Deutsche Welle • Monitor Ost- / Südosteuropa • 16.07.2004
Bonn, 16.07.2004, DW-RADIO / Polnisch
Dort, wo sich im Süd-Osten Sachsens die Länder Polen, Tschechien und Deutschland berühren, liegt das Dreiländereck. An einem Punkt grenzen dort die polnische Gemeinde Bogatynia, der deutsche Landkreis Löbau-Zittau und der tschechische Liberec aneinander. Die Bewohner dieser Region verbindet die oft leidvolle Erfahrung der Nachkriegszeit. Eine Gruppe von deutschen, polnischen und tschechischen Frauen hat sich nun die Aufgabe gestellt, die historische Dimension der Nachbarschaft in dieser Region zu erforschen: Ein dreisprachiges Euroregionales Frauengeschichtsarchiv im Internet und Bücher in drei Sprachen sind im Begriff zu entstehen. Das soll helfen, die noch bestehenden Barrieren zwischen Menschen abzubauen und zum Aufbau einer euroregionalen Interessengemeinschaft zu verhelfen. Barbara Cöllen sprach mit polnischen, deutschen und tschechischen Frauen in Zittau über ihre Geschichtsprojekte.
»In diesem Grenzgebiet, in diesen drei Ländern sind die Schicksale der Menschen nicht nur kompliziert, sondern auch gemeinsam«, sagt Věra Vohlidálová. Sie kommt aus dem böhmischen Liberec und ist Vorsitzende des deutsch-tschechischen Forums der Frauen. Seit etwa zehn Jahren wollen hier deutsche und tschechische Frauen aller Generationen die oft proklamierte Versöhnung in die Tat umsetzen und an der Entwicklung gutnachbarschaftlicher Beziehungen mitwirken. Auch polnische Frauen sind dabei.
Im vergangenem Jahr haben alle Frauen gemeinsam eine Konferenz über Flucht, Vernichtung und Vertreibung in der Euroregion Neiße veranstaltet. Und sie haben den Historikern die Aufgabe übertragen, weiße Flecken in dieser Grenzregion aufzufüllen. Die Geschichte um Flucht, Vertreibung und Ansiedlung ist hier weitgehend unbekannt. Davon weiß Andrea Rook zu berichten, eine Journalistin, die selbst in Frauengeschichtsprojekten gearbeitet hat: »Das hat damit zu tun, dass darüber nicht gesprochen werden durfte zu sozialistischen Zeiten. Das hat auch damit zu tun, dass das ein Thema ist, über das sich schlecht sprechen lässt, erst recht hier in dieser dörflichen Region.« Andrea Rook erzählt, dass Leute, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien in die Grenzregion gekommen waren und neu angefangen haben, bis heute Fremde geblieben sind. Fremde sind auch Menschen in dem Dreiländereck auf polnischer Seite, erzählt Irena Járočká aus der Gemeindeverwaltung Bogatynia: »Die Bevölkerung bei uns in Bogatynia stammt aus vielen Ländern. Da sind Menschen, die aus Sibirien ausgesiedelt wurden, Ukrainer, Weißrussen, Litauer und sogar Franzosen, die wegen der Arbeit im Braunkohletagebau zu uns gezogen sind. Hier mischen sich viele Traditionen und Kulturen miteinander. Jetzt fragt die jüngste Generation nach ihren gemeinsamen Wurzeln. Und jeder hier hat andere. Daher müssen wir diese Geschichten aus der Nachkriegszeit festhalten. Und wir müssen auch die gegenwärtige Geschichte unserer Region gestalten, damit sich die nächsten Generationen hier verwurzelt fühlen.«
Irena Jarocka ist eine von über 30 deutschen, polnischen und tschechischen Frauen, die seit über einem Jahr selbst Einzel-Interviews und biographische Berichte von Zeitzeuginnen aus der Grenzregion sammeln. In ihrem dreisprachigen Buch erinnern sie an wichtige Wendepunkte in dieser Region seit 1945 – unter frauenspezifischem Gesichtspunkt. Die Idee dieses Projekts im Rahmen eines »Euroregionalen Frauengeschichtsarchivs« kam von den deutschen Frauen. Petra Laksar-Modrok, eine der Projektleiterinnen, arbeitet als Gleichstellungs- und Ausländerbeauftragte in Zittau: »Mit dem Geschichtsarchiv wollen wir nicht nur, dass Geschichte aufgearbeitet wird, sondern sie soll auch gelebt werden. Es sollen Erfahrungen gesammelt werden, dass eben so schreckliche Dinge wie Nationalismus nicht wieder passieren. Oder dass man bestimmte Klischees halt anders darstellen könnte oder verarbeiten könnte.«
Unter dem Motto »Frauen in Wendezeiten« erstellt gerade das Zittauer Projekt mit seinen tschechischen und polnischen Partnerinnen eine Sammlung von Interviews und Erzählungen. Für manche tschechische Frauen aus Liberec ist das eine späte Genugtuung. Anna Olšová aus dem Liberecer Verein »Server«, dem tschechischen Partner des »Euroregionalen Frauengeschichtsarchiv«: »Das darf nicht vergessen werden, was Leute in der kommunistischen Zeit erlebt haben. Das muss in einem Buch erfasst werden, damit das nicht vergessen wird.«
Seit letztem Jahr liegt auch eine Broschüre mit Geschichten von sechs deutschen Frauen aus Zittau über ihre Erlebnisse und ihre Gefühle in der Wendezeit vor. Die zweite Leiterin des Frauengeschichtsprojektes Kersten Kühne: »Das ist eine Zeit, die war sehr intensiv, sehr schnelllebig. Das war ein Bruch, was bei uns hier passiert ist. Und jetzt werden wir oft angesprochen. Es wird gesagt: manches wissen wir gar nicht mehr so. Weil einfach, was jetzt weiter läuft, dies überdeckt. Und es ist wichtig, dass wir diese Zeit festhalten.«
Festhalten wollen polnische, tschechische und deutsche Partnerinnen aus dem Dreiländereck auch Lebensgeschichten von Frauen in der Region als Opfer von Vertreibung und Zwangsumsiedlung. In Vorbereitung ist ein Interviewprojekt – sagt Petra Laksar-Modrok: »Wir wollen, dass es nicht einseitig dargestellt wird. Wir wollen aufzeigen, dass es Vertreibung in allen drei Ländern gegeben hat, nicht nur auf deutscher Seite. Wir wollen das Ganze auch nicht werten. Es sollen Interviews sein mit unterschiedlichen Frauen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten, die unterschiedliche Dinge erlebt haben, meist als Kind oder als junge Frauen oder Jugendliche. Und werten muss dann jeder für sich selbst.« (TS)
- »Es ist wichtig, dass wir diese Zeit festhalten«
Der Originalartikel auf den Internet-Seiten der Deutschen Welle