Ein Nachruf
Von Klaus Harer
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Michael Wieck am Ostseestrand, 2004. Foto: © Viktor Gribowski, Kaliningrad

Michael Wieck, Musiker und Autor des berühmten Buches »Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein Geltungsjude berichtet«, ist am vergangenen Samstag im Alter von 92 Jahren gestorben.

Das Deutsche Kulturforum östliches Europa stand in den vergangen anderthalb Jahrzehnten in regelmäßigem Kontakt und Austausch mit Michael Wieck, und wir durften in ihm nicht nur einen klugen, kenntnisreichen und kritischen Autor und Zeitzeugen kennenlernen, sondern vor allem auch einen warmherzigen, humorvollen und charmanten Menschen.

Michael Wieck wurde am 19. Juli 1928 im ostpreußischen Königsberg geboren. Beide Eltern waren Berufsmusiker – sie spielten bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im angesehenen Königsberger Streichquartett. Ab 1933 durfte die Mutter, die jüdischer Abstammung war, nicht mehr auftreten und das Quartett löste sich auf. Michael besuchte zunächst die Schule der jüdischen Gemeinde und musste nach deren Schließung mit knapp 14 Jahren Zwangsarbeit u.a. in einer Königsberger Chemiefabrik leisten. Den Terror der Judenverfolgung, den Abtransport von Verwandten und Bekannten in die Vernichtungslager, die Schrecken der Bombardierung Königsbergs im August 1944 und der Erstürmung durch die Sowjetarmee im April 1945, das Elend der überlebenden Königsberger Bevölkerung, die nach der Niederlage der Rache der Sieger ausgeliefert war – das alles erlebte Michael Wieck, bis er 1948 ausreisen konnte. In Westberlin holte er Versäumtes nach und legte die Grundlage für eine Laufbahn als Orchestermusiker. Zunächst arbeitete er als Geiger im RIAS-Symphonie-Orchester, bis er 1961 dem Ruf der University of Auckland nach Neuseeland folgte, wo er sieben Jahre lang als Senior Lecturer Violine unterrichtete. Ende der 1960er Jahre kehrte er nach Deutschland zurück und spielte bis 1974 als Konzertmeister im Stuttgarter Kammerorchester, anschließend bis zur Pensionierung als Mitglied des Stuttgarter Radio-Sinfonie-Orchesters.

Buchcover: Michael Wieck: Zeugnis vom Untergang Königsbergs

Wiecks Buch über seine jungen Jahre in Königsberg erschien 1988 unter dem Titel Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein Geltungsjude berichtet. Lew Kopelew bezeichnete es in seiner Rezension in der Zeit, als »eine schlichte, ungekünstelte und spannende Erzählung, jede Einzelheit überzeugend wahr geschildert.« Tatsächlich hob es sich ebenso wohltuend wie auch schmerzhaft von der sonstigen ostpreußischen Nachkriegs-Memoiristik ab. Als Erinnerungsbuch eines überlebenden Juden aus Königsberg eröffnete es die Reflexion über Nationalsozialismus und Holocaust in Ostpreußen in Verbindung mit der Erfahrung der Brutalitäten der ersten Jahre nach der Befreiung durch die Sowjetarmee. Seitdem hat es immer wieder Neuauflagen erlebt und ist bis heute lieferbar. Im Laufe der 1990er Jahre gelangte das Buch auch nach Kaliningrad, wo nach dem Zerfall der Sowjetunion und nach der Öffnung der Grenzen das Interesse für die lokale Geschichte Ostpreußens wuchs. Ein junger Kaliningrader, Juri Wolkow, übersetzte den anspruchsvollen Text und übergab das umfangreiche Manuskript an Michael Wieck, der seit 1992 von Zeit zu Zeit nach Kaliningrad kam, um unter anderem die örtlichen Musikschulen, die zu jener Zeit in einem desolaten Zustand waren, mit Instrumenten und Zubehör zu unterstützen. Wie es dazu kam, dass die russische Buchausgabe im Jahr 2004 in St. Petersburg erscheinen konnte, ist das Sujet einer besonderen Geschichte. Es ging nicht ohne die Hilfe deutscher und russischer Freunde und die Unterstützung des Deutschen Kulturforums östliches Europa.

Buchcover: Michael Wieck: Sakat Kenigsberga

Die verstörende Wirkung, die das Buch für den deutschen Leser hatte und bis heute hat, wurde in Russland dadurch verstärkt, dass es gleich mehrere gutgehütete Tabus brach. Der russische Leser bekam hier zum ersten Mal ein Bild jüdischen Lebens in Königsberg und eine detaillierte Darstellung der antijüdischen Maßnahmen der Nationalsozialisten und ihrer Auswirkungen auf das alltägliche Leben zu lesen. Für die Kaliningrader, denen die sowjetische Erzählung von der Erstürmung der Festung Königsberg vertraut war, musste die lebensnahe Erzählung der Kriegsereignisse aus der Perspektive des jungen Michael sehr drastisch erscheinen. Besonders erschreckend war für die Kaliningrader jedoch die Grausamkeit der Sieger in Wiecks Bericht über die erste Nachkriegszeit. Gründe gab es also genug, dass die erste russische Ausgabe des Buches nicht im allzu betroffenen Kaliningrad, sondern im ferneren St. Petersburg erschien. Inzwischen ist es im Kaliningrader Gebiet zum Hausbuch all derer geworden, die sich für die Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte und die Reflexion über die historischen Belastungen durch die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts einsetzen. Die russische Ausgabe ist inzwischen auch im Internet frei zugänglich.

Die Nachricht von Michael Wiecks Tod löste in Kaliningrad besonders große Betroffenheit bei den zahlreichen Lesern und Freunden aus. Ein ausführlicher Nachruf in der Kaliningrader Internetzeitung newkaliningrad.ru erinnert an die zahlreichen Besuche Wiecks in der Stadt und vor allem an seinen letzten Auftritt im Dezember 2015, bei der Präsentation der gerade neu erschienen Kaliningrader Ausgabe seines Buches vor großem Publikum.

Mit Michael Wieck haben wir einen Zeitzeugen und geistreichen Gesprächspartner verloren; für die Kaliningrader und alle, die eine innere Verbindung mit der Geschichte und Gegenwart Ostpreußens und Königsbergs haben, war er einer der letzten Menschen, der noch aus eigener Erfahrung und Anschauung vom Leben in der Stadt vor Ihrem Untergang berichten konnte. Was bleibt, sind die im Internet aufzufindenden Videos seiner Zeitzeugenberichte und vor allem sein Buch Zeugnis vom Untergang Königsbergs, auch in seiner Geburtsstadt, wo es von besonderer Bedeutung ist, wie es am Schluss des erwähnten Kaliningrader Nachrufs heißt: »Das Buch ist wichtig für all die Menschen, die heute in Kaliningrad leben, die hier heimisch sind, und die sich nicht vor der Geschichte fürchten.«