Kilometerlange Strände, unberührte Natur und Lebensraum für unzählige Fisch-, Vogel- und Pflanzenarten. Dennoch sind die Frische Nehrung und das Haff auf polnischer Seite ein wenig in Vergessenheit geraten – zu sehr ist die periphere Lage an der russischen Grenze ein Nachteil für die Geschäftswelt und auf Touristen üben das nahe Danzig/Gdańsk und Masuren eine größere Anziehungskraft aus. Ein Kanal durch die Nehrung soll die Region aus dem Dornröschenschlaf wecken, ruft aber auch Widerstand hervor. Ein Besuch von Markus Nowak im Nordosten Polens.
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© Markus Nowak

Grün-gräulich schimmert das Wasser des Frischen Haffs. Die Fischerboote schaukeln noch unbeladen in den ruhigen Wellen. Am Horizont ist das Festland zu sehen, Ermland/Warmia. Außerhalb der Saison ist morgens am kleinen Fischerhafen von Neukrug/Piaski an der Nehrung nicht viel los. Die einzigen, die sich hier rumtreiben, sind Mirek und Rafał. Sie schlüpfen in wasserdichte Blaumänner, ziehen sich Gummistiefel und Handschuhe an und steigen in ihr Boot »Pia 41«. Mirek steuert den kleinen Kahn, Rafał sitzt an der Reling und raucht.

Die Fahrt zu den ersten Netzen, die die beiden Fischer ansteuern, dauert knapp zehn Minuten. Es bleibt Zeit zum Gespräch. Der fünfzigjährige Mirek erzählt, wie er zu seinem Beruf gekommen ist. Schon als Kind wusste er, dass er fischen wollte, auch wenn sein Vater dagegen war. Seit 1993 betreibt er die Fischerei nun berufsmäßig. »Mein Sohn will später aber was anderes machen«, sagt Mirek. »Soll er doch, wer weiß, ob es in zehn Jahren hier noch Fische gibt.«

An der ersten Reuse hieven die beiden ein Netz voller Fische ins Boot und beginnen mit dem Sortieren. Zander in die eine Wanne, Brasse in die andere, kleinere Fische werden wieder zurück ins Wasser geworfen. Fast wie das Sortieren von Sockenpaaren nach dem Waschen. Auf dem Weg zur nächsten Reuse schwadronieren Mirek und Rafał von früher, wie sie mit dem Auto nach Frauenburg/Frombork gefahren sind. Auf direktem Weg über das vereiste Haff. »Aber es gibt ja keine Winter mehr«, sagt Mirek und meint damit die Folgen des Klimawandels.

»Der Fischfang ist im Frühjahr einfach besser.« Wenn das Haff nach dem Winter wieder taue. Ob sie Folgen des Klimawandels fürchten, etwa weniger Fisch im Haff? »Zander gab es neulich kaum noch«, sagt Mirek. Dafür sei vergangenes Jahr viel Hering gefangen worden. Es gebe ja genug Fisch, eben nur von Jahr zu Jahr anders. »Man wird sicher mehr saisonale Fangquoten einführen«, erwartet Mirek. Nachdem sie am Vormittag acht Reusen angesteuert haben, fahren sie mit mehreren Wannen voller Fisch den Hafen von Neukrug an. Er bildet die letzte Siedlung vor der Grenze zur russischen Exklave.
Wollten die Fischer auf der Ostsee fangen, mussten sie bisher über das Pillauer Tief auf der russischen Seite des Haffs bis ans Meer fahren. Seit dem 17. September 2022 ist das nicht mehr nötig.

KK 1436 08 013 Nowak Fluch oder Segen Fischer 1200x800Die Fischer Mirek und Rafał holen Fische aus einer Reuse ins Boot. © Markus Nowak

Symbolisch am 83. Jahrestag des sowjetischen Einmarsches in Ostpolen 1939 wurde der Kanal durch die Frische Nehrung eröffnet. Für den »Haffdurchstich« östlich vom Dorf Vogelsang/Skowronki gibt es nun eine durchaus beeindruckende Wasserstraße mit einer Länge von 1,3 Kilometern, einer Breite von vierzig Metern an der Kanalsohle und achtzig Metern an der Oberfläche sowie einer Tiefe von fünf Metern. Schiffe mit einer Länge von hundert und einer Breite von zwanzig Metern können ihn passieren.

Beeindruckend, auch weil der Bau innerhalb weniger Jahre realisiert wurde: 2016 wurde unter der heute regierenden PiS-Partei der Regierungsbeschluss gefasst, einen Wasserweg zwischen Haff und Danziger Bucht zu bauen. 2019 wurde – trotz Protesten von Ökologen und zivilgesellschaftlichen Gruppen – damit begonnen und der Zeitplan bis 2022 tatsächlich eingehalten. Nicht nur für Elbing/Elbląg, sondern für einen kilometerlangen Teil der polnischen Küste eröffne der Kanal neue Möglichkeiten, sagte damals Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki. »Wir sprengen die letzten Fesseln unserer Abhängigkeit von der Sowjetunion und später von Russland.« Worte, die angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und einer schon zuvor fast zum Erliegen gekommenen Zusammenarbeit mit Russland durchaus eine Berechtigung haben.

Von einer großen Chance spricht auch Arkadiusz Zgliński. Er ist Direktor des Elbinger Hafens und bei einem kurzen Rundgang geht er tiefer ins Detail. Neben wirtschaftlichen Argumenten bringt er auch die Geschichte der Stadt ins Spiel. Der Kanal sei nichts anderes als »die Wiederherstellung des früheren Glanzes und der früheren Logistikmöglichkeiten von Elbing und dem Hafen«. Vor 1945 sei Elbing eine wichtige Hafenstadt gewesen, die im Mittelalter sogar zur Hanse gehört hatte. Er deutet auf die einstigen Produktionshallen von Ferdinand Schichau, einem Maschinenbauer aus dem 19. Jahrhundert. Der hatte die nach ihm benannten Schichau-Werke gegründet. Bis zum Ersten Weltkrieg bauten sie über 2 000 Lokomotiven sowie rund 1 000 Boote und Schiffe. Von einigen hängen Bilder im Flur von Zglińskis Büro. Der Glanz dieser Jahre gehört seit langem zur Vergangenheit. Auch der Hafen verlor an Bedeutung. Der Zweite Weltkrieg war eine große Zäsur, später der Beitritt zur Europäischen Union. Die russische Annexion der Krim 2014 und zuletzt der groß angelegte russische Angriff auf die Ukraine machten den Transport über das Haff und das Pillauer Tief immer schwieriger. Zudem wurde die schon unter Schichau auf fünf Meter vertiefte Fahrrinne in Elbing inzwischen wieder zu seicht.

Vertiefung der Fahrrinne umstritten

Sie ist auch derzeit der Flaschenhals. Schiffe mit bis zu 4,5 Metern Tiefgang und 5 000 Tonnen Tragfähigkeit können den Hafen auch weiterhin nicht anlaufen, bei 1 000 Tonnen ist Schluss. Wegen der Vertiefung der Hafeneinfahrt ist die Stadt Elbing mit dem polnischen Staat im Clinch und auch mit Naturschützenden, die darin einen unnötigen Eingriff in die Natur sehen. Wie übrigens auch in dem Haffdurchstich selbst.

Einer, der diese Meinung vertritt, ist Michał Goc. Der mittlerweile emeritierte Biologe der Universität Danzig untersucht seit vierzig Jahren die Frische Nehrung und das Haff. Sein Spezialgebiet als Ornithologe sind Kormorane, die Jahr für Jahr zwischen der Ostsee und dem Haff siedeln. Das Kormoran-Reservat beim Dorf Bodenwinkel/Kąty Rybackie besteht seit den 1950er Jahren, sagt er auf dem Weg durch den Wald zum Vogelschutzgebiet. Wobei auch schon vor dem Krieg Kormoran-Kolonien rund um das Haff bestanden haben.

Nach 15 Minuten Waten durch das dichte Gehölz schwillt die Geräuschkulisse an: Die jungen Kormorane tun lautstark schreiend ihren Hunger kund, während sie auf Nahrung warten, die ihnen die Muttertiere bringen. Mit dem Vogelgeschrei wächst auch der beißende Geruch nach verwesendem Fisch und anderen organischen Abfällen. Kormorane sind Fischfresser und ihr Kot greift besonders die Bäume an, auf denen sie nisten: Zweige, Äste, ganze Stämme verfärben sich weiß, sterben ab und fallen auf den Boden. Goc hat ein Satellitenbild von dem Reservat mitgebracht: Eine gespenstische Brache von mehreren Hektar Umfang ist darauf zu sehen, während das Vogelreservat sich weiter auf die noch gesunden Bäume ausdehnt.

2 689 Kormoranpaare brüten in diesem Jahr hier, sagt er und zeigt eine Statistik, die er selbst seit 1986 pflegt. In der Spitze waren es fast 12 000 Paare – von 2004 bis 2006. »Ökologisches Defizit wird das in der Biologie genannt«, sagt Goc. Also eine Überlastung des Ökosystems. Ob es damals mehr Fisch gab, weil es dem Haff besser ging? Komplizierte Frage. Die Kormoranpopulation kann auf den Zustand der Ostsee und des Haffs hindeuten. »Wenn in einem der Gewässer der Fisch abnimmt, nimmt damit auch die Vogelpopulation ab«, sagt der Ornithologe. »Dabei muss es sich aber nicht zwangsläufig um die Abnahme des gesamten Fischbestandes handeln, es kann sich auch lediglich die Zusammensetzung der Fischfauna verändert haben.« Manche Fische fressen die Kormorane nicht so gern. Und genau darum konkurriert er mit den Menschen um Fische. »Sie werden daher von Fischern und Förstern als Schädlinge gesehen.« In preußischer Zeit wurde sogar das Militär eingesetzt, um die Kormorankolonien zu dezimieren. Man schoss auf die Vögel oder fällte die Nistbäume. Mittlerweile steht der Vogel unter Artenschutz.

KK 1436 08 013 Nowak Fluch oder Segen Kormorane 1200x800Das Kormoran-Reservat in Vogelsang. © Markus Nowak

Ob der Haffdurchstich und eine irgendwann zu erwartende Zunahme des Schiffsverkehrs an der Vogelpopulation etwas ändern wird? Immerhin soll mit dem Schlamm der vertieften Fahrrinne eine künstliche Insel mitten auf dem Haff errichtet werden, auf der die Vögel in Ruhe brüten können. Goc stellt sich an die Seite der Kanalgegner: »Ich denke, es wird mehr Schaden angerichtet, obwohl es schwer einzuschätzen ist, ob dieser katastrophal oder nur gering sein wird. In jedem Fall wird sich das gesamte Ökosystem verändern«, ist er sich sicher.

Während die einen in die Zukunft zu schauen versuchen, blicken die anderen in die Vergangenheit. So etwa Bartosz Skop, Historiker am Museum der Marienburg/Malbork und gebürtiger Elbinger. Vor rund eintausend Jahren war ein Durchstich des Haffs noch gar nicht nötig, sagt er: »Im 13. Jahrhundert war die Danziger Bucht direkt vom Haff zu erreichen, die Nehrung hat sich erst später zu einer geschlossenen Landzunge herausgebildet.« Erste Durchstichpläne gab es schon im 16. Jahrhundert, während einer der Belagerungen Danzigs.

Ganz andere Ideen kamen im 19. Jahrhundert auf, als wiederum die Trockenlegung des Haffs überlegt wurde. In den 1930er Jahren brachte der Magistrat der Stadt Elbing eine Machbarkeitsstudie auf den Weg. Er überlegte, 65 Prozent der Fläche des Haffs für Ansiedlung und Landwirtschaft trockenlegen und umgestalten zu lassen, weiß Skop. Ein Kanal sollte von Elbing raus aufs Meer führen.

Erneut auf die Agenda kam der Haffdurchstich nach der politischen Wende 1989 und es dauerte über dreißig weitere Jahre, bis er endlich realisiert wurde. Schon während des Baus beobachtete Skop eine Zunahme des Interesses für die Region gerade auch innerhalb Polens.

Das erhofft sich der Danziger Geschäftsmann Marian Kaczmarek, Besitzer eines Hotels in Cadinen/Kadyny auf der südlichen Seite des Haffs. Einst gehörte das Gut Kaiser Wilhelm II., der es zu seiner Sommerresidenz ausbauen ließ – samt Gestüt mit Trakehner- und Holsteiner-Pferden sowie einer eigenen Schnapsbrennerei. »Das ist ein magischer Ort«, sagt Kaczmarek. Er schwärmt von der unberührten Natur, der Ruhe, aber auch den verschiedenen Aktivitäten, die auf seine Hotelgäste warten. Waren es einst sogenannte »Heimwehtouristen«, seien es nun vermehrt polnische Reisende, die das in malerischer Landschaft gelegene Gut besuchen, sagt er.

Am neuen Kanal durch die Nehrung liegt das wohl aber nicht, auch wenn Kaczmarek glaubt, der werde mehr Segeltouristen nach Cadinen locken. Im ganzen Mai 2023 passierten Zeitungsberichten zufolge 159 Wasserfahrzeuge den Hafen Nowy Swiat (»Neue Welt«) zwischen Haff und Ostsee, davon waren zwei Drittel Sportboote.

Mirek und Rafał bereiten ihr Boot für den nächsten Tag vor, um wieder hinauszufahren und die Fische aus den Reusen einzuholen. Sie können aufatmen, denn ein übermäßiger Freizeitverkehr ist – besonders im östlichen Teil des Haffs – noch nicht zu beobachten. Und Fische wird es hoffentlich auch weiterhin geben.