen Erbe in dem baltischen Land.
Und: Nicht nur für Lettland gibt es die »Deutsche-Spuren-App«, auch in Brasilien, Kanada, Griechenland oder der Ukraine lässt sich nach Bezügen und Hinterlassenschaften von deutschen Persönlichkeiten oder deutscher Kultur suchen. Zusätzlich gibt es die App auch für Städte wie Pressburg/Bratislava oder Stockholm.
Auch dunkle Geschichtskapitel werden beleuchtet
Und weil deutsche Geschichte im Osten Europas nicht nur aus Kulturleistungen bestand, sondern insbesondere im 20. Jahrhundert durch nationalsozialistische Verbrechen tiefe Risse und Wunden im Bewusstsein der lettischen Bevölkerung hinterlassen hat, wird auch dieser Teil nicht ausgeblendet. »Diese Spuren meiden wir nicht«, sagt Alexander Welscher. In dem Programm wird auf die NS-Gedenkstätte Kirchholm/Salaspils hingewiesen, wo sich während der deutschen Besatzung im Sommer 1941 ein »Erweitertes Polizeigefängnis« und ein »Arbeitserziehungslager« befanden. Auch gibt es Artikel zur Gedenkstätte Rumbula, wo Zehntausende Juden ermordet wurden, oder zum Rigaer Ghetto. Die Texte dazu seien in Rücksprache mit lettischen Historikern entstanden. »Das ist Teil der deutschen Vergangenheit, den wir nicht unter den Teppich kehren wollen«, sagt App-Autor Welscher. »Das ist Teil des Bildes.«
Ein »Lebensjob« sei es, deutsche Spuren in Riga und Lettland zu erfassen, glaubt der Journalist Welscher. So viele seien es. Wobei am interessantesten die verschlungenen seien, die ein wenig in Vergessenheit geraten sind. Und er liefert Beispiele wie etwa, dass deutsche Techno-Musik einen gewissen Anteil am Fall des Eisernen Vorhangs hatte. Im Artikel »Westbam und der Sound der Freiheit« geht es darum, wie der deutsche Maximilian Lenz alias DJ Westbam Ende der 1980er Jahre in der damaligen Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik westeuropäische elektronische Musik auflegte und damit einen Hauch von Freiheit mitbrachte. »Unser Besuch war einer von vielen kleinen Tests, wie weit die neue Freiheit ging«, zitiert Journalist Welscher aus Westbams Autobiografie.
Eine weitere, weniger bekannte Spur ist, dass Europas erstes Gipskartonwerk im Baltikum entstanden ist. Der heute so geläufige Name »Rigips« setzt sich zusammen aus Riga und Gips, aber jene Spur hat Alexander Welscher noch nicht zu Papier … oder vielmehr in die App gebracht. »Wir wollen bei den Spuren in die Tiefe gehen und nicht nur an der Oberfläche kratzen«, sagt der Journalist. Daher bedarf es auch aufwändiger Recherchen und eines interessanten Aufhängers. »Dass jemand mit deutschen Wurzeln in einem Haus in Riga wohnte, ist nicht ausreichend«, ergänzt Gisela Wahl. Aber erzählenswerte deutsche Spuren in Riga und Lettland gibt es auch so genügend, sodass die App immer weiter »wächst«.