(Es gilt das gesprochene Wort)
Anrede,
Mehrheit und Minderheit sind ausgesprochen variable, zuweilen auch ungenaue, häufig umstrittene und nicht selten hochpolitische Begriffe. Sie treten zunächst im »demographischen Gewand« auf durch Volkszählungen, Umfragen und Statistiken. Hinter der Demographie jedoch liegen die großen Fragen der Identität, der Kultur und der Sprache, der Herkunft, der Religion und der Geschichte. Die so definierten Unterschiede sind emotional aufgeladen und können zu ebenso aufgeladenen Konflikten führen und zum Gefühl der Fremdheit. Karl Valentin ironisiert das mit folgendem Satz: »Der Fremde ist fremd überall in der Fremde.«
Es gibt unzählige Versuche, Minderheiten zu definieren, indem man sie typologisiert in nationale, ethnische, sprachliche und religiöse Minoritäten. In der Vergangenheit waren es zumeist die Mehrheiten, die festlegten, wer die Minderheiten sind.
Zudem hat der Begriff der Minderheit – vor allem im anglo-amerikanischen Raum – über die letzten Jahrzehnte einen Bedeutungswandel erfahren und wird zunehmend auch auf all die Gruppen angewandt, deren Angehörige von den vorherrschenden Sitten und Verhaltensweisen abweichen, die weniger Einfluss besitzen als der Rest der Bevölkerung. Ein derartiges Begriffverständnis lässt ihre Zahl in einer Gesellschaft theoretisch ins Unendliche steigen und ist aus meiner Sicht nicht unbedingt förderlich.
Wer den Inhalt des Begriffes Minderheit klären will, muss immer auch festlegen, was die Mehrheit ausmacht. Beide sind an die Form und Größe des jeweiligen Staates gebunden. Sie sind somit direkt von etwaigen Veränderungen dieser beiden Kriterien betroffen. Am Beispiel der früheren Sowjetunion wird dies besonders anschaulich: Der Zerfall in fünfzehn Nachfolgestaaten schuf Dutzende von neuen Minoritäten: Mehrheiten wurden über Nacht zu Minderheiten und Minderheiten zu Mehrheiten.
Auch der deutsche Staat erkennt die Tatsache an, dass es unter seinen Staatsangehörigen Gruppen gibt, die einer anderen Ethnie angehören, die ihre eigene Sprache haben und sich auch kulturell von der Mehrheit der Bevölkerung unterscheiden. Die vier nationalen Minderheiten in Deutschland - Friesen, Sorben, Dänen und Roma und Sinti - sind wegen historischen Grenzverschiebungen oder durch Jahrhunderte zurück liegende Wanderungsbewegungen ein Teil des deutschen Staatsvolkes geworden. Heute garantieren kollektive Rechte diesen vier nationalen Minderheiten die Bewahrung ihrer kulturellen und sprachlichen Identität.
Von ihnen unterscheiden wir aber rechtlich und begrifflich diejenigen Gruppierungen, die im Zuge von Einwanderungsbewegungen in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland kamen.
Diese Menschen sind bekanntlich aus sehr unterschiedlichen Gründen hier. Sie kamen bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 als Arbeitsmigranten – auch Gastarbeiter genannt. Seither sind viele Angehörige über den Familiennachzug eingewandert oder besser nachgewandert. Anfang der neunziger Jahre ist eine große Zahl von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen hinzugekommen.
Seit 1991 ermöglichten wir auch fast 200.000 Menschen jüdischen Glaubens aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion die Aufnahme in Deutschland. Sie stärken die jüdischen Gemeinden und somit zeitgenössisches jüdisches Leben in Deutschland. Wir begreifen diesen Zuzug als einen wichtigen Vertrauensbeweis in unsere Demokratie und unsere pluralistische Gesellschaft.
Einwanderer ohne deutschen Pass machen heute um die neun Prozent der Gesamtbevölkerung aus, jeder fünfte so genannte »Ausländer« ist in Deutschland geboren.
Nach unserer Rechtsauffassung, die so auch von sehr vielen Staaten in Europa ähnlich praktiziert wird, können diese Gruppen von Einwanderern jedoch nicht den Status einer nationalen Minderheit und damit verbunden kollektive Rechte erlangen. Sie sind nicht autochthon, also als Gruppe nicht ursprünglich in einem angestammten Siedlungsgebiet innerhalb Deutschlands heimisch. Spätaussiedler beispielsweise mögen zwar in den Staaten, aus denen sie hierher gekommen sind, den Status einer nationalen Minderheit innehaben. Nach ihrer Ankunft in Deutschland sind sie, genauso wie die Zuwanderer türkischer Herkunft (falls sie auf Dauer in Deutschland leben wollen), Teil der deutschen Mehrheitsbevölkerung.
Diese Auffassung beseitigt allerdings nicht die Notwendigkeit, Antworten auf die seit Platon aufgeworfene Frage nach der besten »Verfasstheit« unseres Gemeinwesens zu finden, die der zunehmenden Vielfalt und Heterogenität unserer Gesellschaft Rechnung tragen.
Dem freiheitlichen Verfassungsstaat stellte sich im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung stets die Aufgabe, einzelne gesellschaftliche Gruppen – Minderheiten im weitesten Sinne also – zu integrieren. Dabei haben sich Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und eine repräsentativ-demokratische Regierungsform weltweit bewährt.
Neben den großen Integrationsleistungen der vergangenen Jahrzehnte haben sich auch Spannungsfelder und Integrationsdefizite aufgebaut. Die herkömmlichen Regelungen zu Zuzug, Integration und Staatsbürgerschaft entsprachen seit geraumer Zeit nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Der erste wichtige Schritt, beide stärker in Einklang zu bringen, war unsere Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, mit der wir im Jahr 2000 eine gesetzliche Regelung von europäischem Niveau eingeführt haben. Wir brauchen eben nicht nur Gäste auf Zeit, sondern wir müssen Menschen, die sich schon lange in Deutschland aufhalten und auch hier bleiben wollen, mehr Chancen zur Integration bieten.
Kinder ausländischer Eltern erhalten seit dem 1. Januar 2000 automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sich mindestens ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhält. Jährlich werden auf diesem Wege etwa 50.000 Kinder ausländischer Eltern bei ihrer Geburt deutsche Staatsangehörige. Das Territorialprinzip verbindet sich mit dem Abstammungsprinzip, welches bis dato deutsches Staatsangehörigkeitsrecht und Denken geprägt hat.
Ausländer können sich heute nach acht statt vorher 15 Jahren Aufenthalt in Deutschland einbürgern lassen. Und über 660.000 von ihnen haben bisher von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. So haben wir eine Regelung, die es verhindert, dass die Migranten über Generationen hinweg ohne den deutschen Pass in Deutschland leben.
Das Zuwanderungsgesetz ist ein zweiter – in meinen Augen ebenso historischer – Schritt, die rechtlichen Rahmenbedingungen mit den gesellschaftlichen Realitäten in Einklang zu bringen. Es ist die notwendige Ergänzung des modernisierten Staatsangehörigkeitsrechts und führt unterschiedliche Aspekte – von der Arbeitsmigration über die Integration bis hin zu Sicherheitsfragen – in einem Gesamtgesetzeswerk zusammen.
Zuwanderung findet ihre Grenzen in den Möglichkeiten der Integration. Das Zuwanderungsgesetz ermöglicht uns den Einstieg in eine systematische Integrationspolitik, die in den kommenden Jahren auf allen Ebenen weiterzuentwickeln sein wird. Dazu gehören Angebote, aber auch Anforderungen an die Zuwanderer.
György Konrád, der frühere Präsident der Berliner Akademie der Künste, hat die Erwartungen an Einwanderer wie folgt richtig formuliert: »Der Preis für ein Bleiben heißt Lernen. Der Einwanderer muss viel lernen: eine Sprache, eine lokale Kultur, ein komplexes System von Rechten und Pflichten.«
Das Zuwanderungsgesetz sieht vor, dass Neuankömmlinge mit einer dauerhaften Aufenthaltsperspektive unmittelbar nach der Einreise Integrationsangebote nutzen können. Dazu gehören Sprachkurse und Orientierungskurse zur Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands aber auch zu praktischen Fragen des täglichen Lebens. Deutschland ist kompliziert: Gesetzliche Ladenschlusszeiten, drei verschiedene Mülltonnen und das Preissystem der Deutschen Bahn.
Eine Gruppe, die sich bis Mitte der neunziger Jahre sehr erfolgreich zurechtgefunden hat, sind die rund 2,9 Millionen deutschstämmigen Aussiedler und ihre Familienangehörigen. Seit einigen Jahren beobachten wir jedoch mit Sorge eine Reihe von problematischen Entwicklungen. Grund für die steigenden Integrationsdefizite ist der immer größer werdende Anteil von mitreisenden Familienangehörigen, die nicht deutscher Herkunft sind und in den meisten Fällen über keinerlei Sprachkenntnisse verfügen. Sie machen inzwischen gut drei Viertel des Zuzugs von Spätaussiedlern aus.
Das Zuwanderungsgesetz legt fest, dass diese Personen künftig nur dann mitreisen können, wenn sie Grundkenntnisse der deutschen Sprache nachweisen können.
Sprache ist enorm wichtig für das Gelingen von Integration. Heidegger nennt sie das »Haus des Seins«. Sprachkurse sind jedoch auch nicht das Allheilmittel. Wir müssen mit unserer Integrationspolitik das Augenmerk auch darauf richten, dass Sprachkenntnisse stark von der Wohn-, Beschäftigungs- und vor allem von der Bildungssituation der Zuwanderer abhängig sind.
Die vier nationalen Minderheiten und auch die vielgestaltige Zuwanderung der letzten Jahrzehnte lassen es nicht zu, Nation und Staatsangehörigkeit in Deutschland mit Ethnie und Volk gleichzusetzen. Der Versuch, ethnische Homogenität durchzusetzen, hat stets zu größten Konflikten und Grausamkeiten geführt. Das zeigten auch in jüngerer Vergangenheit die Kriege in Südosteuropa.
In Deutschland haben wir uns erst nach zwei Weltkriegen mit ihren nationalistischen Exzessen von einer »völkischen« Auffassung dessen, was deutsch ist, verabschiedet. Das Zuwanderungsrecht und das reformierte Staatsangehörigkeitsrecht bekräftigen unser gewandeltes Verständnis von einer deutschen Nation, der Menschen ungeachtet ihrer Herkunft angehören können, sofern sie die Grundwerte teilen, auf denen unser Gemeinwesen beruht.
Das heißt auch und zuallererst, dass wir in jedem Menschen die unverwechselbare Individualität in ihrer eigenen Würde erkennen und anerkennen, die unterschiedlichste Identitäten in sich vereinigt. So wie der italienische Schriftsteller Umberto Eco seine Identität versteht: »In Rom bin ich Mailänder, in Paris bin ich Italiener, und in New York bin ich Europäer.« Und auf dem Mars könnte er sagen: »Sono uomo«. Und überall ist er Umberto Eco.
Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten in Deutschland
Die Originalrede auf den Internet-Seiten des Bundesinnenministeriums