Ilses Familie – die aus der Hauptstadt Riga stammte – gehört zu den Deutschbalten. Diese hatten als Adelige, Bürger und Handwerker jahrhundertelang die Ostseeprovinzen Russlands dominiert. Nun aber waren sie nur noch eine von mehreren ethnischen Minderheiten in der jungen Republik Lettland. Im kleinen Tuckum lebten rund 340 Deutschbalten: »Man kannte sich, brauchte sich, ertrug sich!« fasst sie heute das Kleinstadtleben zusammen. Man brauchte sich allein schon deshalb gegenseitig, um die deutsche Volksschule zu erhalten. Der Staat gestand allen Minderheiten ein eigenes Schulwesen zu, finanzierte jedoch nur eine Lehrkraft für je 50 Schüler. Da war viel Eigeninitiative, neudeutsch »Fundraising«, gefragt. Das Elternverbandsfest im Schulsaal war jeden Winter das kulturelle Hauptereignis, erinnert sich Ilse: »Wer konnte, half mit: backte Speckkuchen fürs Buffet oder Striezel, machte Kranzbeerlimonade, half Kulissen herzustellen, schmückte. Aber die Hauptattraktion blieb doch das Laientheater – lauter bekannte Tuckumer.«
Und immer dabei war Ilses Vater, Doktor Schultz. In einem Jahr wurde Der Meisterboxer aufgeführt und Ilses Vater musste – gemäß Drehbuch den Meisterboxer fürchtend – auf einen Schrank springen. Viele Abende wurde das daheim geübt – nicht ohne Unfälle. Bei der Aufführung gab es dann aber ganz andere Probleme. »Im Verlaufe der Handlung musste mein Vater eine alte Arzttasche öffnen – eine sogenannte Hebammentasche. Aber der Verschluss klemmte, die Tasche ließ sich nicht öffnen. Der Text war verbraucht, Fräulein Girgensohn, die Souffleuse, hilflos. Mein Vater improvisierte mit Anspielungen auf Tuckumer Ereignisse, das Publikum lachte, applaudierte. Er zog, zerrte, drückte. Die alte Frau Bürger – die Requisite stammte aus ihrem Haushalt – rief mit brüchiger Altfrauenstimme ›Rechts drücken, links schieben, rechts drücken, links schieben‹. Aber sie drang nicht durch. Da schob sich der alte Dr. Bürger aus der Kulisse auf die Bühne, zur Hilfe bereit, um den Hals trug er Fleischer Forkers beliebte Zieschen (Würstchen) als Kette wie ein Collier. Sein Auftritt wäre eigentlich später gewesen – aber das Publikum jubelte trotzdem erneut.« Ilse Pabst wurde vor 102 Jahren geboren
Dass die kleine deutsche Volksschule bestehen konnte, verdankte sie auch den jüdischen Mitbürgern, die ihre Kinder dorthin schickten. Man habe sich gegenseitig gelten gelassen, erinnert sich Ilse Pabst: »Wir haben mit großem Interesse die jüdischen Sitten und Bräuche, die von ihnen sehr gepflegt wurden, beobachtet und auch danach gefragt. Wir fanden das sehr wirkungsvoll.« Man nahm Rücksicht auf das religiöse Verbot, am Sabbat zu schreiben. Klassenarbeiten wurden grundsätzlich nur montags bis freitags geschrieben. Wenn am Samstag etwas an der Tafel vorgerechnet werden sollte, so hieß es »Ein Christ an die Tafel« und dann wurde diktiert. Grundsätzlich lebten die verschiedenen Volksgruppen aber stark nebeneinander her, erinnert sich Ilse Pabst. Zwar gab es immer mehr deutschbaltisch-lettische Eheschließungen, doch gerade für das gehobene deutsche Bürgertum und den Adel galten Letten weiterhin als »kein Umgang«. Sie erzählt, wie sie Ende der 1930er Jahre in Riga eine Klassenkameradin aus der deutschen Grundschule traf: »Die kam mir entgegen, am Arm eines männlichen Wesens, was mir natürlich auffiel. Sie blieb stehen und sagte im fließenden Lettisch: Vai drīkstu iepazīstināt? Darf ich bekannt machen? Und nannte den Namen. Es kam heraus: Ein guter Bekannter von ihr, aber ein Lette, was ja ungewöhnlich war.«
Die deutsche Volksschule in Tuckum war zunächst in einem sehr alten Gebäude untergebracht, in dem nicht nur die Toiletten in einem desolaten Zustand waren. Bis der Elternverband den Umzug in ein besseres Gebäude organisiert hatte, ließ Dr. Schultz seine dritte Tochter, Ilse, von der Einschulung zurückstellen. Den Unterricht sollte eigentlich seine Frau übernehmen: »Aber meine Mutter hatte nicht so viel Lust dazu«, lacht Ilse Pabst. »Sie spielte sehr gerne Klavier. Wenn mein Vater keine Patienten hatte und das Geräusch nicht störte, dann spielte sie am Vormittag lieber Klavier.« Stattdessen war es das lettische Dienstmädchen, von der Ilse das Lesen lernte. Nach der Einschulung sei sie dann von der Lehrerin der ersten direkt in die zweite Klasse geschickt worden. Dies sei ganz ohne Bürokratie vor sich gegangen: »Da sagte ich: Fräulein Heidinger hat mich hierhergeschickt. Sie sagte, ich könnte hier dabei sein. Naja, sagte die Lehrerin da, dann bleib mal hier.«
Gymnasium und Pension in Mitau/Jelgava
Nach sechs Jahren Volksschule war der Schulpflicht Genüge getan. Die schulischen Möglichkeiten im kleinen Tuckum waren ausgeschöpft. Wie ihre älteren Schwestern wechselte auch Ilse auf das Gymnasium nach Mitau/Jelgava. Heutzutage fährt man die 55 Kilometer in die alte Hauptstadt Kurlands von Tuckum in gut einer Stunde mit dem Auto. Damals nahm sie den Zug. Und das auch nur, wenn sie zu Ferienbeginn wieder nach Hause zurückkehrte. Während der Schulzeit wohnte sie in Mitau zur Pension. Viele Mitauer Familien beherbergten damals Schüler und Schülerinnen, die aus Kleinstädten oder von Gutshöfen stammten. Ilse teilte sich das Zimmer mit einer Mitschülerin, die aus der Nähe von Wenden/Cēsis stammte. Im Nebenzimmer wohnten drei weitere Mädchen, die ebenfalls aus Tuckum kamen.
Die verwitwete Vermieterin sicherte sich durch ihre Untermieterinnen das Auskommen. Zur Pension gehörte auch die Verpflegung und regelmäßig frische Bettwäsche. Die übrige Schmutzwäsche wurde in einem alten Koffer gesammelt. »Der Koffer vertrug den unbeaufsichtigten Transport, an Schönheit hatte er eh schon eingebüßt«, erinnert sie sich. Damals habe man die Kleidung auch nicht so häufig gewechselt wie heute. Wenn der Koffer dann voll war, brachte man ihn in Mitau zum Bahnhof und in Tuckum wurde er vom Zug abgeholt. Was auf keinen Fall im Koffer fehlen durfte, war ein Brief an die Eltern. Nicht, dass es in Mitau viel zu erleben gegeben habe, aber der Brief musste sein. Und da auch die großen Schwestern nach Hause schrieben, entspann sich ein Wettbewerb, welche von ihnen das Wenige, was passierte, möglichst dramatisch und spannend schildern konnte. Wenn der alte Koffer dann mit der sauberen Wäsche zurückkam, war dort stets auch ein kleines Geschenk dabei: »Da waren wir immer sehr neugierig. Das war sehr schön.«
Ihre letzten beiden Schuljahre verbrachte Ilse in Riga, wohin die Familie nach dem plötzlichen Tod des Vaters gezogen war. Wie viele der Deutschbalten wohnte sie von der Altstadt gesehen »jenseits der Düna«. Der Schulweg mit dem Fahrrad dauerte eine gute Dreiviertelstunde, denn die nächste Gelegenheit, den Fluss zu überqueren, war die Pontonbrücke gegenüber dem Schwarzhäupterhaus. Wenn im Winter Eisgang herrschte, wurde die Brücke eingezogen. Das wurde den Rigensern dadurch bekanntgegeben, dass auf den Straßenbahnen kleine Fähnchen wehten. Dann musste man noch weiter stromaufwärts bis zur Eisenbahnbrücke radeln. In der jungen Republik Lettland war es ein Ideal, den Unterricht getrennt nach Geschlechtern abzuhalten. Doch musste man sich dieses Ideal erst einmal leisten können, was die Schülerzahl betraf. Das galt nicht nur für die Schulen der Minderheiten, auch die staatlichen Schulen waren – besonders auf dem Land – so klein, dass es meist nur für gemischte Klassen reichte. Auch Ilses Mädchenklasse in Riga wurde nach den Ferien zusammengelegt, weil der »altsprachliche Zug« des Gymnasiums zu wenig Jungen in dem Jahrgang hatte. Sie erinnert sich noch gut, wie plötzlich diese 16-, 17-jährigen Jungs in der Klasse auftauchten und ihre Mitschülerinnen mit »Sie« ansprachen. Dabei war die Mädchenklasse eigentlich neusprachlich ausgerichtet. Das bedeutete: Englisch, Französisch und freiwillig auch Russisch. Dazu kam der Unterricht in der Staatssprache Lettisch.
In diesem Haus in der Kirchstraße in Tuckum lebte Ilse Pabst, bis der Vater starb und die Familie nach Riga umsiedeln musste. © Privatarchiv/Vera Christina Pabst
Das Abitur an der deutschen Schule in Lettland war auch in Deutschland anerkannt, was vor allem für die männlichen Mitschüler von Bedeutung war. Bildung war generell sehr von den finanziellen Möglichkeiten der Familie abhängig – das begann schon bei den Schulgebühren und den etwaigen Pensionskosten für das Gymnasium. Förderungen durch Stipendien gab es kaum und an junge Frauen wurden sie grundsätzlich nicht erteilt, wie sich Ilse Pabst erinnert, die sich nach dem Abitur darum bemühte. Dass sie überhaupt studieren konnte, war recht ungewöhnlich.
Die meisten Mitschülerinnen wurden in Riga Krankenschwestern, Kindergärtnerinnen oder Volks-schullehrerinnen, andere gingen nach Deutschland und absolvierten Ausbildungen als Sekretärinnen oder in ähnlichen Berufen. Ilse Pabst dagegen studierte Mathematik und wäre gerne in die mathematische Grundlagenforschung gegangen. »War natürlich nichts«, kommentiert sie lächelnd. Denn Umsiedlung und der Zweite Weltkrieg beendeten ihre akademische Karriere vorzeitig.