Rezension des Buches Jörg Bernig: Der Gablonzer Glasknopf. Essays aus Mitteleuropa. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors
Mitteleuropa ist, wie wir wissen, ein Konstrukt, eine Projektion, eine Sentimentalität, vielleicht auch ein Bedürfnis von jenen, die an der Peripherie ihre Existenz hatten einrichten müssen und, an den Rand von Entscheidungen gedrängt, eine Sehnsucht zur Mitte entwickelt haben. Mitteleuropa? – Es geht um Europa heute, um die »Eurozone« (welch unsägliches Wort, »Zonengrenze« fällt einem da ein, oder »Ostzone«) und um deren täglich diskutierten Probleme. Mitteleuropa, so der in Radebeul bei Dresden lebende Dichter, Romancier und Essayist Jörg Bernig, sei vor allem ein Erzählraum, in dem »das Gegenwärtige genau so lebt wie das Verschwundene und eben nur in der Erzählung Wiederbringliche«. Ein Ansatz also, der auf die Wirklichkeit des Poetischen insistiert.
In dieser großen, von Bernig postulierten und vor allem von Schriftstellern immer wieder praktizierten »Erzählung« haben auch jene verschwundenen Völker und Volksgruppen mit ihren Sprachen und Dialekten Platz, die von jenen, welche in Zeiten politischer Umbrüche oder militärischer Siege plötzlich mit Macht ausgestattet waren, ausgesiedelt oder vertrieben wurden. So existieren, beispielsweise, auch die vertriebenen Deutschen aus Böhmen und Mähren weiter in der großen Erzählung der tschechischen Literatur – nicht nur als Deutschnationale oder Nazis. Bernig – ein guter Kenner der zeitgenössischen tschechischen Literatur – widmet vor allem dem seit Jahrhunderten existierenden Konflikt zwischen Slawisch sprechenden und deutschsprachigen Völkern – aus biographischen Gründen vor allem jenen zwischen den Sudetendeutschen und den Tschechen – besondere Aufmerksamkeit.
»Sprache und Mitteilung«, schreibt der englische Schriftsteller John Berger, »entstehen aus der menschlichen Fähigkeit des Ordnens und Platzierens. Das englische Wort place kann sowohl ›Ort‹ als auch ›platzieren‹ bedeuten, ist also Verb und Substantiv zugleich.« Menschen und Völker hatten stets – wahrscheinlich eine Reaktion auf das stumme »Chaos« in das sie sich als Ansiedler begaben – das Bedürfnis Orte zu benennen. So entstanden Beziehungen und Wiedererkennbarkeiten. Bernig, der all das, in dem seine Vorfahren mit ihrer Arbeit und ihren Emotionen verankert waren, nicht kannte (er wurde 1964 geboren), wurde immer wieder kraft von Erzählungen, in denen Namen und Orte im Laufe der Jahre eine magische Funktion bekamen, in die für ihn unbekannte »Heimat« mitgenommen. Sie blieb ihnen »Heimat« und damit ein bis ans Ende ihres Lebens virulenter Sehnsuchtsort. Dieses Hadern mit dem »Schicksal« stieß bei vielen DDR-Bürgern in ihrer neuen Umgebung auf Unverständnis. Sie betrachteten die Vertreibung als den Preis, der eben zu zahlen war für die Gräuel der Nazis:
»Nicht wenige der nicht Betroffenen mögen zudem der Meinung gewesen sein, dass, wenn ihnen solches widerfahren ist, die Vertriebenen wohl selbst schuld an allem gehabt hätten. Was wiederum ermöglichte, eigene Schuld und schuldhafte Verstrickungen zu minimieren.«
Bernig, Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste, jüngst mit dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet, liegt sehr viel an einer Auseinandersetzung mit all den politischen Verwerfungen und menschlichen Tragödien in jenen Regionen, in denen, neben den meist allseits ungeliebten Juden, Völker lebten, die sich nicht als Minderheiten fühlten, da sie de facto allesamt größere oder kleinere Minderheiten gewesen waren in einem großen Gefüge (eines dieser Gefüge könnte die k. k. Monarchie gewesen sein, zur Zeit ihres Niedergangs als Völkerkerker abgekanzelt; neuere, ideologisch ungetrübtere Blicke auf die Koexistenz so vieler Nationen bringen allerdings andere Einschätzungen zutage). Um dieses Nebeneinander (selten ergab sich daraus ein Miteinander) und Gegeneinander der Völker und Nationen an der Schnittstelle zwischen Ost- und Westeuropa, an der über Generationen gewachsene soziale Ordnungen und Kulturen entstanden waren, kreisen seit Jahren die Reden und Vorträge von Bernig, die nun überarbeitet in dem Essayband Der Gablonzer Glasknopf. Essays aus Mitteleuropa zur Lektüre vorliegen.
Die wichtigste Botschaft der ethnischen Säuberungen (betroffen waren in der Slowakei auch Ungarn) in der Tschechoslowakei sei wohl gewesen, dass sie ungeahndet blieben. Entstand hiermit nicht ein gefährlicher Präzedenzfall? – Erschien den Nationalisten unter den Südslawen, die es auf die Zerstörung Jugoslawiens zugunsten von Nationalstaaten angelegt hatten, das Prinzip der ethnischen Säuberung nicht als opportun und akzeptabel?
Ein Kollege, den der blutige Zerfall Jugoslawiens ebenfalls nicht kalt gelassen hat, ist Peter Handke, der, »keinen Weltkreis vertretend«, beim Erinnern oder Erzählen von Ereignissen stets in Opposition sich befindet zur Perspektive jener Akteure der Medienwelt, die nur ein rein auf Fakten gestütztes, eindimensionales Erkennen gelten lassen wollen. Mit dessen Poetik setzt sich Bernig beispielhaft und kenntnisreich anhand der Erzählung Die morawische Nacht auseinander. Dem Text, in dem wiederum die Problematik der nach dem 2. Weltkrieg gezogenen Grenzen ein Thema sind, ist folgendes Zitat von Ivo Andrić aus dessen Roman Die Brücke über die Drina vorangestellt: »Die Grenze, diese immer schon leicht entflammbare Grenze …« – Nationalistischer Fanatismus hat im ehemaligen Jugoslawien, aber auch in der Tschechoslowakei (erinnert sei an die im Jahre 1993 erfolgte Lostrennung der Slowakei) neue Grenzen gezogen, mit denen man – welch Paradoxon – funktionierender Teil eines vereinten Europa sein möchte. All diesen Widersprüchen und Ungereimtheiten ist Bernig auf der Spur, sucht nach Erklärungen, bietet Analysen und Deutungen an, ohne jedoch den Leser bei seiner Gedankenarbeit zu entmündigen (auch der Autor dieser Zeilen ging an einigen Textstellen in Opposition zu gewissen Schlussfolgerungen).
Trotz all der Erfahrungen, die Bernigs Großeltern und deren Kinder machen mussten (ein Bruder des Großvaters – weder Nazi-Funktionär noch Nazi-Anhänger – wurde von tschechischen Revolutionsgardisten oder Angehörigen der tschechischen Ostarmee unter General Svoboda nach Prag-Pankratz ins Gefängnis gesteckt und dort umgebracht), ist ihm an einer Aussöhnung zwischen Tschechen und Nachkommen der Sudentendeutschen sehr gelegen. Er hat zu tschechischen Autorenkollegen Kontakte hergestellt, sein Roman Niemandszeit (2002) wurde ins Tschechische übersetzt und ein Freund Tomáš Kafka, mit dem er 2004 im Tschechischen Zentrum in Wien über die Umbrüche des Jahres 1989 sprach, ist mittlerweile Botschafter Tschechiens in Dublin.
Die Sicht von Bernig auf Versäumnisse, auch bei der Konstruktion der EU (einige Säulen sind, wie sich immer mehr herausstellt, auf Sand gebaut, möglicherweise auch auf Lug und Trug), ist eine akzentuierte und unbequeme. Sein Blick – als gelernter Bergmann ist er ein genauer Beobachter – als ein in der DDR geborener und sozialisierter Sachse mit böhmischen und fränkischen Vorfahren unterscheidet sich naturgemäß von dem österreichischer oder in der BRD sozialisierter Schriftsteller und Intellektueller. Er legt seine Finger in Wunden und benennt die Ungerechtigkeiten, Verrücktheiten und Verbrechen, die untrennbar mit den Regionen und dem Agieren der Völker zwischen Ost- und Westeuropa verbunden sind, jedoch mit der Perspektive der Versöhnung (bei der Lektüre fiel mir immer wieder der Untertitel zu Ludwig Hohls Notizen ein: »Von der unvoreiligen Versöhnung«). Die kann nur gelingen, wenn sich die alten oder neuen Feinde – vor allem auch am Balkan – ihre Geschichten erzählen und dabei zuhören, d.h. auf den anderen auch hören. Er vertraut auf das Potential der Künste und auf das Vermögen der Poesie. Diesen ebenfalls realitätsschaffenden Kräften obliegt es, die Faktizität der politischen und ideologischen Wirklichkeit zu relativieren und zu transzendieren.