Architektur der Moderne in Oberschlesien zwischen 1919 und 1934. Von Nikolaus Striefler
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1406 | August 2019
 Das Seidenhaus von Erich Mendelsohn in Gleiwitz <small> Foto: © Tomasz Kiełkowski, archifoto.pl </small>

Das staatliche Bauhaus Weimar ging am 12. April 1919 aus der Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar und der 1915 aufgelösten Weimarer Kunstgewerbeschule hervor. Es zählte zu einem der Stellvertreter der avantgardistischen Architekturbewegung »Neuen Bauens« der zehner bis dreißiger Jahre des 20.Jahrhunderts, die auch vor dem seit dem Plebiszit von 1921 geteilten Oberschlesien nicht Halt machte. Und zwar beiderseits der Grenze.

Als es nach dem Ersten Weltkrieg am 20. März 1921 zur Volksabstimmung in Oberschlesien kam, votierten 59,6 Prozent für den Verbleib bei Preußen, während 40,4 Prozent für eine Abtretung an Polen stimmten. Um einer inneren Spaltung Oberschlesiens und damit verbundenen Konflikten vorzubeugen, entschied die Pariser Botschafterkonferenz Oberschlesien zu teilen und Ostoberschlesien dem wiedergegründeten Polen anzugliedern. Der Sitz der neuen Provinzregierung des deutschen Teils Oberschlesiens war nun Oppeln/Opole, während Kattowitz/Katowice die Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Schlesien wurde. Rasch bahnte sich ein Wettstreit der Systeme an, der vor allem in der Architektur sichtbar werden sollte und letztlich der nationalen Selbstbehauptung diente. So entstanden nach der Teilung Oberschlesiens sowohl im deutschen Beuthen/Bytom als auch im polnischen Kattowitz je ein oberschlesisches Landesmuseum. In Kattowitz wurde es allerdings noch vor der Eröffnung von den Nationalsozialisten abgerissen.

Die seit 1921 durchgesetzte deutsch-polnische Grenze verlief nicht nur mitten durch das Industrierevier, sie sollte auch zu einer Teilung des Wirtschaftsraums und zur Kappung sozialer und kultureller Verbindungen führen.

Dies sollte auch für den aus Kattowitz stammenden jüdischen Kaufmann Erwin Weichmann Anlass sein, seine Geschäftsaktivitäten in den deutschen Teil Schlesiens nach Gleiwitz/Gliwice zu verlagern. Er beauftragte am 20. Oktober 1921 den damals aufstrebenden Architekten Erich Mendelsohn mit der Planung eines ehrgeizigen Ziels, nämlich das »Silesia Handels- und Industriehaus« zu erbauen. Das Projekt sollte in der damals noch kleinbürgerlichen Stadt Gleiwitz an den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Inflationszeit scheitern. Der vom Entwurf des Gebäudes beeindruckte Weichmann entschied sich daraufhin für den Bau eines kleinen Geschäftshauses an der vom Eklektizismus des 19.Jahrhunderts geprägten Gleiwitzer Einkaufsstraße Wilhelmstraße/ul. Zwycięstwa. Das Seidenhaus Weichmann wurde zwischen Juni 1922 und Januar 1923 auf einem schmalen Eckgrundstück zur Promenadenstraße/al. Przyjaźni erbaut.

Mendelsohn in Oberschlesien

Den Hingucker dieses flach gedeckten Baukörpers aus Eisenbeton bilden die horizontalen Fensterreihen, die von breiten Profilbändern eingefasst sind. Der Ostpreuße Mendelsohn war von holländischer Architektur inspiriert, die er 1920 auf einer Vortragsreihe kennengelernt hatte. Im Seidenhaus Weichmann zitierte er den von ihm auf der Darmstädter Mathildenhöhe von 1906 bewunderten Hochzeitsturm von Joseph Maria Olbrich. Die Herausforderung für den Architekten bestand darin, den schwierigen Grundriss – die Front zur Hauptstraße ist nur 7,90 Meter breit – mit den Anforderungen eines Kaufhauses zu vereinen. Mendelsohn löste die Aufgabe geschickt, indem er die Gebäudeecke mit dem Geschäftseingang zurücksetzte und durch eine horizontale Linienführung die Passanten wie in einem Sog zur Schaufassade an der Nebenstraße leitete. Das dadurch quasi in Bewegung gesetzte Gebäude erfüllte laut Mendelsohn den Anspruch, »den Willen der Zeit zum Ausdruck zu bringen«.

Der im Frühjahr 1933 nach der NS-Machtergreifung zur Emigration gezwungene Jude Mendelsohn war ein Zeitgenosse von Le Corbusier sowie Kollege von Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius. Während das Seidenhaus Weichmann bereits errichtet wurde, befand sich das Bauhaus-Gebäude in Dessau noch in der Planung. Später sollte Mendelsohn zum Spezialisten für Handelskaufhäuser aufsteigen und viele weitere Aufträge erhalten.

Die Entwicklung ehrgeiziger architektonischer Projekte machte auch in Polen nicht Halt und wurde gezielt vorangetrieben. Der oberschlesische Teil Polens hatte nach dem Referendum 1,3 Millionen Einwohner, wovon ein Bevölkerungsanteil von 15 Prozent deutsch war. Der polnische Staat stand unter einem hohen inneren und äußeren Erfolgsdruck. Dazu gehörte, die Woiwoidschaft Schlesien zu einer kraftvollen Brutstätte und einem Bollwerk polnischer Kultur werden zu lassen. Die neu geschaffenen Machtverhältnisse sollten ihren Niederschlag in Architektur und Städtebau finden. Für das neue schlesische Parlament, den Sejm Śląski, sollte ein angemessener Bau in repräsentativer Form errichtet werden. Nach zwei Wettbewerben 1923 und 1924 unter der Maßgabe, einer national konnotierten Bauform gerecht zu werden, setzten sich in beiden Wettbewerben zwei neoklassizistische Entwürfe durch. Nach fünf Jahren Bauzeit wurde 1929 ein fünfgeschossiger, vierflügeliger Bau verwirklicht. Der Parlamentssaal bildet den Mittelpunkt des riesigen Komplexes, die üppige Innenausstattung lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Bau bewusst konträr zum Funktionalismus des Neuen Bauens stand. Eine bebaute Grundfläche von 9500 Quadratmetern, 634 Räume, die überkuppelte Eingangshalle und ein mit honigfarbenem Stuckmarmor verkleidetes Treppenhaus bildeten den größten Bau im damaligen Polen. Er war ein Symbol für das Nachholen dessen, was in den vergangenen über einhundert Jahren Fremdherrschaft nicht möglich schien. Weniger die Architektur war »polnisch« an diesem Gebäude als vielmehr die Ikonographie des Bauschmucks an der Fassade.

Moderne auch in Ost-Oberschlesien

Auch die Moderne fand in dieser Zeit Einzug in Kattowitz. Inmitten niedriger Mietshäuser nördlich der Eisenbahngleise baute der schlesische Architekt Tadeusz Michejda ab 1929 das siebengeschossige Hochhaus, das zu dieser Zeit als Inbegriff der funktionalistischen Wohnarchitektur galt. Die eigentlich für ihre Vorliebe für den Klassizismus bekannt gewesene polnische Eisenbahndirektion fungierte als Auftraggeber und akzeptierte den Entwurf. Die von der Moderne verachteten Formen der Nachbargebäude mit ihren Stuckaturen und ornamentierten Gesimsen wurden nur zwei Jahre später von halbkreisförmigen Balkonen und gläsernen Veranden des Hochhauses überragt.

Das schlesische Parlament in Kattowitz<small> Foto: © Tomasz Kiełkowski, archifoto.pl </small>

Noch höher hinaus ging es südlich der Eisenbahn. Mit 14 Stockwerken damals das höchste Gebäude in Polen, ging der Wolkenkratzer auf einen Entwurf von Tadeusz Kozłowski und die Konstruktion von Stefan Bryła zurück. Ausgestattet mit drei Fahrstühlen und einem Müllschacht verfügte es über recht hohen Komfort. Das Gebäude war ein Ausdruck der herrschenden Aufbruchstimmung innerhalb der Architektur hin zu in Stahl gegossenen Bauwerken. Der Stahlbeton wurde für das Fundament und die tragenden Wände genutzt, während der Rest des Gebäudes von einem Stahlgerüst gestützt wird: in der damaligen Zeit eine revolutionäre Konstruktion. Das Eckgebäude beeindruckt durch seine expressiv gegliederte, von Ecken und Kanten geprägte Fassade. Die Hintergründe für den Bau waren eindeutig. In der neuen Hauptstadt Ostoberschlesiens brauchten zahlreiche Beamte und viele Arbeiter der prosperierenden Industrie- und Tagebaubetriebe neuen Wohnraum. Da die möglichen Bauflächen in Kattowitz nur begrenzt vorhanden waren und die Stadt an vielen Stellen durch Schächte und Stollen unterhöhlt war, schien der Bau in die Höhe naheliegend.

Der 2015 eröffnete Neubau des Schlesischen Museums in Kattowitz.<small> Foto: © Tomasz Kiełkowski, archifoto.pl <s/mall>

Heute wird auch in die Tiefe gebaut: Am 2015 eröffneten Neubau des Schlesischen Museums wird deutlich, dass das Bauhaus nicht an Relevanz verloren hat. Während sich ein Teil der Ausstellungsräume untertage befindet, ragen auf dem Gelände der ehemaligen Zeche Ferdinand/Katowice gläserne Kuben in unterschiedlicher Höhe aus dem Erdboden heraus, die den Besucher zum Eintritt in den Unterbau bitten. Die Funktion und Form des über 76 Mio. Euro teuren, von der Europäischen Union geförderten Gebäudes der Architekten Riegler und Riewe aus Graz beeindruckt mit seinen sieben Stockwerken – davon drei im Untergrund. Unter Einbeziehung der Einrichtungen des stillgelegten Bergwerkes wird ein tieferer Eindruck in die schlesische Geschichte, Kunst und Kultur vermittelt. Das bleibt ebenso im Gedächtnis wie das vielgestaltige bauliche Erbe einer Metropolregion, die im Begriff ist, sich wieder zu behaupten und an den Erfolg alter Zeiten anzuknüpfen.

Denn bislang fiel den Oberschlesiern der Umgang mit dem modernen Erbe der Zwischenkriegszeit nicht leicht. So wirken die einst als Ikonen der Moderne geltenden Bauwerke von Kattowitz neben den gegenwärtigen Großprojekten der Stadt in die Jahre gekommen, und sie wurden häufig unsachgemäß saniert. Die Kattowitzer Kunsthistorikern Irma Kozina befürchtet stellenweise sogar den langfristigen Verfall und Abriss der stolzen Bauwerke. Die sich mit neuer Dynamik entwickelnde Hauptstadt Oberschlesiens scheint nach langen Jahren der Nachwendezeit in einem Aufschwung, der sich – etwa mit dem Schlesischen Museum, auch wieder baulich bemerkbar macht.