Die alte Flasche mit einem halb abgeriebenen Etikett steht auf einem Tisch, daneben ein Bierkrug mit dem Brandenburger Tor darauf, an der Wand hängt eine alte Uhr, der Beschreibung zufolge von 1896, und ein paar alte Fotografien. Wenn Roman Sybal Besucherinnen und Besuchern die Brauerei Vietz/Witnica zeigt, dann beginnt er seinen Rundgang immer in der »Handke-Ecke«. Sie liegt im dritten Stockwerk des Gebäudes, das Ernst Ferdinand Handke 1899 baute und in dem genau einhundert Jahre lang bis 1999 Malz hergestellt wurde.
»Wir beginnen die Zeitrechnung der Brauerei 1848, als Handke sie noch von der Familie Feuerherm pachtete«, setzt Sybal an. Brauerei samt Gastwirtschaft, die er 1856 erwarb. Bier gebraut wurde hier in Vietz aber bereits vorher: Wie auch andernorts stellten Ordensleute in ihren Klostermauern schon im Mittelalter »Gerstensaft« als Alternative zum verunreinigten Wasser her. Vietz war damals im Besitz des Zisterzienserklosters von Himmelstädt, heute polnisch Mironice, das ein Privileg zum Bierbrauen auf seinen Landgütern besaß.
»Handke stellte ober- und untergärige Biere her«, erzählt der 78-jährige Brauereiführer, der selbst zwischen 1988 und 2013 in der Bierproduktion in Vietz mitgearbeitet hat. Später beim Rundgang durch die Brauerei wird er noch den Unterschied der beiden Gärmethoden erklären. »Unter den Bieren damals war ein Pilsner, aber auch ein dunkles und ein helles Bier.«
175 Jahre später ist die Bierauswahl der Vietzer Brauerei fast schon unüberschaubar: Zählt man alkoholfreie Gerstensäfte dazu, brauen die siebzig Mitarbeitenden mehr als zwei Dutzend verschiedene Sorten, insgesamt 35 000 Hektoliter im Jahr. Nach Adam Riese sind das rund sieben Millionen Halbliterflaschen. Vom klassischen Hellen über ein höherprozentiges Porter und Weizenbier bis hin zu verschiedenen Aromen wie Honig, Himbeere oder ein Kirschbier. Sogar die Geschmacksrichtung Schokolade ist dabei und wenn man schon bei ungewöhnlichen Hopfenprodukten ist – auch ein Badezusatz wird hier hergestellt: »Badebier erhält hochwertige natürliche Inhaltsstoffe, die sich positiv auf Teint, Herz-Kreislauf-System und Stress auswirken«, heißt es dazu im Katalog.
»Im Prinzip gibt es keinen Unterschied, wie Bier damals gebraut wurde und wie wir es heute tun«, beantwortet Sybal die Frage, ob sich der Geschmack des Bieres im Laufe der Zeit verändert habe. »Wir arbeiten noch recht traditionell, also dürfte das Bier auch wie früher schmecken.« Weiterhin werde das Bier in den Tanks nicht unter Druck gegärt, sondern ihm Zeit gelassen. »Wir sprechen hier manchmal von Wochen und nicht von Stunden, wie in großen Brauereien«, berichtet Sybal. Einmal lagerte ein Porter-Bier fast drei Jahre lang. »Fast wie Wein.« Weiterhin werden die alten 150-Hektoliter-Tanks genutzt, die von Ernst Ferdinand Handke selbst eingebaut wurden, auch wenn sie zusätzlich durch größere ergänzt werden. Neben einem neuen, 56 Meter tiefen Brunnen wird Wasser auch von einer Quelle angezapft, die schon vor 1945 genutzt wurde.
Apropos 1945. Das Jahr bedeutete für die Brauerei wie für die gesamte Region eine große Zäsur. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Zuge von Flucht und Vertreibung wurde die Bevölkerung der Neumark fast komplett ausgetauscht. Die Deutschen mussten in den Westen fliehen oder wurden vertrieben, häufig nur wenige Kilometer westlich über die Oder ins heutige Bundesland Brandenburg. Angesiedelt wurden Polinnen und Polen aus verschiedenen Landesteilen, darunter auch sogenannte »Repatriierte«, wie die Volksrepublik Zwangsumgesiedelte aus den ehemals polnischen Ostgebieten euphemistisch nannte.
© Renate ZöllerAuch Sybals Familie stammt aus jenen Kresy, wie sie auf Polnisch bezeichnet werden, aus Lemberg/Lwiw in der heutigen Ukraine. Während der Tour durch das Museum und die Brauerei erzählt er, 1946 sei die Familie hierher, nur zwanzig Kilometer östlich der Oder, zwangsumgesiedelt worden. »Hier im Lebuser Land ist ein großes Durcheinander gewesen«, berichtet der 78-Jährige von der Nachkriegszeit. Lebuser Land oder Ziemia lubuska ist die in Polen übliche Bezeichnung für die Region. Damit wird versucht, eine Analogie zu dem vom polnischen Herrschergeschlecht der Piasten gegründeten Bistum Lebus herzustellen.
»Es wurde immer gesagt, wir werden wieder nach Lemberg zurückkehren«, erinnert sich Sybal an seine Kindheit in der nun polnischen Neumark. Im Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 erkannte zwar die DDR die Oder-Neiße-Linie als »Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen« an, ein völkerrechtlicher Grenzvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen kam allerdings erst am 14. November 1990 zustande. Dazwischen wurde die Oder-Neiße-Grenze immer wieder von Akteuren beiderseits der Flüsse politisch instrumentalisiert. Die polnische Bevölkerung lebte sinnbildlich auf gepackten Koffern und tat sich so nicht immer leicht mit der kulturellen Aneignung der ehemaligen deutschen Ostgebiete. Insbesondere in der Neumark, die einst gut über die Ostbahn an die Metropole Berlin angebunden war und nun zur Provinz im »tiefsten polnischen Westen« wurde.
Für die Brauerei in Vietz bedeutete die Zäsur 1945 nicht das Ende – anders als für viele andere Biermanufakturen in der Neumark: 97, die vor dem Zweiten Weltkrieg existiert haben, zählt das Brauerei-Museum in Vietz im Lebuser Land auf. Bis vor wenigen Jahren gab es davon noch vier, doch nun ist allein die Vietzer Brauerei geblieben. Angeblich sollte auch die Vietzer Bierproduktionsstätte abgebaut und in die Sowjetunion gebracht werden, wie viele andere Bierbetriebe der Region. Schließlich wurde sie aber durch den polnischen Staat nationalisiert. Der Name »Sternbräu« ging damit ein, fortan wurde das Bier unter dem Namen Browar Witnica hergestellt und verkauft. Von den deutschen Ursprüngen der Brauerei wurde in der polnischen Nachkriegszeit nicht gesprochen, sagt Sybal.
Der achtzackige Stern im Logo ist wieder zurück auf den Flaschen des Bieres Browar Witnica und auch der Verweis auf das Gründungsdatum 1848. »Das ist Teil unserer Geschichte – wieso sollten wir sie nicht erzählen?«, sagt Sybal, der als Ideengeber des Vietzer Biermuseums gilt. »Ohnehin sind alle Exponate bis 1945 mit deutschen Inschriften versehen.« Und dazu zählen nicht nur Gegenstände aus der Vietzer Brauerei: Die 2022 neu erschaffene dreistöckige Ausstellung in der alten Mälzerei versteht sich als »Museum des Lebuser Brauereihandwerks«. Sie ist durchgehend dreisprachig und mit einem deutschen Audioguide erschließbar.
Die Ausstellung stellt auch noch weitere Brauereien zwischen Oder und Bug vor. So ist ein großer Teil des Museums nicht mehr existierenden Brauhäusern in der Neumark gewidmet, darunter etwa der Kohlstock-Brauerei in Landsberg an der Warthe/Gorzów Wielkopolski oder der Bergschloss-Brauerei in Grünberg/Zielona Góra. Dabei wird deutlich: Die Neumark musste sich vor Böhmen oder Bayern als Bierregion nicht verstecken. Geht es nach dem ehemaligen Brauereimitarbeiter und Museumsführer Sybal, hat das auch mit der Gegend selbst zu tun. »Wir haben hier viele Wälder und viel Natur«, sagt er. »Und natürlich gute Luft und gutes Wasser.« Zudem wurde schon früher Hopfen in der Region um Vietz angebaut.
Hopfen findet sich sogar auf dem Wappen des heutigen Witnica wieder, ein Hinweis auf das einstige Anbaugebiet rund um die Stadt. Heute allerdings werde Hopfen aus ganz Polen und Europa eingekauft, sagt Sybal und klärt – an einem Tank mit einer vor 1945 angebrachten deutschsprachigen Plakette – den Unterschied zwischen obergärigem und untergärigem Bier. So benötigen obergärige Hefen für die Umwandlung von Zucker zu Alkohol eine Temperatur zwischen 15 und 20 Grad, untergärige Hefen nur vier bis neun Grad. Obergärige Biere sind beispielsweise Weißbier oder Weizen. Zu den untergärigen Bieren zählt das Pils.
Ob Pils, Weizen, Dunkles oder andere Arten: Eine letzte Anekdote aus der Geschichte der ehemals deutschen Brauerei erzählt Sybal, während er an einer Vitrine zur neueren Brauereigeschichte steht. Als im Zuge der Transformation Anfang der 1990er Jahre das Brauhaus privatisiert wurde, ging es nicht wie viele andere polnische Biermarken an große ausländische Unternehmen, sondern wurde eine Zeitlang als Mitarbeiterfirma geführt. In dieser Periode entstand – allerdings ganz unabhängig von der Privatisierung der Brauerei – die »Polnische Partei der Bierfreunde«, der auch Sybal als damaliger Mitarbeiter und Anteilseigner der Vietzer Brauerei beitrat. Bei den Wahlen 1991 wurden sogar 16 Abgeordnete ins Warschauer Parlament gewählt.
Als sich die Führung durch das Museum und die Brauerei dem Ende zuneigt, lässt Sybal die Besucher selbst Hand anlegen und Bier brauen. Virtuell, aber doch mit einem flüssigen Endergebnis: Auf einem Bildschirm kann ausgewählt werden, welcher Hopfen, Malz und Hefe für ein ganz individuelles Bier genutzt werden – und nach wenigen Augenblicken läuft tatsächlich ein Gerstensaft aus dem Zapfhahn. Den Brauprozess dieses schnellen Bieres verrät Sybal nicht, lacht aber und sagt: »Na zdrowie! Prost!«