Wie Corps und Burschenschaften aus Breslau und Königsberg nach 1945 ihre Tradition fortführen
von Peter Pragal
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Das Haus Kurfürstenstraße Nummer 17 in Potsdam fällt im Stadtbild nicht sonderlich auf. Am nördlichen Rand des Holländischen Viertels gelegen, fügt sich der dreigeschossige, denkmalgeschützte rote Ziegelbau harmonisch in die Häuserzeile des historischen Ensembles. Ein blau-weiß-rotes Wappenschild über der Tür und ein Metallschild daneben zeigen an, wer hier zu Hause ist: Das studentische Corps Masovia Königsberg zu Potsdam.

Wappen und Schild am Haus Kurfürstenstraße 17<small>Foto: Peter Pragal</small>

Benedikt Guggenmos, der in Potsdam Bauingenieurwesen studiert und seit dem Wintersemester 2015/16 hier wohnt, führt durchs Haus. Im Erdgeschoss liegen die der Geselligkeit dienenden Räume, kleine und große Kneipe genannt. Im ersten Stock der Paukraum, in dem das Fechttraining stattfindet. Bad, Küche, Bibliothek sowie die Zimmer der Aktiven verteilen sich auf die oberen Etagen. Nicht alle Räume sind belegt. Die Wohngemeinschaft besteht zur Zeit aus vier Corpsbrüdern, drei Burschen und einem Fuchs, wie ein Mitglied auf Probe genannt wird. Die Wände der kleinen Kneipe zieren einige Bilder und Fotografien. »Unsere historischen Gegenstände sind sehr überschaubar«, sagt Guggenmos. Wichtige Unterlagen habe man während des Zweiten Weltkrieges im Keller des Königsberger Universitäts-Archivs gelagert. »Und das ist zerbombt worden.«

Wappen und Porträts im Silesia Corpshaus in Frankfurt (Oder)<small>Foto: Peter Pragal</small>

Ortswechsel. Das Haus 15a in der Gubener Straße in Frankfurt an der Oder wurde um 1830 erbaut und diente dem ersten in Frankfurt amtierenden preußischen Regierungspräsidenten als Sommerresidenz. Späterer Besitzer war die jüdische Kaufmannsfamilie Hirsch. Heute gehört die aufwändig renovierte Villa der Studentenverbindung Silesia Breslau zu Frankfurt (Oder). Anders als im Potsdamer Corpshaus sind die Wände in den Fluren und Sälen des Erdgeschosses reichlich mit Bildern, Landkarten und Fotos aus Breslau und Schlesien bestückt. Zwar war auch das Breslauer Corpshaus der Silesia in den letzten Monaten des Krieges zerstört worden. Aber mit Erinnerungsstücken aus Privatbesitz konnte ein Teil der Verluste ausgeglichen werden.

Student einer katholischen Verbindung in Uniform<small>Museum der Universität Breslau</small>

Gleichwohl haben beide Corps etliche Gemeinsamkeiten. Silesia wurde 1821, Masovia 1830 gegründet, zu einer Zeit, die in Preußen durch Restauration und Freiheitsbeschränkung gekennzeichnet war. Die Stiftungsorte beider Korporationen liegen heute außerhalb Deutschlands, in Polen und in Russland. Beide unterhalten Kontakte zu Stadt und Universität ihrer Gründungsorte. Beide sind in Frankfurt (Oder) und Potsdam die einzige Studentenverbindung am Ort. Und beide haben trotz Zwangs-Suspendierung und Selbstauflösung im Dritten Reich, ruhendem Corps-Betrieb in den ersten Nachkriegsjahren und zeitweiligem Nachwuchsmangel nicht nur organisatorisch überlebt, sondern es auch geschafft, ihre Traditionen zu wahren und in ihren Reihen die Erinnerung an Schlesien und Ostpreußen wachzuhalten.

In der Zeit der Weimarer Republik gab es in Breslau rund 70 Studentenverbindungen unterschiedlicher Ausrichtung, viele mit eigenen Häusern. Neben den vier im Kösener Dachverband vereinten Corps Borussia, Lusatia, Marcomannia und Silesia existierten vier Burschenschaften. Daneben gab es konfessionell gebundene Korporationen sowie Landsmannschaften, Sängerschaften und Turnerschaften. Ähnlich war die Situation in Königsberg, wo zeitweise etwa 50 Korporationen existierten. Die meisten ostdeutschen Verbindungen haben es nicht bis zur Gegenwart geschafft. Sie suspendierten, spalteten sich, gaben durch Fusion ihre Identität auf oder gelten als erloschen.

Unterschiede im Selbstverständnis

Mensur-Szene<small>Museum der Universität Breslau</small>

Von Beginn an gab es bei den Verbindungen Unterschiede im Selbstverständnis. Während sich in den Corps zumeist Studenten gleicher landsmannschaftlicher Herkunft zusammenfanden, dominierte bei den nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon seit 1815 entstandenen Burschenschaften der völkische und vaterländische Gedanke. War bei den Corps das Wirken mehr nach innen, vor allem auf die Pflege der Freundschaft gerichtet, so agierten die Burschenschafter bewusst politisch. Sie fühlten sich als Patrioten, kämpften gegen die Kleinstaaterei, griffen Ideen der Französischen Revolution auf und legten sich mit den adeligen Führungseliten an.

Für die Alte Breslauer Burschenschaft der Raczeks hatte das Konsequenzen. Zwei Jahre nach ihrer Gründung im Jahre 1817 wurden die Raczeks wie auch alle anderen Burschenschaften vom preußischen Staat streng beobachtet, verfolgt und verboten. Anlass war die Ermordung des Schriftstellers und russischen Generalkonsuls August von Kotzebue durch den Burschenschafter Karl Ludwig Sand. Die betroffenen Breslauer Studenten gingen in den Untergrund. Mehr als zwanzig Jahre lang spielte sich ihr Korporationsleben im Verborgenen ab. Zu geheimen Besprechungen trafen sie sich beim Gastwirt Raczek in der Breslauer Klosterstraße. Dessen Name fügte man dem eigenen hinzu.

Breslau: das Universitätsgebäude vom Oder-Ufer aus gesehen<small>Foto: Peter Pragal</small>

Mit Hitlers Machtübernahme und der Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Organisationen gerieten die Breslauer und Königsberger wie alle anderen traditionellen Studentenverbindungen des Deutschen Reiches in ihre größte Krise. Nachdem die Nazis schon im Juni 1933 alle jüdischen Studentenverbindungen aufgelöst und ihre Häuser enteignet hatten, setzte das NS-Regime auch die anderen freien Verbindungen mit dem Ziel unter Druck, sie für die Eingliederung in den Nationalsozialistischen Studentenbund gefügig zu machen. Um einem Verbot durch NS-Behörden zuvorzukommen, lösten sich die meisten Verbindungen selbst auf. Etliche, allen voran nationalgesinnte Burschenschaften, gründeten neue »Kameradschaften« unter dem Dach des NS-Studentenbundes. »Es gab Corpsstudenten als Widerstandskämpfer der ersten Stunde«, sagt der Historiker Sebastian Sigler vom Corps Masovia. Und manchen sei »das Einknicken vor dem undemokratischen Geist« auch bewusst gewesen. »Aber die Zahl derer, die wirklich klar gesehen haben, ist relativ klein.«

Geselliges Studentenleben. Im Hintergrund ist die Elisbaethkirche zu sehen.<small>Museum der Universität Breslau</small>

Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verlust der ostdeutschen Provinzen dauerte es etliche Jahre, bis sich die vorher in Breslau und Königsberg beheimaten Verbindungen neu formierten. Angeregt von seinen Alten Herren, nahm das Corps Silesia 1950 seinen Betrieb wieder auf. Als Standorte der rekonstituierten Verbindung wurden Köln und Aachen gewählt. Die Domstadt am Rhein, weil sie die Patenschaft für Breslau übernommen hatte. Aachen, um mit seiner Technischen Hochschule die Breslauer Tradition der Verbindung von Universitäts-Studenten und Ingenieurwissenschaftlern aufrechtzuerhalten. Denselben Weg mit Doppelsitz in Köln und Aachen gingen auch die Breslauer Corps Borussia, Marcomannia und Lusatia. Das Corps Masovia zog es nach Kiel, die Raczeks entschieden sich für die vorläufige Bundeshauptstadt Bonn.

Das Ende der DDR und die staatliche Vereinigung Deutschlands brachte erneut Bewegung in die Standortfrage. Etliche Mitglieder von Silesia richteten ihren Blick auf Frankfurt an der Oder. Dort hatten sich Ende des 18. Jahrhunderts aus Schlesien stammende Studenten zu einem »Kränzchen« zusammengeschlossen. Als die Brandenburgische Landes-Universität Viadrina 1811 nach Breslau verlegt und mit der dortigen Hochschule Leopoldina vereinigt wurde, zogen etliche der Schlesier mit. Aus ihren Reihen bildete sich Jahre später das Corps Borussia und aus einer weiteren Abspaltung Silesia.

Kommers einer Verbindung<small>Museum der Universität Breslau</small>

Gegen die Umzugspläne an die Oder regte sich unter den im Rheinland verwurzelten Corpsbrüdern Widerstand. Doch die Befürworter setzten sich durch. Zu ihnen gehörte der Physiker Günter Bäro. Er argumentierte politisch. »Wenn man für Europa etwas tun will, dann muss man an die Nahtstelle gehen und mit Polen in Kontakt kommen.« Es gehe darum, ein europäisches Zusammengehörigkeits- Gefühl zu entwickeln. So wie bei den Nachbarvölkern im Westen. Am 24. Mai 2000 konnten die alten und neuen »Schlesier« ihren Corpsbetrieb in Frankfurt (Oder) wieder aufnehmen.

Nachdem sich das Corps Masovia in Kiel zunächst mit einem dort ansässigen Corps verbunden, aber 1997 als eigenständige Verbindung rekonstituiert hatte, begann auch in seinen Reihen die Debatte über einen Ortswechsel. »Im Juli 2000 haben wir einmütig beschlossen, nach Potsdam zu gehen«, sagt Professor Rüdiger Döhler, pensionierter Chefarzt und ehemaliger Vorsitzender des Masovia Altherrenvereins. Diese Ortswahl habe nahe gelegen, »weil die Stadt eine sehr preußische Prägung und Vergangenheit hat.« Im Januar 2001, genau 300 Jahre nach der in Königsberg proklamierten Erhebung Preußens zum Königreich, nahm Masovia seinen aktiven Betrieb wieder auf. Beim Antrittsbesuch des Seniors der Aktiven und des Altherrenvorsitzenden beim Rektor der Potsdamer Universität hieß dieser das Corps »mit Freude und Erleichterung« willkommen.

Schon im ersten Jahr fuhr eine Masovia-Gruppe nach Kaliningrad, wie Königsberg seit der sowjetischen Annektierung heisst. Weitere Reisen folgten. Im Dom, der früheren Universitätskirche, wurde im März 2009 erstmals ein »Masurenfuchs« aufgenommen. Auf Einladung des russischen Dekans der Historischen Fakultät stellte sich das Corps in der Immanuel-Kant-Universität, der ehemaligen Albertina, vor. Beim 180. Stiftungsfest im Juni 2010 erwiderte Walerie Iwanowitsch Galzow den Besuch des Corps. Nach dessen Pensionierung brach der Kontakt allerdings ab. »Der wird leider nicht vererbt«, sagt Sebastian Sigler. Nun sei man dabei, die Verbindung an die Stadt am Pregel neu zu knüpfen.

Auch Silesia fing an, das polnische Schlesien mit Breslau neu zu entdecken. »Für einen Westdeutschen war Schlesien fast wie ein weißer Fleck auf der Landkarte«, bekannte der Alte Herr Günter Bäro. Das hat sich gründlich geändert. Das Corps fühlt sich nicht nur verpflichtet, die Erinnerung an das frühere Breslau »im Rahmen eines geeinten Europas« wachzuhalten. Es hat sich aufgrund seiner geografischen Lage auch die Aufgabe gestellt, »an der Aussöhnung und Freundschaft zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk mitzuarbeiten.«

Das ehemalige Corpshausder Borussia Breslau in der Neuen Gasse 6 mit einer Tafel<small>Foto: Peter Pragal</small>

Auf polnischer Seite hat sich nach dem Ende der kommunistischen Ära ebenfalls der Blick auf die deutschen Studentenbünde und ihre Geschichte geändert. An dem im Krieg nicht zerstörten Corpshaus von Borussia Breslau in der ul. Nova 6 (einst Neue Gasse 6) wurde eine Tafel angebracht. Auf ihr ist auf Polnisch und Englisch zu lesen, dass dieses Gebäude das älteste Verbindungshaus der Stadt sei und dass unter den Mitgliedern viele spätere Repräsentanten der intellektuellen Elite gewesen seien. An einem Haus in der ul. Dubois 5 (einst Rosenthaler Straße 5) wird seit Mai 2015 ebenfalls auf einer Tafel in Polnisch und Deutsch kundgetan: »Dieses Gebäude diente von 1906 bis 1936 als Corpshaus der Studentenverbindung Lusatia.« Und auch im Museum der Breslauer Universität ist dem früheren deutschen Studentenleben ein eigener Abschnitt der Ausstellungsfläche gewidmet.

Ehemaliges Corpshaus der Lusatia in Breslau in der Rosenthaler Straße 5<small>Foto: Peter Pragal</small>

»Die Corps sind heute die liberale Form des Verbindungs-Studententums«, sagt der Masovia-Aktive Benedikt Guggenmos. Das ist auch als Spitze gegen die Burschenschaften zu verstehen. Deren Geschichte ist seit jeher stark politisch geprägt. Und immer wieder von internen Konflikten gekennzeichnet. Schon in ihrer Frühzeit teilte sich die burschenschaftliche Bewegung in eine radikalrepublikanische und eine nationale Linie. Die Tendenz zur inneren Spaltung hält bis in die Gegenwart an. Etliche liberal-konservative Bünde traten aus Protest gegen Verbindungen, die politisch weit nach rechts, vereinzelt bis an den extremistischen Rand gerückt waren, aus dem Dachverband Deutsche Burschenschaft aus und gründeten die Neue Deutsche Burschenschaft.

Die Raczeks, die einst Ferdinand Lassalle, den Gründer deutschen Arbeiterbewegung, als Mitglied in ihren Reihen hatten, werden heute als radikalkonservativ eingestuft. Sie sind stolz darauf, sich »nicht vom Zeitgeist« treiben zu lassen. Denn der ist in ihren Augen überwiegend links-liberal. Sie wollen »politisch unkorrekt« und »heimatverbunden« sein. Berührungsängste mit dem polnischen Breslau haben die Raczeks nicht. »Ich war mehrfach dort und habe auch im Historischen Archiv gearbeitet«, sagt der Historiker Björn Thomann, Autor der Festschrift zum 200-jährigen Bestehen der Verbindung. Ihr rundes Stiftungsfest wollen die Raczeks im Oktober dieses Jahres in Bonn und in Breslau feiern. Auf die Frage, ob die Raczeks wegen ihrer deutsch-nationalen Grundhaltung bei Anhängern der polnischen Regierung auf Vorbehalte stoßen könnten, antwortet Thomann: »Ich glaube, dass uns Polen besser verstehen und uns nicht als Bedrohung empfinden.« Denn: »Sich mit dem Vaterland zu identifizieren, ist für Polen etwas ganz Normales.«

Der Journalist und Buchautor Peter Pragal, geboren 1939 in Breslau, war ab 1974 der erste in Ost-Berlin lebende bundesdeutsche Korrespondent. Bis in die Wendezeit Ende 80er/Anfang der 90er Jahre berichtete er für die Süddeutsche Zeitung und den Stern aus der Hauptstadt der DDR und ab 1991 bis 2004 für die Berliner Zeitung über die zusammenwachsende Stadt. Seine Erfahrungen und Erlebnisse schildert er in dem Buch Der geduldete Klassenfeind: Als West-Korrespondent in der DDR. (Osburg Verlag, Berlin, 2008).

Über seine familiären Wurzeln und sein Verhältnis zur Heimat berichtet er in Wir sehen uns wieder, mein Schlesierland – Auf der Suche nach Heimat, erschienen 2012 im Piper Verlag, München.

Vor zwei Jahren berichtete er im Artikel Von Gablonz nach Neuheim exklusiv für unsere Website über den Neuanfang sudetendeutscher »Antifa-Umsiedler« in Brandenburg nach dem Zweiten Weltkrieg.