Die napoleonischen Kriege, Hungersnöte, Glaubenskämpfe und ein Überwachungsstaat unter König Friedrich I. von Württemberg veranlassten Anfang des 19. Jahrhunderts viele Württemberger, ihre Heimat Richtung russländisches Reich zu verlassen. Einige von ihnen gründeten Kolonien im heutigen Georgien. Im Zweiten Weltkrieg wurden fast alle Deutschen aus Georgien zwangsweise deportiert. Was ist heute von ihrer einst reichsten und größten Siedlung Katharinenfeld/Bolnissi geblieben? Von Ira Peter
Juli 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1436
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Tamara Tumaeva präsentiert in ihrem Keller den Wein, den ihr Sohn aus dem »Wingert« gewinnt. © Arthur Bauer

Man solle auf die Bewässerungskanäle links und rechts der Straße achten, sagt der Fahrer Lado, als wir das Ortsschild von Katharinenfeld passieren. Die hätten die Deutschen hier im Süden Georgiens vor über 200 Jahren angelegt. Nicht wenige Touristen kommen in die ehemals deutsche Kolonie, erzählt Lado und lenkt den Blick nach rechts zu einem modernen schwarzen Bau – einem Ableger des georgischen Nationalmuseums. Ein großer Raum sei allein der deutschen Geschichte Katharinenfelds gewidmet. Vor einem einstöckigen grauen Haus hält er an. Vor der Tür wartet schon eine zierliche Frau.

Es ist Tamara, 84 Jahre alt. Sie ist eine der letzten Schwäbinnen von Katharinenfeld/Bolnissi, einer Kleinstadt 60 Kilometer südlich von Georgiens Hauptstadt Tiflis/Tbilissi. Sofort führt die kleine Frau mit den braunen Haaren in ihre Küche und füllt die Teller. »Kommt, ich gebe euch noch mehr Suppe«, sagt sie wenig später auf Russisch und ergänzt auf Schwäbisch: »A bissle.« Dazu reicht sie Brot. »Tunke, tunke. Des Brot do neitunke.«

Bis 1941 lebten noch 6.500 Deutsche in der Stadt, sagt Oliver Reisner, Professor für Europa- und Kaukasienstudien an der Staatlichen Ilia Universität in Tbilissi. Er lebt seit 30 Jahren in Georgiens Hauptstadt und hat 2015 einen Verein zur Bewahrung des deutschen Kulturguts im Südkaukasus gegründet. Die meisten Katharinenfelder, erklärt er, seien zu diesem Zeitpunkt Nachkommen von Württembergern gewesen, die Anfang des 19. Jahrhunderts den Versprechen des russischen Kaisers Alexander I. gefolgt waren. Dieser wollte seine neu eroberten Gebiete im Südkaukasus besiedeln und bot neben kostenfreiem Land auch Glaubens- und Steuerfreiheit. Die von Hungersnöten, Kirchenstreitigkeiten und einem despotischen König gebeutelten Süddeutschen hatten wenig zu verlieren und gründeten in der Nähe von Tiflis erste Siedlungen.

In der ehemaligen Kirche trainieren mittlerweile Jugendliche Handball. © Arthur Bauer© Privatarchiv Wolfram Burghardt

Katharinenfeld war eine von ihnen und sie wurde die größte und wirtschaftlich erfolgreichste kaukasusdeutsche Siedlung des heutigen Georgien. Anfangs machten die ungewohnt heißen Sommer den Schwaben zu schaffen. Im Winter wiederum schützten die einfachen Erd- oder Lehmhütten sie kaum vor Wind und Schnee. Es fehlte an Trinkwasser. Säuglinge starben an Durchfall, Erwachsene an Malaria und Typhus. Doch die bei den georgischen Nachbarn schnell als fleißig geltenden Protestanten ließen sich nicht entmutigen. Auch nicht von Überfällen durch Nachbarvölker wie Tataren und Perser, ergänzt der Historiker Reisner.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts blühen die Kolonien dank ausgeklügelten Bewässerungssystemen, des erfolgreichen Getreide-, Gemüse- und Obsthandels, der effizienten Milch- und Geflügelwirtschaft sowie der Imkerei. Besonders in der Weinproduktion erarbeiten sich die Kaukasusdeutschen eine wichtige Marktposition im Zarenreich. »Sie brachten ihr ganzes Knowhow vom Weinanbau aus Schwaben mit und haben das im Südkaukasus benutzt«, sagt Reisner.

Auch die Familie von Tamara betrieb Weinanbau, bis die Rote Armee Georgien 1921 besetzte und die darauffolgende Zwangskollektivierung die Familienbetriebe auflöste. Alle deutschen Kolonien verloren in der neu gegründeten Sowjetunion ihre wirtschaftliche, religiöse und kulturelle Eigenständigkeit. Auch ihre deutschen Namen: Katharinenfeld wurde zunächst nach der Sozialistin Rosa Luxemburg umbenannt bevor es 1946 den Namen Bolnissi erhielt.

Die Folgen der Enteignung und Verfolgung führten Anfang der 1930er Jahre zu einer schweren Hungersnot in allen Sowjetrepubliken. Tamara stellt duftenden Kaffee auf den Tisch, setzt sich kurz hin und springt wieder auf, um Süßigkeiten zu holen. Sie könne nie stillsitzen, entschuldigt sie sich: »Schaffe, immer schaffe.« Das musste sie schon als Kind. Fleiß war Pflicht und Ordnung etwas, wovon ihre schwäbische Mutter nahezu besessen war.

1941 bricht die große Katastrophe über Tamaras Familie und alle Deutschen in der Sowjetunion herein. Stalin und Hitler befinden sich im Krieg. Die fast eine Million Deutschen in der Sowjetunion gelten nun als potenzielle Kollaborateure des Naziregimes. Ab August werden alle Deutschen westlich des Ural, ob von der Wolga oder aus der Südukraine, ostwärts nach Sibirien und Nordkasachstan deportiert. Im Oktober trifft die Enteignung und Zwangsumsiedlung auch die Kaukasusdeutschen.

Weil Tamaras Vater Armenier ist und ihre Familie seinen Nachnamen trägt, entgehen sie der Deportation. Andere deutsche Verwandte von Tamara nicht. Einige, wie beispielsweise Tamaras Großmutter, sterben bereits bei der Überquerung des Kaspischen Meeres auf dem Weg nach Kasachstan. Als die Deutschen innerhalb weniger Tage aus Katharinenfeld verschwinden, ziehen andere Menschen, meist aus den Bergregionen Georgiens, in ihre Häuser. Plötzlich hört man kein Deutsch mehr auf den Straßen in Katharinenfeld. Bei Tamara zu Hause wird trotzdem weiterhin Schwäbisch gesprochen: »Mei Mama, mei Schwesta, mer schwätze olle Schwäbisch. Kei onnere Sproch wisse mer nett.« Ihre 92-jährige Schwester Sofia sei nun die letzte, mit der sie ihre Muttersprache sprechen kann. Sie wohnt einige Häuser weiter.

Alte Fachwerkhäuser der Kaukasusdeutschen stehen auch 200 Jahre später in Katharinenfeld. © Arthur BauerDer Strom ausgefallen, die Fenster abgedunkelt: Nataliia Vusatiuk arbeitet mit einer Powerbank und Taschenlampe an ihrem Manuskript. Foto: © Andrii Vusatiuk

Trotzdem ist das Erbe der Schwaben noch immer sichtbar. „Katharinenfeld und die meisten der 23 anderen noch existierenden deutschen Dörfer sind in ihrer Struktur meist erhalten“, sagt Oliver Reisner. In Katharinenfeld befinden sich noch 400 der typischen deutschen Fachwerkhäuser, oft mit überhängenden Holzbalkonen und Giebeldächern. An manche hat der Verein 2017 im Rahmen eines von Georgien und Deutschland geförderten Projekts zur 200-Jahrfeier der Kaukassusdeutschen Erinnerungstafeln auf Georgisch und Deutsch angebracht. Ein Teil der Gebäude ist jedoch im Verfall oder stark umgebaut. »Die heutigen Bewohner haben nicht die Mittel und auch nicht das Wissen, um sie zu erhalten. Da versuchen wir als Verein Hilfestellung zu geben«, ergänzt der Historiker.

Die Stadtverwaltung von Katharinenfeld erkenne zunehmend neben dem kulturellen auch den ökonomischen Wert des deutschen Erbes. Straßenschilder auf Georgisch und Deutsch weisen Touristen den Weg durch das »Altdeutsche Viertel«. Es gibt Führungen zur deutschen Geschichte und seit 2013 ein Hotel mit Restaurant, das sich auf Nachfahren der Kaukasusdeutschen eingestellt hat. »Es kommen sehr viele Kinder und Enkel der Deportierten zu uns. Die erzählen mir so viele Geschichten. Irgendwann werde ich sie in meinen Memoiren aufschreiben«, sagt David Mtschedlidze, Manager der Deutschen Mühle.

Zu solchen Enkeln gehört auch Doris Bidlingmaier. Ihr Vorfahre Johannes Bidlingmaier aus Plochingen bei Esslingen gehörte zu den Gründern von Katharinenfeld. Im November 2022 besuchte sie zum ersten Mal die einstige Kolonie. »Ich fand die Umgebung mit dem langgestreckten Tal und den grünen Hügeln drum herum wunderschön«, sagt die 34-Jährige. »Ich habe versucht, mich hineinzuversetzen in das Leben meiner Großeltern, wie die vielleicht auf der Straße gelaufen sind, Ausflüge in die Berge gemacht haben oder zum Fluss gegangen sind. All diese Geschichten, die ich gehört habe.« Ein entfernter Verwandter aus Tbilissi zeigt ihr die drei noch erhaltenen Häuser ihrer Großeltern – wertvolle Eindrücke für die junge Frau aus Berlin, die sie ihrer Identität als Russlanddeutsche näherbringen.

Zum Schluss zeigt uns Tamara ihren Gewölbekeller. Er verfügt, wie die meisten deutschen Gewölbekeller in Katharinenfeld, über ein spezielles Belüftungssystem, das im Sommer und im Winter konstant für 14 Grad sorgt. Im Keller stapeln sich leere Plastikkisten. Ein alter Schrank mit Holzschnitzereien aus dunklem Holz und Spiegeln steht an einer Wand. Aus einer dunklen Ecke holt die 84-Jährige eine große Plastikflasche mit Wein. Die Familie besitze einen »Wingert«, einen Weingarten. Ihr Sohn bearbeite ihn: »Der schaut auf de Mama sei Traub. Ganz gwiss: De Wingert werd er niemols verkofe.« Den Wein gibt sie mit, er sei gesund, »wie Medizin«. Lange winkt sie hinterher, in ihrer Haustür stehend, Tamara, eine der letzten Schwäbinnen von Georgien.