Am 24. Februar 2022 eröffneten russische Truppen und Einheiten das Feuer auf Ziele in der Ukraine. Dies geschah ohne Kriegserklärung, allerdings hatten sich vorher über Wochen und Monate hinweg schwerbewaffnete Einheiten im belarussischen Grenzbereich im Norden der Ukraine massiert, um angebliche Manöver abzuhalten. Der russische Präsident Putin hat in mehreren Traktaten die historische Verbindung Russlands zur Ukraine in einem imperialistisch verklärten Geschichtsbild dargelegt, das als Rechtfertigung für den russischen Angriffskrieg zu werten ist. Die hier vermittelte großrussische Weltsicht wird allerdings – unabhängig von der allgemeinen Faktenklitterung – der Vielschichtigkeit der Geschichtsprozesse in der Ukraine nicht gerecht. So bündelten sich im Lauf der Jahrhunderte eine Reihe von Einflussfaktoren aus benachbarten Staatswesen auf die Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft und Nation. Auch für die deutschsprachige Geschichte bestehen Verbindungen zur Ukraine, die eine größere kulturelle Vernetzung über Jahrhunderte hinweg belegen.
Eine direkte geografische Nachbarschaft Deutschlands zu dem größten Land Europas besteht nicht. Allerdings haben über Jahrhunderte hinweg immer wieder Kaufleute, Händler und Siedler aus deutschen Regionen den Weg in die Ukraine und ihre historischen Territorien, aber auch vice versa, gefunden. Beginnt man mit der mittelalterlichen Kolonisation im Osten, so stellt sich heraus, dass sie nicht nur Fachleute und Siedler zum Landesausbau nach Osteuropa zog, sondern auch mit einem Rechtstransfer verbunden war. So fanden etwa bei der Stadtgründung Lembergs/Lwiws im 13. Jahrhundert auch Teile deutschen Rechts Eingang in die Gründungsdokumente; eine Neuorganisation der Stadt – wie auch weiterer Städte in der Westukraine – im 14. Jahrhundert erfolgte nach Magdeburger Recht. Bei der Verleihung des Magdeburger Rechts an Kiew durch den polnischen König Johann I. Albrecht (1492–1501) im 15. Jahrhundert waren deutsche Siedler zwar nicht beteiligt, aber die ordnende Bedeutung dieser Statuten war immerhin so überzeugend, dass der russische Zar Alexander I. (1801–1825) vor Ort ein Denkmal errichten ließ, das noch heute daran erinnert.
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Ab dem 18. Jahrhundert führten die Auswanderungsbewegungen aus Deutschland Siedler in verschiedene Gebiete der heutigen Ukraine, wo sie in mehr oder weniger kompakten Gruppen lebten. Auslöser dafür war, dass Zarin Katharina II. (1762–1796) zur wirtschaftlichen Erschließung der Gebiete am südlichen Rand des Russischen Reiches 1763 ein Manifest erließ und für die Ansiedlung warb. Es garantierte die Zuteilung von Land, das frei bewirtschaftet werden durfte, die Steuer- und Religionsfreiheit, eine Verwaltung auf Dorf- und Bezirksebene, die Befreiung vom Militärdienst und die Verwendung der Muttersprache in Schulen und Ämtern. Viele Zuwanderungswillige aus deutschen Regionen folgten diesem Ruf – meist, um wirtschaftlicher Not und religiöser Verfolgung zu entgehen. Ab 1789 bauten deutsche Mennoniten die ersten Siedlungen am Dnepr/Dnipro.
Eine erste Welle von Siedlern aus deutschen Kleinstaaten ließ sich an der Wolga nieder, bis zum Jahr 1897 kamen etwa 400 000 Personen. Unter Zar Alexander I. folgte ein Zustrom in die Region nördlich des Schwarzen Meeres, von Bessarabien bis zum Don – hier nimmt man eine Anzahl von etwa 380 000 Deutschen an. In den nördlichen ukrainischen Gouvernements, in Wolhynien, ließen sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitere rund 200 000 Deutsche nieder. Vor allem Mennoniten aus der Pfalz, aber auch Deutsche aus Kongresspolen fanden ihren Weg hierher. Die systematische Einwanderung von Deutschen, aber auch von Italienern und Schweizern auf die Krim begann Anfang des 19. Jahrhunderts. Der deutsche Anteil an der Gesamteinwohnerschaft lag 1939 mit 60 000 Personen bei fast 5,5 Prozent.
1819 endete die russische Anwerbungspolitik. Zar Alexander II. (1855–1881) hob 1871 den Sonderstatus für die Deutschen auf: Russisch wurde als Amtssprache eingeführt, außerdem löste man ihre Selbstverwaltungsorgane auf und integrierte die deutschen Dörfer in die allgemeine Administration. Mit der Einführung der Wehrpflicht wurden Deutsche erstmals 1877/78, im Krieg gegen das Osmani-sche Reich, in die Armee eingezogen. Um der steigenden Landknappheit bei einer wachsenden Bevölkerung zu entgehen, rekrutierten sich aus diesen Gebieten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Tochtersiedlungen in Mittelasien und Sibirien, im nördlichen Kaukasus und in Transkaukasien, während gleichzeitig eine Emigration in die USA einsetzte.
Die charakteristische Betätigung für die Mehrheit der Schwarzmeerdeutschen (aber auch der Deutschen in der Wolgagegend und im Kaukasus) blieb die Landwirtschaft. Bis zum Ersten Weltkrieg hatten sie sich wirtschaftlich und sozial etabliert und bildeten eine rurale Mittelschicht mit teils recht großem Landbesitz; um die Jahrhundertwende war dieser Landbesitz durchschnittlich deutlich größer als jener anderer Ethnien. Die deutschen Gutsbesitzer und Großbauern im Süden des Russischen Reiches waren mit die größten Getreidelieferanten im Land. Dazu kam ihr technisches Know-how: Die Schwarzmeerdeutschen trugen erheblich zur Produktion landwirtschaftlicher Maschinen bei, darunter zunächst Kutschen und Wagen, dann Pflüge in Serienherstellung und schließlich Fabriken für Dresch- und Mähmaschinen.
Im Westen der heutigen Ukraine waren es die Habsburger, die den deutschsprachigen Zuzug förderten, nachdem Galizien mit der Ersten Teilung Polens 1772 Teil ihres Reiches geworden war. Die Ansiedlung erster deutscher Handwerker und Bauern in Galizien geht auf Kaiserin Maria Theresia (1740–1780) zurück. Ihr Sohn Joseph II. (1780–1790) setzte das Ansiedlungswerk fort. Sein Toleranzpatent aus dem Jahr 1781 ermöglichte auch Nicht-Katholiken die Ansiedlung, so dass viele Protestanten, etwa aus dem Badischen und der Pfalz, aber auch aus Westböhmen einwanderten. Die Verbreitung des Luthertums unter den Ukrainern in Galizien, das noch heute anzutreffen ist, ist durch diese einstigen deutschen Siedlungen gefördert worden.
Vor der Kreuzerhöhungskathedrale in Ungwar/Uschhorod, der Grenzstadt zur Slowakei im Westen der Ukraine, steht eine Kaiserin-Maria-Theresia-Statue. Foto: © Markus Nowak
Als zwei besondere Orte mit deutschem Kultur- und Stadtbezug seien Lemberg in Galizien und Czernowitz/Tscherniwzi in der Bukowina herausgehoben. In der Habsburger Zeit seit 1772 verankerte sich hier die deutsche Sprache, sie wurde zu einem Element der bestehenden multilingualen, multiethnischen, multikonfessionellen und multireligiösen Vielfalt.
Zum Polnischen, Ruthenischen/Ukrainischen, Jiddischen und Armenischen gesellte sich Deutsch als von Wien geförderte Verkehrssprache. Sie fand in viele Bereiche des öffentlichen Lebens Eingang. Das literarische Werk Joseph Roths (1894–1939) hängt eng zusammen mit seinen heimatlichen Erfahrungen in Galizien. Ab 1869 verlor Deutsch jedoch mit der Einführung des Polnischen als Amtssprache an Bedeutung.
Deutsch spielte auch eine Rolle im Mikrokosmos der Kulturen, Sprachen und Völker in der Bukowina. Wichtige Vertreter der rumänischen, ukrainischen, deutschen und jüdischen Literatur, die in der Bukowina lebten, nahmen in ihren Werken immer wieder Bezug auf ihre Heimat. Eine Reihe deutschsprachiger Literaten war hier beheimatet, darunter Rose Ausländer (1901–1988), Paul Celan (1920–1970) und Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942). Die 1875 gegründete Universität von Czernowitz war zum großen Teil deutschsprachig, die orthodoxe theologische Fakultät bildete Priester nicht nur für die Länder der Donaumonarchie, sondern darüber hinaus auch für die südosteuropäischen Länder aus. Der Holocaust hat diese Kultur weitgehend zerstört.
Mit dem Ersten Weltkrieg endete die Zeit der wirtschaftlichen Prosperität für die Deutschen im Russischen Reich. Im Zuge der heraufziehenden bolschewistischen Herrschaft und der Oktoberrevolution 1917 setzten massive politische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen ein. Der sich an den Ersten Weltkrieg anschließende russländische Bürgerkrieg, Hungersnöte, die von Stalin erzwungene Kollektivierung der Landwirtschaft und die Enteignung der Bauernhöfe trafen die sozialen Gefüge auch der Deutschen erheblich. Der Stalinistische Terror tat ein Übriges.
Allein in der Zeit von Juni bis August 1937 wurden 580 Deutsche als angebliche Mitglieder »faschistischer Organisationen« in Odessa/Odesa verhaftet, im Gebiet Dnepropetrowsk an die 4 200 »antisowjetische« Deutsche. 1937 wurde der schwarzmeerdeutsche katholische Bischof Alexander Frison nach wiederholten Verhaftungen im Gefängnis erschossen. Er hatte zu jenen vier Bischöfen gehört, die 1926 geheim in der UdSSR geweiht worden waren. Deutsche Schulen in der Ukraine mussten ab Herbst 1938 auf die russische beziehungsweise ukrainische Unterrichtssprache übergehen, auch deutsche Dorfverwaltungen mussten aufgegeben werden. Für die bis 1939 in der Ukraine lebenden etwa 400 000 Deutschen hatte sich die »nationale« Form der kulturellen und administrativen Verwaltung erledigt.
Den Tiefpunkt der staatlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion stellten der Zweite Weltkrieg und der deutsche Überfall auf die UdSSR dar, was auch Konsequenzen für das Leben der Deutschen mit sich brachte. Den zwangsweisen Bevölkerungsverschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs folgte das Ende der deutschen Siedlungen – in der Ukraine durch die NS-deutsche und die stalinistische Politik in unterschiedlicher Weise. Im Westen gab der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 den Ausschlag. Nach der Besetzung Galiziens durch die Rote Armee 1939 wurden die Galizien- und die meisten Wolhynien-Deutschen aus dem polnischen Bereich in den sogenannten Warthegau nach Westen transportiert; ihnen mussten 1943/44 die Deutschen aus Ost-Wolhynien folgen.
Das Schicksal der in der Sowjetunion ansässigen Deutschen entschied sich endgültig nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 auf die UdSSR. Am 28. August 1941 dekretierte der Oberste Sowjet die Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet. In der Folge wurden die Deutschen hier sowie aus den übrigen Siedlungen im ganzen Land gewaltsam in den hohen Norden, nach Sibirien, Kasachstan sowie Zentralasien deportiert. In mehreren Schüben betraf dies auch etwa 83 000 Deutsche aus der Ukraine. Mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Westen ergriffen die sowjetischen Truppen die zurückgebliebenen Deutschen. Zu ihnen gehörten auch während des Krieges nach Westen geflohene Deutsche aus der Sowjetunion (darunter Deutsche aus der Karpaten-Ukraine, die 1944 sowjetisch wurde), die nach dem Zweiten Weltkrieg als sowjetische Staatsbürger zwangsweise in die UdSSR repatriiert wurden.
Der jüdische Friedhof von Czernowitz beim Sonnenaufgang. Foto: © Sergey Ryzhkov
Die Deportierten mussten bis 1955 sogenannte Sondersiedlungen, de facto Lagerhaft, und Zwangsarbeit erdulden. Erst 1964 hob die sowjetische Regierung das Deportationsdekret vom August 1941 auf, 1991 erklärte die russische Regierung die Rehabilitierung der repressierten Deutschen.
Die Spätaussiedler, die seit Mitte der 1980er Jahre nach Deutschland immigrierten, sind Nachkommen dieser Russlanddeutschen, von denen nicht wenige auch Wurzeln in der Ukraine haben. Aus diesen direkten Kontakten, aber auch durch spätere Vermittlung weist die gegenwärtige ukrainische Literatursprache über tausend Lexeme auf, die aus der deutschen Sprache übernommen worden sind.
Der Krieg Putins gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen die Kultur. Johann Wolfgang von Goethe, der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Ukraine bekannt war, erhielt 1827 für die Vermittlung von Wissenschaftlern aus dem Großherzogtum Sachsen–Weimar–Eisenach die Ehrendoktorwürde der Karasin-Universität in Charkiw. Diese 1805 gegründete erste russischsprachige Universität in der Ukraine ist nun ebenfalls dem mörderischen Hagel russischer Raketen und Bomben ausgesetzt; viele ihrer Gelehrten mussten aus der Stadt fliehen. Noch bestehende Dörfer mit ehemaligen deutschen Bewohnern an der Schwarzmeerküste unterliegen der militärischen Bedrohung. Die auf komplette Zerstörung angelegte russische Bombardierung von Städten wie Cherson und Mariupol zielt auch auf die Erinnerung an ihre einstige Besiedlung ab. Grund genug, besonders jetzt wenigstens geistig-kulturell zu ihnen Verbindung zu halten.