Von St. Jakob im Defereggental in Tirol führt ein steiler, steiniger und langer Weg auf die Neue Reichenberger Hütte. Er startet über sanfte Almwiesen, die seit Menschengedenken bewirtschaftet sind, führt in die baumlose Zone und endet in einem schmalen Pfad, der erst kurz vor seinem Ende den Blick auf die Hütte freigibt. Es sind 1 200 Höhenmeter und zehn Kilometer Distanz zu überwinden. Der letzte Steilanstieg ist knapp, aber knackig, vielen Wanderern beschert er auf den letzten Metern noch schmerzende Knie. Auf einem lawinensicheren Vorsprung inmitten einer sehr kargen und von steilen Felsen geprägten Landschaft thront dann endlich das ersehnte Ziel.
Die Füße von sich gestreckt, kann der erschöpfte Wanderer bei erhebender Aussicht auf der Sonnenterrasse oder bei schlechterem Wetter in einer der gemütlichen Stuben mit Speis und Trank rechnen. Aufgrund der Seehöhe ist eine Bewirtschaftung nur zeitlich eingeschränkt möglich – jeweils im Zeitraum von Juni bis September, abhängig von der Schneesituation. In diesem Zeitraum aber ist sie dank des Engagements des seit knapp dreißig Jahren tätigen Pächters Hans täglich geöffnet, bietet den ganzen Tag über verschiedene, auch warme Speisen an und verfügt aktuell über 54 Schlafplätze, sowohl in Schlafsälen als auch in Zweierzimmern. In einem Felskessel hinter dem Gebäude liegt der kleine hütteneigene Bödensee. Die Wassertemperatur ist permanent unterkühlt. Trotzdem darf er ab und an Badegäste begrüßen. Die lassen sich vermutlich von seiner einladenden Smaragdfarbe verführen.
Als Stützpunkt und Auffangstation im Nationalpark ist die Neue Reichenberger Hütte aufgrund ihrer Lage wichtig für Wandernde, die für eine Tagestour auf dem beschriebenen Weg aus dem Defereggental, oder – nicht weniger anstrengend – aus dem benachbarten Virgental aufsteigen. Sportliches Engagement fordert auch ein Wandern von Hütte zu Hütte: Die nächstgelegene Clara-Hütte liegt etwa drei Stunden Gehzeit, das Barmer-Haus dreieinhalb Stunden, andere benachbarte Hütten noch deutlich weiter entfernt.
Wie kommt nun eine Hütte aus Reichenberg/Liberec in Tschechien nach Osttirol? Um die Frage zu klären, muss man sich mit dem Leben eines Mannes beschäftigen: Johann Stüdl. Geboren 1839, stammt er aus Prag und war Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns. Von früher Jugend an begeisterte er sich für die Berge. Durch den frühen Tod seines Vaters musste er das Studium der Chemie in Dresden abbrechen und den elterlichen Betrieb übernehmen. Das fiel ihm sehr schwer. Um Abstand vom ungeliebten Beruf zu gewinnen, verbrachte er viel Zeit in den Bergen. Er fühlte sich von den Gletschern sehr angezogen, besonders vom Großglockner in Tirol. Ein Schlüsselerlebnis in seiner Biografie war der Aufenthalt in der Ortschaft Kals am Großglockner.
Zum damaligen Zeitpunkt war Heiligenblut in Tirol der beliebteste Ausgangspunkt für Touren auf den Großglockner. Dabei eignete sich die Ortschaft Kals eigentlich ebenso gut für eine Tour auf diesen Dreitausender, allerdings fehlten von hier aus das Wegenetz und Schutzhütten. Johann Stüdl erkannte diese Chance für die Einwohner von Kals, unter denen er schnell Freunde fand. Gemeinsam mit ihnen baute er den Tourismus auf. Auf eigene Kosten errichtete er 1868 die Stüdlhütte, die bis heute einen Ausgangspunkt für eine Tour auf den Großglockner, den höchsten Berg Österreichs, darstellt.
In den nächsten Jahrzehnten wuchs eine enge Freundschaft mit Franz Senn, einem Pfarrer aus dem Tiroler Ötztal, der sich in gleicher Weise für den Hütten- und Wegebau engagierte, heran. Beide waren 1869 Gründungsmitglieder des Deutschen Alpenvereins, der sich 1873 mit dem Österreichischen Alpenverein vereinigte. Beide Männer waren auch unermüdlich darum bemüht, die Bergführerausbildung mit allgemein gültigen Standards zu organisieren.
Auf Stüdls Initiative kam es in den folgenden Jahren zu vielen Sektionsgründungen im damaligen Böhmen und Mähren. Es handelte sich um selbständige Organisationen mit eigenen Schulungen, Veranstaltungen und Hütten. Erbaut wurden diese fast alle in Tirol, das damals einschließlich Südtirol Teil der k. u. k. Monarchie war. Die Menschen aus Böhmen und Mähren waren sehr alpenaffin und bis heute tragen sehr viele dieser Hütten Namen mit Bezug zum Sudetenland, allen voran die Sudetendeutsche Hütte (ein Gemeinschaftswerk aller Sudetendeutschen Sektionen des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, erbaut 1927–1929), aber auch die Hütten von Teplitz/Teplice, Troppau/Opava, Asch/Aš und eben auch Reichenberg.
Die Sektion Reichenberg wurde im Jahr 1893 in der gleichnamigen Stadt als 200. Sektion des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins gegründet. In der Nähe von Cortina d’Ampezzo im heutigen Italien erwarb sie ihre erste Hütte, die Alte Reichenberger Hütte, die jedoch nach dem Ersten Weltkrieg durch Italien enteignet wurde. 1924 fanden die gebürtigen Reichenberger Rudolf Kauschka und Rudolf Than einen geeigneten Platz in den Hohen Tauern, 1926 wurde die Neue Reichenberger Hütte eingeweiht. Rudolf Kauschka unternahm in der Region des Defereggentals viele Erstbesteigungen und legte durch den Hüttenbau und die Wegerschließung einen der Grundsteine für die touristische Nutzung der Region.
Mit der Vertreibung der Sudetendeutschen aus ihren Heimatgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg und dem allgemeingültigen Verbot, in der neugegründeten Tschechoslowakei Mitglied eines ausländischen Vereins zu sein, änderte sich alles: Die Sektion Reichenberg fand in ihrer Gründungsstadt ein jähes Ende. Über die Jahre nahmen die Mitglieder, nun verstreut in Deutschland und Österreich, ihr Vereinsleben allerdings wieder auf. Mit der Besonderheit, dass in Wien, im Allgäu und in Nordrhein-Westfalen über das Jahr jeweils eigene Aktivitäten stattfinden, oft mit reger Teilnahme auch junger Menschen. Verbindung schaffen die jährliche Hauptversammlung des Vereins im Defereggental und auch die Familientage, wo die Mitglieder der Sektion mit ihren Kindern einige Tage auf der Hütte verbringen und gemeinsame Aktivitäten unternehmen. Sei es nun Klettern oder Wandern, aber auch Gesteins- und Pflanzenkundeexkursionen, die fachkundig durch Nationalpark-Aufseher angeleitet werden. Spannend ist die Region nicht nur für Gesteinskundige: Die Neue Reichenberger Hütte liegt inmitten eines sogenannten Geologischen Fensters. Solcherlei tektonische Phänomene entstanden dadurch, dass im Zuge der Alpenbildung die verschiedenen Gesteinsdecken übereinander geschoben wurden. Infolgedessen können alte Kristallingesteine auf jüngerem Gestein liegen. In Gebieten mit stärkerer Hebung der Alpen hat die Erosion die oben liegenden Gesteine inzwischen wieder vollständig abgetragen und die tiefer liegenden freigegeben. Daher befinden sich diese unteren Gesteine nun an der Oberfläche, und man blickt sozusagen wie durch ein »Fenster« auf das, was sonst unter dem Kristallin begraben ist.
Durch die in Deutschland und Österreich verstreut lebenden Mitglieder wird die Instandhaltung und Adaption der Neuen Reichenberger Hütte in der Gegenwart und auch in der Zukunft eine Herausforderung für die Sektion bleiben. Sie muss sich rechtlichen und – im Zuge des Klimawandels – auch zunehmend ökologischen Anforderungen stellen sowie natürlich auch die Bedürfnisse der Gäste im Blick behalten. Das ganze Jahr über werden Aktivitäten für die verschiedensten Interessen der Mitglieder organisiert und auch jene angesprochen, die an einer Mitgliedschaft interessiert sind. Da wird keineswegs nur die Begehung von Klettersteigen vorbereitet. Es werden Nachtwanderungen angeboten, Sportarten wie Bogenschießen bis hin zu Fortbildungen wie Erste-Hilfe-Kursen.
Nicht zuletzt hilft die Neue Reichenberger Hütte durch all ihre Aktivitäten auch bei der Überwindung von Grenzen in Herz und Hirn. Denn aktuell gibt es auch im heute tschechischen Reichenberg wieder Menschen, die Mitglied in der Reichenberger Sektion sein wollen und es teilweise schon geworden sind.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1431 | September/Oktober 2022
mit dem Schwerpunktthema:
Stadt. Land. Fluss. Memel(Land)