Zlaté Hory (n-ost) – Kein Mensch weit und breit, ein kalter Wind fegt über das Bahnhofsgelände in Zlaté Hory. An den Fenstern des Haupthauses hängt noch der Zugfahrplan, er ist nicht mehr gültig. Eisenbahner und Comic-Held Alois Nebel wäre heute arbeitslos, vergangenen Sommer wurde der Bahnverkehr von Zlaté Hory nach Jeseník eingestellt. »Nur an den Wochenenden ist hier noch Betrieb«, erklärt die Frau in der Touristeninfo freundlich. Und das, obwohl sich die Trasse von Zlaté Hory ins Kurbad Bludov jüngst zu einer der bekanntesten Verbindungen Tschechiens gemausert hat.
Grund dafür ist Jaroslav Rudiš` inzwischen dreibändige Graphic Novel Alois Nebel. Sie hat die Herzen vieler Tschechen erobert – und das mit ziemlich hartem Tobak. Der künstlerisch ambitionierte Comic sowie der danach im aufwändigen Rotoskopieverfahren produzierte Film von Tomáš Lunák setzen die Vergangenheit Mitteleuropas in Szene: Alois Nebel ist 1989 Bahnwärter an der Station Bílý Potok im ehemaligen Sudetenland und wird immer wieder von düsteren Kindheits-Erinnerungen an Vertreibung, Elend und Gewalt heimgesucht. Am kommenden Donnerstag, 12. Dezember, startet die Verfilmung der Graphic Novel in den deutschen Kinos. Der Film wurde 2012 für den Auslandsoscar nominiert und als bester animierter Spielfilm mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet.
Heute spürt man in Zlaté Hory von dieser Vergangenheit nichts mehr. Knapp 5.000 Menschen leben hier, umgeben von sanften Hügeln des Höhenzuges Jeseníky. Am Ende der Einkaufsstraße ziert eine Gedenktafel einen heruntergekommenen Altbau – es ist das Geburtshaus der Mutter von Franz Schubert. Auch Franz Kafka war mal in den goldenen Bergen, um im heutigen Kindersanatorium Edel seine Lunge zu kurieren. Damals lebten Deutsche und Tschechen noch Seite an Seite, der sudetendeutsche Ort hieß Zuckmantel. »Weil es hier oft kalt war, und die Leute ihre Mäntel enger um sich schlingen mussten«, vermutet Miroslav Adámek.
Wie so viele ist der 69-jährige Tscheche als Kind mit seinen Eltern aus Südmähren in das frühere Goldgräberstädtchen gekommen. »Wir haben vorher zu siebt in zwei Zimmern gewohnt, und hier gab es Häuser, die leer standen«, weiß er aus Erzählungen. Die ursprünglichen Besitzer des Hauses, in dem er aufgewachsen ist, seien noch einige Male vorbei gekommen: »Wir haben sie rein gelassen und sie herumgeführt«, erzählt er. Komisch fand er das nicht. »Schließlich war das früher ihr Zuhause.« Miroslav Adámek bedauert die Vertreibung der Deutschen: »Mit den Deutschen ist die Tradition gegangen. Sie haben Pfarrfeste gefeiert und ihre Bräuche gepflegt.« Dann kamen Menschen aus Mähren, der Slowakei und Griechenland, um hier zu leben. Brauchtum und Tradition hatten keine Erben.
Mit dem Auto dauert es eine halbe Stunde bis nach Horní Lipová. Das kommt dem fiktiven Bahnhof Bílý Potok am nächsten. Bahnangestellte Pavlína Zatloukalová fertigt den Zug nach Jeseník ab, dann schließt sie das kleine Museum Schlesischer Semmering auf, das sich in einem Nebengelass des Bahnhofs befindet. Historische Eisenbahnermützen, Fotos, Signalleuchten gibt es zu sehen und alte Fahrpläne mit deutschen Namen wie Ober Lindenwiese. So hieß der Bahnhof, an dem Zatloukalová heute Dienst tut, während des Zweiten Weltkrieges.
Das Schicksal der Sudetendeutschen wurde in der Tschechoslowakei meist totgeschwiegen. »Auch das Gebiet durften wir lange nicht Sudetenland nennen«, erinnert sich Jaroslav Rudiš, der studierter Historiker ist. Inzwischen gäbe es immer mehr junge Menschen, die sich fragten, wer früher in ihren Häusern gelebt habe. Rudiš ist überzeugt: »Das deutsche Thema ist einfach so lange tabuisiert worden, dass es heute wieder spannend ist.« Alois Nebel lädt dazu ein, die Vergangenheit neu zu diskutieren: Der Eisenbahner ist halb Deutscher, halb Tscheche, und seine schaurigen Erinnerungen quälen ihn so lange, bis er in der Nervenheilanstalt landet.
Inzwischen ist es dunkel geworden, die Straßen sind menschenleer. Zeit für ein Bier in der verrauchten Bahnhofskneipe von Lipová-lázně: An einem langen Tisch sitzen sieben Männer. Von Alois Nebel haben die meisten gehört, den Film gesehen hat aber niemand.
Zum Thema Sudetendeutsche fällt den Männern nicht viel ein. »Früher kamen ganze Reisebusse voller Menschen, die hier gewohnt haben und sich noch mal alles anschauen wollten«, erinnert sich Jakub Kaspar. Aber wahrscheinlich seien die meisten davon inzwischen verstorben.
Deutschenfeindlich ist hier niemand, aber auch nicht fremdenfreundlich. Viele Menschen in der Region fühlen sich abgehängt, die Arbeitslosenquote gehört zu den höchsten im Land. Fast jeder Zehnte bekommt sein Geld vom Arbeitsamt. »Unterhalb von Šumperk haben die eine unsichtbare Linie gezogen und alles oberhalb davon, also auch wir, interessiert die nicht«, bilanziert Kaspar. ›Die‹, das sind die Politiker in Prag. Frau Merkel könne ja mal vorbei schauen auf ein Bier, sagt der Mittzwanziger noch und sendet der deutschen Kanzlerin einen Gruß.