Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Eine Buchrezension von Ingeborg Szöllösi.

KK 1444 ReziMartin Luthers Devise »dem Volk aufs Maul schauen« nimmt Saša Stanišić in seinem 2024 erschienenen Erzählband ernst. Empathisch versetzt er sich in die Lebenslage vieler Menschen – mit und ohne Migrationshintergrund. Er weiß, wie sie denken und empfinden. Und er kann wie sie sprechen: wie ein türkischstämmiger Jugendlicher namens Fatih, der die geniale Idee hat, einen »Proberaum für das Leben« zu kreieren und der es später als Quantenphysiker weit bringen wird; wie ein aus Italien stammender, bei den Treffen vor dem Edeka immer zu spät kommender Junge namens Piero; wie eine Wirtin »mit kopfschüttelnder Stimme«, die die Geschicke des traditionsreichen Lokals »Inselkrug« auf der Nordseeinsel Helgoland lenkt; wie ein mit der Work-Life-Balance jonglierender Justiziar namens Georg; wie Gisel, eine alte Frau, der das Jahrhundert der Kriege und Vertreibungen in den Knochen steckt; wie Mo, ein Junge mit dem Schalk im Nacken, der »auf Geschichten als Kraftquelle des Miteinanders« vertraut und der seine Freunde – die Doppelkopf-Runde in Frau Idzikowskas Wohnung – mit immer neuen Themen überrascht; oder wie alle anderen Personen, die in diesem Buch ihren Auftritt haben, um der Hoffnung Ausdruck zu verleihen: »Leben! Jeder einzeln und frei wie ein Baum / und alle brüderlich wie ein Wald, /das ist unsere Sehnsucht!« Auch wenn sie unterschiedliche Sprachen sprechen, verbindet sie der Wunsch als Individuum anerkannt zu werden – wie Dilek, die als Kind in der Türkei unter einer Platane mit Sicht aufs offene Meer Ziegen hütete und nun als Erwachsene in Wien bei der stets mit allem, vor allem mit dem Lauf der Dinge in Österreich, unzufriedenen Frau Sehner als Reinigungskraft arbeitet

Auch der Ich-Erzähler, der bereits aus dem preisgekrönten Roman Herkunft bekannt ist, spricht seine eigene Sprache und wirkt wie alle anderen Akteure so authentisch, als würde er aus dem Buch herausspringen und neben uns her schreiten. Diesmal bewegt er sich in zwei Timelines: jener des Schriftstellers, den es 2023 anlässlich einer Lesung nach Heidelberg verschlägt, wo er aufgewachsen ist.; und jener des Jugendlichen, der seinen Heidelberger Freunden seine fiktiven Helgoland-Ferienerlebnisse erzählt.

Geboren im ehemaligen Jugoslawien, verbringt er seine Freizeit als 16-Jähriger mit Gleichaltrigen, die »inhaltlich« vielleicht nicht alles »raffen«, aber »emotional schon« und die wegen einer Sprache, die sie »unvollständig« sprechen, oft so behandelt werden, als seien sie »unvollständig«. Zwischen Wald und Weinbergen vertrauen sie sich ihre Tagträume an. Die drei Freunde Fatih, Nico und Piero sind im Rückblick für den Ich-Erzähler, der als Schriftsteller die Spielstätten seiner Jugend aufsucht, noch immer Vertraute. Er gedenkt ihrer, schließlich waren sie »die Einzigen, die wussten, dass ich Rilke drei Briefe geschrieben hatte.« Wer bitte macht sich heute lächerlich und schreibt altmodische Brief? Den dreien war schon damals sofort klar, dass so eine Rilke nicht einmal einem Saša antworten würde.

Wehmütig erinnert sich der Autor an den Sommer, den er allein auf einem Hochsitz im Wald, auf seiner »einsamen Insel«, verbrachte, Heinrich Heine, Franz Kafka, Hans Fallada und Hilde Domin lesend. Aus den Helgoland-Briefen Heines zog er die Inspiration für seinen Ferienbericht, den seine Freunde von ihm erwarteten. Dass seine Familie sich keinen Sommerurlaub leisten konnte, verschwieg er.

Den Freunden zollt der Autor auch nach vielen Jahren seine Anerkennung und Zuneigung. Ihnen scheinen die Geschichten aus diesem Buch gewidmet zu sein. Anders als in Herkunft wird hier die Bitte vorangestellt, man möge diese der Reihe nachlesen. Die Erzählungen bauen aufeinander auf und kommunizieren miteinander, selbst wenn die titelgebende Geschichte von Gisel, der Witwe mit der aufwühlenden Vergangenheit und dem brennenden Wunsch nach Austausch und Liebe, aus der Reihe tanzt. Doch auch sie ist von der gleichen Sehnsucht erfüllt wie alle Protagonisten in diesem Buch, obwohl sie, geboren 1938, auf ein Leben ohne Nähe zurückblickt: »Keine Zärtlichkeiten. In der Sprache nicht, nicht in den Berührungen.« Sie, die nur in kurzen abgehakten Sätzen sprechen kann, hat in dem »Proberaum des Lebens« eine Vision: dass sie einen Flugzeugabsturz überlebt und am Ort des Absturzes, am Rand eines Waldes, einen Bären trifft. Sie füttert ihn mit einem Apfel: »Der Bär frisst mir aus der Hand.« Ein zärtliches Gespräch entwickelt sich zwischen Mensch und Tier. Zu sich nach Hause, in seine Höhle in den Wald, bringt sie der Bär. Gisel zögert keine Minute und kuschelt sich an ihn: »Ich habe es warm.« Eine gute Option für eine bessere Zukunft!

Vielleicht hilft es, sich den Autor beim Schreiben dieser Geschichtensammlung mit einem lachenden und einem weinenden Auge vorzustellen. Sein Ton ist scherzend-ausgelassen, aber auch melancholisch-nachdenklich. Was bleibt, ist der Ansporn, mit Mut und Zuversicht den »Proberaum des Lebens« zu betreten. Ähnlich wie einst Novalis fragt sich auch Saša Stanišić: Wo will der Mensch hin? Die Antwort: »Am liebsten nach Hause«.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Luchterhand Literaturverlag, München 2024, 256 S.
ISBN: 978-3-630-87768-6