Monika Grütters steht zwischen Leiterwagen, Körben, Bildern und Koffern, mit denen die Vertriebenen ihre Heimat verlassen haben, und schaut sich um. Es ist der 12. Oktober 2020 und die Kulturstaatsministerin eröffnet das Sudetendeutsche Museum in München, eine 1 200 Quadratmeter große Ausstellung über »die deutsche Siedlungs- und Kulturgeschichte im östlichen Europa, die Teil des geschichtlichen Erbes aller Deutschen ist und bis heute unsere Gesellschaft und Identität prägt«, wie sie im Grußwort sagt. Jubelstimmung kommt jedoch nicht auf: Wegen der strengen Corona-Schutzvorschriften müssen Mitarbeitende, die die Ausstellung jahrelang mit vorbereitet haben, zu Hause oder auf Abstand im Büro bleiben. Und: Nur wenige Tage später wird das Sudetendeutsche Museum im Zuge des »Lockdown light« im Herbst 2020 wieder geschlossen.
»Das war wie ein Schlag ins Gesicht für das Museumsteam«, erinnert sich Daniel Mielcarek, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit. Die Museumspforten blieben gleich sieben Monate lang geschlossen. Als das Haus nach der »Bundesnotbremse« im Frühjahr 2021 erneut eröffnen konnte, hatte Bayern strenge Vorschriften, was Besuche von öffentlichen Orten betraf. Die sogenannten 3G- und Abstands-Regeln galten, zudem war eine zusätzliche Anmeldung Pflicht. »Wir hatten dadurch nur wenig Zulauf«, erinnert sich Mielcarek. Erst 2022 war für das Haus »das erste richtige Öffnungsjahr«, man habe ein großes Sommerfest gefeiert und im Zuge der Langen Nacht der Museen wurde im Oktober sogar eine vierstellige Zahl von Besucherinnen und Besuchern innerhalb nur eines Tages – bzw. einer Nacht – erreicht, berichtet der Museumsmitarbeiter mit Stolz. Im Vergleich: Zwischenzeitlich konnten wegen der 1,5-Meter-Abstandsregel lediglich zwanzig Interessierte gleichzeitig die Ausstellung sehen. Dabei ist ihre Fläche etwa so groß wie zwei Tennisplätze. Ein Teil der Belegschaft war daher in Kurzarbeit.
»Die Corona-Pandemie hat uns zum Umdenken angetrieben«, sagt Mielcarek und gibt ein Beispiel, wie die Museumspädagogik mit kreativen Formaten das Beste aus der Lage gemacht hat. So wurde, als im Haus Maskenpflicht herrschte, ein Maskenmalworkshop für Kinder organisiert. Das Team wollte auch die geplanten Sonderausstellungen umsetzen – trotz oder mitten im Lockdown, sagt Mielcarek. »Wir haben gearbeitet, als gäbe es kein Corona.« Doch die Pandemie und die mit ihr verbundenen Beschränkungen setzten dem Grenzen. »Wir mussten die Vernissagen runterkurbeln.« Also wurden die Sonderschauen auch digitalisiert, damit zumindest ein Online-Rundgang angeboten werden konnte. »Wir denken schon seit Jahren in digitalen Dimensionen«, sagt Mielcarek. »Dadurch haben wir uns schnell in neue, digitale Formate reingefuchst.« Er resümiert nach drei Jahren Pandemie: »Corona hat das Leben schwer gemacht.«
Von der Isar an die Oder, wo die Corona-Pandemie ein gegenteiliges Resümee hinterlassen hat. »Für uns brachte die Corona-Situation sogar einen Vorteil«, berichtet Weronika Wiese. Sie ist die Leiterin des »Dokumentations- und Ausstellungszentrums der Deutschen in Polen« in Oppeln/Opole und, nachdem das Ausstellungshaus unter dem Dach der Woiwodschaftsbibliothek residiert, zugleich deren Vizedirektorin. 2019 hatte die deutsche Minderheit in der Oderstadt – unter anderem mit finanzieller Unterstützung des Bundes – ein Gebäude erworben. Die Sanierung sollte 2020 beginnen und fiel in die Pandemiezeit. »Wir befinden uns mitten in der Altstadt von Oppeln, in der Straße gibt es viele Restaurants und Bars«, erklärt Wiese. Lockdown-bedingt hatten diese geschlossen. »So konnten wir ohne Probleme und ohne Konflikte mit den Nachbarn die Sanierung durchführen.«
Allerdings hatte die ausführende Baufirma – bedingt durch die Grenzschließungen – Schwierigkeiten, ihre Mitarbeiter aus der Ukraine nach Oppeln zu bekommen, und auch auf multimediale Ausstellungselemente, wie Projektoren oder Bildschirme, musste man an der Oder länger warten. Aber mit einer kleinen Verspätung konnte das Haus im Herbst 2022 öffnen. Die Grenzschließungen seien allgemein eine große Herausforderung gewesen. Viele Mitglieder der deutschen Minderheit in Schlesien hätten auch westlich der Oder Verwandtschaft oder gar ihre Arbeitsstelle, die nur noch mit einer langen Quarantäne aufgesucht werden konnte, erzählt Wiese.
Die Leiterin des Hauses hat das am eigenen Leib erlebt: »Mein Bruder studiert in Dänemark und hatte von einem auf den anderen Tag keine Möglichkeit, nach Polen zurückzukommen«, erinnert sie sich. »Ich bin mit meinem Wagen hingefahren, um ihn abzuholen.« Unterwegs hörten beide über Radio von den bevorstehenden Grenzschließungen und mussten sich beeilen. »Das klingt heute spannend, damals aber haben wir anders darüber gedacht.« Auch der Alltag der Minderheit änderte sich. Die Deutschen Freundschaftskreise konnten sich nicht treffen, mancherorts fanden sie – auch als die Auflagen gelockert wurden – nicht mehr zusammen. Andererseits konnten neue Ideen umgesetzt werden, berichtet Wiese. So organisierten Minderheitenverbände Sprachkurse und Vorträge auf Deutsch. »Weil die Menschen viel zuhause waren, konnten sie an vielen Veranstaltungen teilnehmen.« Bis heute werde bei Einladungen noch gefragt, ob die Veranstaltungen auch online gestreamt werden, und die Kurse finden weiterhin digital statt.
Aufs »Digitale« setzte auch das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam. Wobei nicht alles von Anfang an reibungslos verlief. »Gerade im ersten Lockdown sind wir ins kalte Wasser gesprungen«, erzählt Vera Schneider. Als Verantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit war sie Impulsgeberin für die »digitale Durchführung« des Veranstaltungsprogramms, insbesondere zu Beginn der Pandemie. Der Potsdamer Verein verfügt anders als etwa Museen über keine eigenen Veranstaltungsräume und war dadurch sehr auf seine Kooperationspartner angewiesen.
»Wir wollten aber nicht einfach unser Programm verwerfen oder alles nur auf die Nach-Lockdown-Zeit verschieben«, erinnert sich die promovierte Germanistin und Theaterwissenschaftlerin. So wurden etwa Podiumsdiskussionen direkt vom heimischen Computer aus organisiert und viele andere Veranstaltungen, wenn nicht direkt gestreamt, so zumindest gekürzt als YouTube-Premieren präsentiert. »An manchen Online-Terminen nahmen mehr Interessierte teil, als wenn wir sie vor Ort durchführen«, sagt Schneider im Blick auf die Klickzahlen etwa bei YouTube. Der Kanal des Kulturforums wuchs auch durch abwechslungsreich gedrehte Buchpräsentationsfilme auf mehr als tausend Abos an, das erfolgreichste Video hat über 40 000 Aufrufe.
Neben YouTube wurden weitere digitale Plattformen für die Verbreitung von Inhalten genutzt. Das Kulturforum startete mit Von Asch bis Zips: Der Osten für die Ohren einen neuen Podcast auf mehreren Streaming-Diensten. »Die Arbeit wurde in der Zeit der Lockdowns nicht weniger«, berichtet Schneider. Zwar fielen die Anfahrtswege ins Büro weg, weil die Mitarbeitenden im Homeoffice waren, der Gesprächs- und der Koordinierungsbedarf wurden dadurch aber nicht kleiner, eher im Gegenteil. »Das unmittelbare Miteinander als Team fehlte vielen«, erläutert Schneider und berichtet, wie zwischendurch etwa eine »digitale Kaffeepause« eingeführt wurde. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter konnten sich auf einem Zoom-Kanal zuschalten und jenseits von Dienstlichem den sonst auf dem Flur üblichen Smalltalk halten.
Solche Zoom-Gesprächsräume sind seit der Pandemie nicht nur in Potsdam bekannt. Die Unterhaltung mit Nicola Remig vom Haus Schlesien in Königswinter-Heisterbacherrott beginnt mit Komplikationen. Erst muss sie eine ganze Weile im »Wartezimmer« der Zoom-Konferenz ausharren. Als sie schließlich zu sehen ist, versagt das Mikrofon und ein technikaffiner Kollege wird zu Hilfe gerufen. Der ideale Einstand für ein Gespräch darüber, was für einen Einschnitt Corona bei der Arbeit mit sich brachte. »Erst schien es uns ganz praktisch, zuhause in Ruhe und ohne Unter-brechungen unsere To-do-Listen abarbeiten zu können«, sagt Remig. »Aber es stellte sich doch heraus, dass es ganz schön kompliziert war, immer alle auf dem Laufenden zu halten.« Die Situation im Haus Schlesien war speziell, denn: Schon 2019 waren die Gelder für einen Umbau der Ausstellungsräumlichkeiten genehmigt worden, 2020, mitten im Covid-Chaos, begannen die Bauarbeiten.
Das war angesichts der ständig neuen Regelungen und Unwägbarkeiten ein ungeheurer Stress. Zugleich war es schön, dass keine Gäste von Lärm und Staub belästigt wurden. Und schließlich hatten die niederschlesischen Auftragnehmer eine praktische, angenehme Unterkunft im Haus: Gastronomie und Hotel hatten für die Öffentlichkeit schließen müssen. Gerade das aber bedeutete zugleich das Wegbrechen eines sehr wichtigen finanziellen Zweigs der Einrichtung. Und der erholt sich nur langsam. Personal ist rar und immer noch bleibt das Restaurant montags und dienstags geschlossen. Dabei können sich Museum und Archiv nicht über Gästemangel beklagen. Durch die neuen Ausstellungsräume strömen wieder sehr viele Neugierige ins Haus und auch die Veranstaltungen sind gut besucht – ob bei der Tagung Oma kommt aus Schlesien oder bei den KaffeePlus-Vorträgen.
Nicola Remigs Eindruck drei Jahre nach dem ersten Lockdown: »Die Menschen waren so glücklich, endlich wieder etwas unternehmen und andere Menschen treffen zu können.«
Glücklich über jede Möglichkeit des Zusammenseins waren auch die Gäste des Friedrich-Teutsch-Hauses im siebenbürgischen Hermannstadt/Sibiu. Benannt nach einem bekannten Historiker und evangelischen Bischof, ist dieser Ort ein Begegnungs- und Kulturzentrum der Evangelischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses in Rumänien. Als die Corona-Maßnahmen griffen, die Gläubigen nicht mehr in die Kirche gehen, der Chor nicht mehr in geschlossenen Räumen singen und die Eltern nicht mehr in der Schule beraten werden durften, fiel ihnen der wunderschöne grüne Innenhof mit dem Büchercafé hinter der Johanniskirche ein. »Über Gästemangel konnten wir uns nie beklagen«, erzählt Dr. Gerhild Rudolf, die Leiterin des Teutsch-Hauses, lachend. »Im Gegenteil, plötzlich waren wir ein begehrter Veranstaltungsort.« Vom Frühjahr bis in den späten Herbst fanden hier allerlei Veranstaltungen und Versammlungen statt, ob Elternsprechtage, Gottesdienste oder Konzerte. Bis in den späten Herbst probte der Kirchenchor in warme Decken gehüllt im Hof.
Auch im Archiv und im Museum gingen die Arbeiten weiter, die Mitarbeitenden nahmen sich Kisten mit Büchern mit nach Hause und erstellten Schlagwortregister oder Inventarlisten. Besonders auf Trab hielt das Team das Erstellen von Nachweisen, die den Nachkommen von in die Sowjetunion Deportierten ermöglichen, eine Entschädigung zu erhalten. »Wir mochten den durch Corona erzwungenen Stillstand nicht, aber wir haben als Team das Beste daraus gemacht«, erinnert sich Rudolf.
Was fehlte, waren die Gäste aus Deutschland. Der Einbruch war massiv und er bleibt es bis heute. »Gleich nach der Corona-Krise begann der Krieg gegen unser Nachbarland und diese Grenze zur Ukraine ist den ausländischen Touristen offenbar zu nah«, sagt Rudolf. Eine Besserung scheint nicht in Sicht. Aber einen kleinen Trost hat sie auch schon wieder gefunden: Statt der deutschen kommen jetzt viel mehr rumänische Gäste. Die haben in der reisearmen Zeit ihr eigenes Land erkundet und dabei auch Neugier auf die deutsche Minderheit entwickelt. Und das, sagt Rudolf, sei ja eigentlich der Sinn des Teutsch-Hauses: ein Begegnungsort zu sein, nicht nur für die Deutschen, sondern auch für die Mehrheitsgesellschaft.