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Von herzhaft bis süß: Besonders reichhaltig wird bei der Ostertafel aufgetischt. © Anna Flack

»Die« russlanddeutsche Esskultur gibt es nicht. Denn Kultur befindet sich in ständigem Wandel. Einerseits wird an tradierten Wertvorstellungen und Praktiken festgehalten. Andererseits wirken verschiedene Einflüsse auf sie ein. Dadurch kommt es oft zu einer gleichzeitigen Ausübung alter und neuer Praktiken. Und genauso wenig gibt es »die« Russlanddeutschen. Denn unter dem Begriff werden Menschen zusammengefasst, die größtenteils in Deutschland, teilweise in Russland, aber auch in anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion und teilweise in Übersee leben. Ein Blick auf den Teller zeigt aber: Essen schafft eine gewisse Zusammengehörigkeit.

 von Anna Flack

In der öffentlichen Diskussion wird mit dem Begriff »Kultur« meist eine »hochkulturelle« Vorstellung menschlicher Schöpfungen verbunden. So gelten Theater, Musik und Kunst als Synonyme für Kultur. Außerdem ist von »Kultur« bzw. »Kulturen« die Rede, wenn bestimmte Verhaltensmuster und Symbole als für eine Gruppe charakteristisch angesehen werden. Aus einem solchen essenzialistischen Kulturverständnis resultieren Vorstellungen von vermeintlich klar konturierten und voneinander unterscheidbaren Kulturen, wie die »deutsche« versus die »russische« Kultur.

Um eine realitätsnähere Perspektive auf die Erfahrungen und Handlungen einzelner Personen zu bekommen, untersuchen Kulturanthropologen Kultur deshalb nicht primär anhand von wie auch immer zugeordneten Gruppen, sondern anhand ihrer konkreten Alltagshandlungen. An ihnen lässt sich nämlich ablesen, welche subjektiven und kollektiven Bedeutungen ihnen zugeschrieben werden und welches Wissen ihrer Ausübung zugrunde liegt. Tagtäglich werden Praktiken z. B. in den Bereichen Sprache, Religion, Kleidung, Wohnen und eben auch Ernährung ausgeübt. Sie sind in der Regel selbstverständlich und werden daher kaum reflektiert. In ihnen spiegeln sich aber gesellschaftliche Normen, Werte und Konventionen.

Zum Stellenwert von Essen und Trinken im Migrationsprozess

Essen und Trinken sind also nicht bloß existenzielle Grundbedürfnisse. Sie sind kulturgeprägt. Was als essbar wahrgenommen wird, was sich bei Tisch gehört, was wie wo wann mit wem ausgewählt, zubereitet und gegessen wird – und was nicht –, hängt davon ab, mit welchen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Verhaltensregeln wir aufgewachsen sind. Die Essenssozialisation erfolgt im Wesentlichen in der Kindheit durch die Familie. Damit haben Essen und Trinken eine emotionale Qualität. Sie bedingt die identitätsbildende Funktion von Ernährung.

Darüber hinaus können biografische Zäsuren wie Heirat, Berufs- oder Wohnortwechsel – Pelmeni sind in Wasser oder Brühe gekochte und meist mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, hier noch ungekocht. © Anna Flackdarunter auch Migration – sich auf das Ernährungsverhalten auswirken. Bei einem so einschneidenden Erlebnis wie einer Aussiedlung von Ost nach West kann Ernährung zur Bewältigung von damit einhergehenden Herausforderungen beitragen. Denn als bewegliches Kulturgut können Rezepte, Speisen und damit verbundenes Wissen überallhin mitgenommen werden. Der Genuss von »heimischen« Speisen und Lebensmitteln kann Fremdheitsgefühle kompensieren, Selbstvergewisserung stiften und dadurch identitätsstabilisierend wirken. Je nachdem, ob Gemeinsamkeiten oder Unterschiede betont werden sollen, kann Ernährungsverhalten aber auch zur kulturellen Demonstration oder als Mittel zur Distinktion fungieren.

 

Russische Spezialitäten aus dem Intermarkt

»Russische« Supermärkte in Deutschland ermöglichen es russlanddeutschen (Spät-)Aussiedlern, sich miteinander und mit anderen postsowjetischen Migrierten auszutauschen. Das Angebot von aus dem Herkunftsland bekannten Lebensmitteln oder die Bedienung in russischer Sprache durch eine ebenfalls in der Sowjetunion sozialisierte Person können helfen, emotionale Sicherheit zu stiften. Der Geschmack einer vertrauten Speise weckt Erinnerungen an das frühere Zuhause und an vergangene Situationen, in denen sich die Person als handlungsfähig, kompetent und respektiert wahrnahm. Solche Erinnerungen sind wertvolle Ressourcen, um migrationsbedingte Probleme und Gefühle zu bewältigen.

Daneben kann ein »russischer« Supermarkt aus nostalgischen Gründen oder zur Demonstration eines russischen, (post)sowjetischen, deutsch-russischen oder eines transnationalen Lebensstils aufgesucht werden. Je nach der Generationszugehörigkeit und dem Ausmaß an gesellschaftlicher Teilhabe sind die emotionalen Bedürfnisse unterschiedlich motiviert und ausgeprägt. Das Beharren auf den mitgebrachten Ernährungsgewohnheiten kann folglich, muss aber nicht zugleich ein Zeichen mangelnder Integration in die und Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft sein.

 

»Soul Food«

Tendenziell werden im Laufe der Zeit immer weniger Speisen und Getränke mit der »alten Heimat« verknüpft. Dafür werden die beibehaltenen Gerichte symbolisch aufgewertet. Ehemalige Alltagsspeisen werden etwa zu Spezialitäten erhoben. So können sibirische Pelmeni, gefüllte Teigtaschen, zum Soul Food werden: Sie sind »typisch« und werden nicht mehr nur noch in bestimmten, »ursprünglichen« Kontexten zubereitet, sondern sind stets verfügbar – nicht nur im »russischen« Supermarkt, sondern zunehmend auch im nächstgelegenen »deutschen« Discounter.

Das Beharren auf »traditionellen« Ernährungsgewohnheiten ist selbstverständlich nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite kann eine schrittweise Annäherung von Migrierten an die Küche des Aufnahmelands Akkulturation und eine zunehmende (zusätzliche) Identifikation mit zunächst fremden Praktiken anzeigen. Ernährung in den Blick zu nehmen, bedeutet daher auch, kulturelle Veränderungen wahrzunehmen.
Viele Stadtbewohner haben eine Datsche außerhalb der Stadt, wo sie Obst und Gemüse für den eigenen Verzehr anbauen. © Anna Flack

Borschtsch und Sushi

Diese Pluralität der russlanddeutschen Esskultur(en) wird noch vielschichtiger, wenn wir auch das Ernährungsverhalten von Russlanddeutschen betrachten, die nie ausgesiedelt bzw. nach der Aussiedlung nach Deutschland wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind. Es veranschaulicht die Pluralität, Situativität und Verflochtenheit von – auch widersprüchlichen – Zugehörigkeiten. In drei von mir untersuchten Familien in Westsibirien dominiert ein sowjetischer Geschmackskonservatismus. Er ist maßgeblich durch die Fortsetzung von im Sozialismus etablier­ter Subsistenzwirtschaft mitbedingt und schlägt sich etwa in der Beibehaltung von als »typisch russisch« bezeichneten Gerichten nieder, wie Borschtsch oder Salat Olivier. Gleichzeitig kann ein in unterschiedlichem Maße ausgelebter global lifestyle festgestellt werden. Beispiele dafür sind der Konsum von Kaffee anstelle des »russischen Nationalgetränks« Tee, aber auch von Pizza und Sushi. Im Vergleich zur »sowjetischen Küche« ist das Ausmaß dieser Orientierung insgesamt aber eher als punktuell zu bezeichnen.

In Abgrenzung von sowjetischen bzw. russischen oder globalkulturellen Einflüssen kann sich in der Ernährung auch eine Rückbesinnung auf Ethnizität widerspiegeln. Sogenannte »Nationalgerichte« wie Strudel oder Riebelkuchen drücken etwa »symbolische Ethnizität« aus: Sie können für eine nostalgische Zugehörigkeit und für Stolz auf die Traditionen der Vorfahren stehen, ohne dass diese Traditionen selbst praktiziert werden müssten.

Im Falle zweier aus Deutschland wieder rückgewanderter Russlanddeutscher hat sich gezeigt, dass sie sich mittels ihrer Ernährung in Russland »wiederzubeheimaten« versuchten. Eine Remigrantin reintegrierte sich mittels russisch-orthodoxer Ernährungsgewohnheiten (etwa Fasten, »heiliges« Wasser trinken) in die russische Gesellschaft. In der russischen Wahrnehmung bedeutet orthodox zu sein nämlich auch in einem ethnokulturellen Sinne russisch zu sein.

Im Gegensatz dazu beheimatete sich eine andere Remigrantin wieder in ihrem Herkunftsdorf, indem sie sich von in Deutschland lebenden Verwandten »deutsche« Produkte wie Instant-Salatkräuter, Pommessalz und Süßstoff mitbringen ließ. Die Lebensmittelsendungen halfen ihr, die von ihrem Ehemann initiierte und von ihr selbst ungewollte Remigration sowie die empfundenen Mängel im »neuen alten Zuhause« zu kompensieren. 

Wechselspiel tradierter und neuer Praktiken

In den heutigen Gesellschaften bedienen sich auch Russlanddeutsche neben ihrer Ethnizität verschiedener Ressourcen, Erfahrungen, sozialer Imaginationen und Handlungsmuster. Sie kombinieren diese, um einen Lebensstil zu kreieren, der ihren jeweiligen Zugehörigkeits-, Individualitäts- und Besonderheitsbedürfnissen entspricht. Zugehörigkeiten sind vielfältig und vielschichtig. Sie werden kontextabhängig ausgehandelt und situativ betont. Zugehörigkeitsressourcen sind demnach heterogen. Ebenso verhält es sich mit Russlanddeutschen. Sie können nicht pauschal und ein für alle Mal als eine »Gruppe« zusammengefasst werden. Auch die »russlanddeutsche Kultur« unterliegt ständigem Wandel. Dieser vollzieht sich allerdings vergleichsweise langsam und vor allem unter Beibehaltung von und im Wechselspiel mit tradierten Wertvorstellungen und Praktiken.