von Václav Smyčka
Jahrzehntelang gehörte die Vertreibung der Deutschen in der Tschechoslowakei bzw. in Tschechien zu den höchst politisierten und mehr oder weniger tabuisierten Themen der Vergangenheit; seit etwa zwei Jahrzehnten erlebt man im Land aber einen nie gekannten »Boom« der Erinnerung, der diesen Gegenstand einschließt: Viele Gemeinden rekonstruieren deutsche Gedenkstätten, die Ruinen der 1945 und 1946 verlassenen Dörfer werden zu touristischen Zielen, und zahlreiche Romane, Novellen und Filme konzentrieren sich auf die Gewalttaten kurz nach Kriegsende. Auch zahlreiche Dokumentarfilme sind in Tschechien entstanden, die zum Teil im staatlichen Fernsehen gesendet wurden und relativ große Resonanz gefunden haben.
Der Erinnerungswandel geht einher mit einer Pluralisierung der traditionell konflikthaften Vergangenheitsdiskurse, die in der Literatur in reflexiver, subjektivierter, anschaulicher Weise, in den Dokumenten wiederum in einer multiperspektivischen Darstellung Ausdruck gefunden hat. Im Gegensatz zu den propagandistischen filmischen und literarischen Arbeiten der Nachkriegszeit beschränkt sich die Darstellung der Vertreibung nicht länger auf die Perspektive der Tschechen, denen im Zweiten Weltkrieg die Rolle der Opfer zukam, sondern konzentriert sich auch auf die deutschen Opfer der gewaltsamen Vertreibung. Die Stimmen der nach Deutschland oder Österreich Vertriebenen wechseln sich hier mit denen der tschechischen Alteingesessenen in den Grenzregionen ab, die hier die nationalsozialistische Unterdrückung sowie die Neubesiedlung nach 1945 erlebt haben. Oft erhalten auch in Tschechien gebliebene Deutsche das Wort, die aus Mischehen stammen oder als Facharbeiter im Land bleiben durften.
Viele Filme konzentrierten sich in den letzten Jahren auf die Aufarbeitung konkreter Massaker an deutschen Gefangenen und Zivilisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Tschechoslowakei. Dem Massaker der Karpatendeutschen im Juni bei Přerov wurden die Filme Masakr na Švédských šancích (»Massaker an der Schwedenschanze«) und Bez šance (»Chancenlos, 2016), den Morden in Lesche/Leština und Blauda/Bludov die Filme Kde se valí kameny (»Wo die Steine rollen«, 2008) und Habermanův mlýn (»Habermann«, 2003) gewidmet. Für diese Filmarbeiten ist kennzeichnend, dass sie von engagierten Amateuren und nicht von professionellen Dokumentarfilmern initiiert und teilweise auch produziert wurden. Zu ihnen zählen der Schriftsteller Josef Urban, die Studentin Svatava Měrková und der Theaterwissenschaftler Vladimír Just. Das Ziel, die konkreten Gewalttaten an der deutschen Bevölkerung nach dem Ende des Krieges zu dokumentieren, setzen sich auch die Filme von David Vondráček, Řekni, kde ty mrtví jsou (»Sag, wo die Toten sind«, 2010) über das Massaker bei Postelberg/Postoloprty und Zabíjení po česku (»Töten auf Tschechisch«, 2010), die vom Tschechischen Fernsehen produziert wurden.
Die filmische Aufarbeitung der Ereignisse ist in solchen Fällen schwierig, weil authentische zeitgenössische Aufnahmen meist fehlen. Die wenigen authentischen Fotografien etwa von den Opfern des sogenannten Volksgerichtes in Landskron/Lanškroun, der Folterung der Gefangenen in Miröschau/Mirošov bei Rokitzan/Rokyčany und des Lynchmordes in Schüttenhofen/Sušice kommen deshalb in den Filmen wiederholt vor, da nur so die Leerstellen im visuellen Gedächtnis ausgefüllt werden können. Sehr wertvoll sind deshalb auch die Aufnahmen von dem Massaker in Prag-Bořislavka, gedreht von einem Amateur, die vor wenigen Jahren veröffentlicht wurden und in den Film Zabíjení po česku einbezogen wurden. Auf das Fehlen der visuellen Überlieferungen zu den tragischen Nachkriegsereignissen machte auch der Fotograf Lukáš Houdek mit sarkastischer Deutlichkeit aufmerksam, indem er mehrere Massaker an der deutschen Bevölkerung nach Archivquellen mit Barbie- und Ken-Puppen in höchst realistischen Kulissen inszenierte und als großformatige Fotografien ausstellte.
Andere Filme konzentrieren sich weniger auf die Dokumentation der Vertreibung und der damit verbundenen Exzesse als auf die Erinnerungen und subjektiven Deutungen der Ereignisse von Seiten der Augenzeugen, die miteinander konfrontiert werden. In dem Dokumentarfilm Naši Němci a jejich Češi (»Unsere Deutschen und ihre Tschechen«, 2011) werden beispielhaft die Erinnerungen der Vertriebenen mit den Erinnerungen jener Tschechen konfrontiert, die deren ehemalige Häuser bezogen haben und sich in einigen Fällen sogar mit den ehemaligen Bewohnern angefreundet haben. So wie in den zeitgenössischen Romanen wird in solchen Dokumentarfilmen der Dialog aber nicht nur zwischen Deutschen und Tschechen, sondern auch zwischen mehreren Generationen geführt: Die Vertreibung wird in den zeitgenössischen Dokumentarfilmen nur noch von den Augenzeugen vermittelt, die sie als Kinder miterlebt haben, und ihre Aussagen sind an die gerichtet, die keine Ahnung von der Zeit haben. Dazu kommt, dass die Urheber sowohl der nationalsozialistischen als auch der tschechischen Verbrechen heute zumeist tot sind und nicht zu Wort kommen können, so dass ihre Erfahrungen und Taten nur durch ihre jüngeren Angehörigen geschildert werden. Nicht nur die Erinnerung an die Vergangenheit, sondern gerade auch der Mangel an Erinnerung oder Verständnis, der nun einmal zur kindlichen Perspektive gehört, wird so – manchmal vielleicht unabsichtlich – zum Thema dieser Filme.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit steht im Zentrum auch des Dokumentarfilmes von Jan Gebert, Hra o kámen (»Das Spiel um den Stein«, 2012). Im Film werden die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern der Kleinstadt Haida/Nový Bor um ein neu errichtetes Denkmal für die Opfer eines Massakers von 1945 dargestellt, von denen einige der NSDAP und der SS angehört haben.
Obwohl das Thema Vertreibung heutzutage im Dokumentarfilm und in der Literatur durchaus präsent ist, fristet es im kollektiven Gedächtnis der tschechischen Majorität immer noch ein einsames Dasein. Das hängt auch damit zusammen, dass sich die Dokumentarfilme nur selten zum Ziel setzen, die Vertreibung im breiteren Kontext darzustellen. In den populären Darstellungen der tschechischen Geschichte, wie etwa in der Zeichentrickserie Dějiny udatného českého národa (»Die Geschichte der tapferen tschechischen Nation«) oder dem Dokudrama České století (»Das tschechische Jahrhundert«), spielt die Vertreibung immer noch eine episodische und marginale Rolle. Die Vertreibung wird hier zwar kritisch angedeutet, es fehlt jedoch an einer historischen Kontextualisierung.
Gerade in dieser Hinsicht ist die Dokumentarserie Česko-německé století von Jiří Fiedor, die vom Tschechischen Fernsehen 2018 produziert worden ist, bahnbrechend. In fünf Folgen der Serie, Vedle sebe nebo spolu 1918–1939 (»Nebeneinander oder Miteinander 1918–1939«), Zrada a ponížení 1938–1945 (»Verrat und Erniedrigung 1938–1945«), Odsun jako odplata 1945–1946 (»Vertreibung als Vergeltung 1945–1946), Není Němec jako Němec 1946–1989 (»Deutscher ist nicht gleich Deutscher 1946–1989«) und Budoucnosti vstříc od nezájmu k vzájemnému porozumění 1989–2018 (»Der Zukunft entgegen – von Desinteresse bis zum gegenseitigen Verständnis 1989–2018«), wird die Darstellung der gemeinsamen Geschichte mit der Gründung der Tschechoslowakei begonnen und mit einer höchst optimistischen Schilderung der Gegenwart abgeschlossen. Die Vertreibung, die historisch kürzeste unter allen in den vier Folgen geschilderten Episoden, steht offensichtlich im Zentrum des Plots; selbst dem Münchner Abkommen und dem Zweiten Weltkrieg mit den Verbrechen der Nationalsozialisten wird kein größerer Raum gewidmet.
Noch überraschender wirkt allerdings die erste Folge, in der die Gründung der Tschechoslowakei problematisiert wird, wobei darauf hingewiesen wird, dass dabei das Ergebnis der Volksabstimmung der Deutschen missachtet worden sei. Ein solches Narrativ entspricht eher der »sudetendeutschen« als der »traditionell tschechischen« Darstellung der Geschichte, da in den herkömmlichen tschechischen Geschichtsnarrativen die Vertreibung eher in den Kontext des Krieges und des Münchner Abkommens gestellt wurde oder noch weiter zurückgegriffen und die lange Epoche der »Germanisierung« nach der Schlacht auf dem Weißen Berg ins Feld geführt wurde.
Indem schon am Anfang der Serie die Gründung des Staates problematisiert wird, wird die spätere Katastrophe indirekt als Folge des schon im Ursprung liegenden Problems dargestellt und so die Rolle des Zweiten Weltkriegs in der narrativen Logik abgeschwächt. In diesem Sinne weicht die Serie von den traditionellen tschechischen Geschichtsnarrativen deutlich ab. Ebenso neu erscheinen aber auch die Momente, in denen die Vertriebenen die Verwicklung ihrer Familienangehörigen in nationalsozialistische Institutionen, etwa der SS, zugeben. Die Opfer werden so nicht mehr als ausnahmslos unschuldig und damit verfälscht dargestellt, wie es oft in der sudetendeutschen Literatur der Fall war.
Die Serie dokumentiert auf diese Art und Weise nicht nur einzelne Ereignisse der Nachkriegszeit, sondern konstruiert auch eine historische Erzählung, die mehrere gegensätzliche Geschichtsdeutungen zu verbinden vermag. Ob eine solche Herangehensweise ein Einzelversuch bleibt oder eine noch tiefgreifendere Umdeutung des kollektiven Gedächtnisses vorzeichnet, ist einstweilen offen. Entscheidend wird sein, dass nicht nur die Kritik an den Exzessen, sondern auch diese narrative Rahmung und historische Kontextualisierung der Vertreibung eine breitere Anerkennung im kollektiven Gedächtnis findet.