Im Biergarten vor der Brauerei »Kocour«, am ersten Tisch direkt neben dem Eingang, sitzt René. Entspannt die Arme auf dem Tisch abgelegt, die rechte Hand am Bierglas, schaut der Rentner freundlich auf das Treiben in der Mikrobrauerei im tschechischen Grenzgebiet, nur wenige Meter von Deutschland entfernt. Regelmäßig fährt er mit dem Fahrrad aus Seifhennersdorf hierher nach Warnsdorf/Varndorf, denn »so leckeres Bier und in so schöner Atmosphäre gibt es in unserer Region weit und breit nicht«, ist sich der Sachse sicher.
Wie ein Statist in der Verfilmung eines Bohumil-Hrabal-Buchs wirkt René. Er beobachtet die Pfauen, die über den weitläufigen Hof staksen und deren Männchen von Zeit zu Zeit angeberisch ihr Federkleid ausfahren und die bunten »Pfauenaugen« schütteln. Er nickt grüßend den Fahrradfahrenden zu, die entspannt auf E-Bikes oder sportlich mit Rennrädern auf ein Bier eintrudeln. Er beobachtet, wie Gäste mit Gepäck zielstrebig auf die ausrangierten Eisenbahnwaggons mit überraschend komfortablen Schlafabteilen zulaufen. Lodging nennt man das heutzutage und Josef Šusta, Gründer und Inhaber der Kocour-Brauerei, hat damit einmal mehr den Finger am Puls der Zeit.
Josef Šusta gehört zu den Pionieren der Mikrobrauereien in Tschechien. Als der Speditionsbesitzer 2017 die Idee hatte, in Warnsdorf eine Art Erlebnis-Brauerei zu gründen, wurde er noch ausgelacht. Das Örtchen im ehemaligen Sudetenland sei viel zu unattraktiv und klein: Warnsdorf hat heute rund 15 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Dabei war es einmal ein lebendiges Zentrum der Textilindustrie, stolz Klein Manchester genannt. Die Arbeit hatte 1895 Šustas Familie aus Prag hierhergelockt. Und damals sorgte sie auch für ein reiches soziales Leben, wie er aus Erzählungen seines Großvaters weiß: »Der sagte immer, auf 120 Schornsteine kamen 120 Kneipen.« Tschechische und deutsche Menschen hätten friedlich zusammen und oft in Mischehen gelebt, hörte Šusta.
Rund 30 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählte Warnsdorf vor dem Ersten Weltkrieg. Doch das ist lange her. In den 1920er Jahren, mit dem ersten wirtschaftlichen Niedergang, erstarkte der Nationalismus, und die Sudetendeutsche Partei um Konrad Henlein gewann an Popularität. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen vertrieben, und viele ihrer Häuser besiedelten Roma-Familien. Nach der Wende 1989 folgte ein weiterer wirtschaftlicher Abschwung, die Bevölkerung schrumpft seither stetig.
Šustas Familie hielt durch. Und auch er selbst blieb seiner Heimatstadt treu. Bei dem Besuch einer Mikrobrauerei im Riesengebirge kam dem Speditionsbesitzer die Idee, selbst Bier herzustellen. In einer ehemaligen Rohrfabrik begann er, sich eine Kundschaft aufzubauen. Und damit diese auch praktisch anreisen konnte, ließ Šusta die einzige private Bahnstation Tschechiens errichten: einen Stopp zwischen Zittau und Reichenberg/Liberec, in schönster Landschaft, die zum Wandern oder Radeln einlädt. Seine Fans sind treu, auch den Geschäftseinbruch während der Corona-Pandemie, als die Gastronomie schließen musste, hat Kocour überlebt. Aber nur, weil Šusta beherzt handelte und, statt zu sparen, eine Flaschenabfüllanlage kaufte. So verbreiteten sich seine Biere über Prag auch in andere Regionen Tschechiens.
Längst hat sich das Leben wieder normalisiert. Trotzdem verkauft Kocour mehr und mehr Bier in Flaschen – und immer weniger in Fässern. Vielen sei das Ausgehen zu teuer, glaubt Šusta, und dann erhöhte die Regierung im Januar 2024 auch noch die Mehrwertsteuer auf Bier von zehn auf 21 Prozent. »In Tschechien war Bier eigentlich immer ein Grundnahrungsmittel«, sagt Šusta: »Jetzt entwickelt es sich zum Luxusprodukt.«
Auch Václav Potěšil erinnert sich gerne an die Zeiten, als in Prag Bier noch günstiger war als ein Mineralwasser. Er war an dem Bau von tschechischen Brauereien in der ganzen Welt beteiligt, in Vietnam, Japan oder auf den Philippinen. Allein in Tschechien besitzt die Firma PIVO Praha, die er 1991 zusammen mit Studienfreunden gründete, rund dreißig Brauereien. Ein einzigartiges Projekt ist für ihn trotzdem die Břevnov Kloster-Brauerei St. Adalbert (St. Vojtěch), die PIVO Praha neu aufgebaut hat und deren Geschäftsführer sein Sohn Aleš Potěšil ist. Das Stift Breunau ist ein den Heiligen Adalbert von Prag und Margareta von Antiochien geweihtes Kloster des Benediktinerordens im Prager Stadtteil Břevnov, gut erreichbar mit der Tram 22. »Der Genius loci macht Břevnov für uns zu etwas ganz Besonderem: Hier war die älteste Brauerei Tschechiens«, sagt Potěšil stolz.
Die Mönche betrieben schon im Jahr 993 eine eigene Brauerei, die – mit Unterbrechungen – bis 1889 existierte. Dann wurde das Gebäude wegen des Baus einer großen Straße abgerissen. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fand auch das Klosterleben ein jähes Ende: Erst besetzte die Wehrmacht das Stift, dann hatte die tschechoslowakische Geheimpolizei hier ihr Archiv. Nach 1989 wurde der gesamte Komplex renoviert, heute leben hier wieder zehn Benediktiner-Mönche.
2011 baten Potěšil und seine Kollegen der PIVO Praha darum, die Brauerei in einem Seitengebäude des Klosters wiederaufbauen zu dürfen. Die Mönche sind nur noch indirekt involviert: Die Brauerei kauft den Hopfen, den sie auf vierzig Hektar anbauen. Auch in anderer Hinsicht war das Angebot für die Klosterbrüder attraktiv: So animiert der Ausschank viele Menschen dazu, sich auch den Rest der Anlage anzuschauen und das Kloster kennenzulernen.
So begeistert Potěšil von dem Standort auch ist – er ist lange genug im Geschäft, um die Grenzen des Modells zu erkennen. Während im Kloster Strahov unterhalb der Prager Burg rund 200 000 Menschen jährlich die Brauerei St. Norbert besuchen, sind es hier außerhalb der Stadt maximal 10 000. Eine Vergrößerung ist im Rahmen des Klosterareals nicht möglich, eine Abfüllung in Flaschen kommt also nicht in Frage. Immerhin kann man sich derzeit in einem Supermarkt in der Nähe das Bier selbst direkt vom Fass in eine Flasche abzapfen. Aber beim Flaschenbier, befürchtet er, haben die großen Brauereien ohnehin einen entscheidenden Vorteil: die Haltbarkeit.
Staropramen, Pilsner Urquell & Co. werden nämlich gefiltert und erhitzt, bis sie keimfrei sind und können daher monatelang gelagert werden. Solche Anlagen bleiben für Mikrobrauereien unerschwinglich, deren Biere, egal ob Ale, Pils oder IPA, immer unpasteurisiert und ungefiltert sind. Das habe lange Zeit den Trend zu Mikrobrauereien gefördert. »Das Bier aus Mikrobrauereien hat immer einen besonderen, etwas bittereren Geschmack«, sagt Potěšil. Aber längst haben auch die großen Bierproduzenten das erkannt und imitieren den Geschmack – bei dennoch längerer Haltbarkeit.
Dazu komme der »beunruhigende« Trend, dass junge Leute überall auf der Welt – und auch in Tschechien – insgesamt immer weniger Bier und überhaupt weniger Alkohol trinken, sagt Potěšil. Längst haben auch die Mikrobrauereien darauf reagiert – Kocour hat mittlerweile ein ganzes Sortiment an Fassbrausen, im Kloster Břevnov gibt es alkoholfreies Bier mit Grapefruitgeschmack. Langfristig bedeute das trotzdem ein Brauerei-Sterben. Und davon seien die kleinen Brauereien zuerst betroffen. Schon jetzt spüre man das. »Vor Covid entstand fast jede Woche eine neue Mikrobrauerei«, sagt Potěšil, »mittlerweile sind es maximal zehn pro Jahr und es schließen auch viele.«
Doch die Schwäche der Mikrobrauereien ist zugleich auch ihre Stärke – David gegen Goliath, Massenkonsum gegen Nachhaltigkeit, Globalisierung gegen lokales Geschichtsbewusstsein. Wenn es darum geht, treue Fans zu gewinnen, haben die »Kleinen« einfach die bessere Geschichte zu erzählen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Brauerei Únětický pivovar im Prager Vorort Aunjetitz/Únětice.
Bereits 1557 wurde hier Bier gebraut, das heutige Brauhaus stammt aus dem Jahr 1710. In der Bar kann man eine alte Steinsäule bewundern, auf der eingemeißelt steht, dass sich hier einst die Mälzerei befand. Das Ehepaar Tkadlec hat bei der Rekonstruktion des Geländes streng auf Authentizität geachtet, alles erinnert an die lange Geschichte, selbst die Lastwagen im Hof strahlen Nostalgie aus. Im Biergarten mit dem plätschernden Bach im Hintergrund scheint die Zeit stillzustehen.
Die Story stimmt. Und ihre Wirkung auch. In Scharen strömen die Pragerinnen und Prager aus dem Zentrum hierher, sobald das Wetter es zulässt. Selbst an normalen Wochentagen ist es mittags keineswegs selbstverständlich, einen Platz zu ergattern. Vor allem bei kreativen Köpfen und trendbewussten Stadtmenschen hat sich das Bier längst zum Kult entwickelt, ob in Flaschen oder vom Fass. Mittlerweile ist es in zahlreichen Restaurants, Bars, Geschäften und auf Märkten zu finden. Um die Haltbarkeit muss sich der Familienbetrieb offenbar jedenfalls keine Sorge machen.