Zuneigung, Sympathie und Liebe auszudrücken, ist für uns heute selbstverständlich. Mit Überschwang und vielen anerkennenden Worten überschütten Erwachsene ihre Kinder. In vergangenen Zeiten, die so vergangen gar nicht sind, war das anders. Bei Herta Müller, Nobelpreisträgerin für Literatur, war es das Taschentuch, das zum Träger der Mutterliebe wurde: Statt einer Umarmung gab es stets die Frage, ob das Schulkind Herta sein Taschentuch dabei habe. Bei Josef Brustmann äußert sich die »mütterliche Aufmerksamkeit« in einem Päckchen Traubenzucker: Josef, das achte von neun Kindern des Ehepaars Brustmann, geht als Erster in der Familie aufs Gymnasium. Der Vater war dagegen, aber die Mutter umso mehr dafür: Zu ihrer Erfahrung zählt, dass »Bildung etwas Wertvolles« ist, hatte sie doch einen Bruder, der vor dem Zweiten Weltkrieg den Weg von Südmähren nach Prag wagte und Medizin studierte. Um der schulischen Anstrengung gewachsen zu sein, reicht die Mutter ihrem Gymnasiasten immer wieder mal eine süße Stärkung. »Liebe ist manchmal ein Traubenzucker.« Das spürt der Junge – und der erwachsene Autor versteht die Geste.
Auch vom Vater ist Zärtlichkeit und körperliche Berührung nicht zu erwarten – »die saftigen Ohrfeigen ausgenommen«. Trotzdem gelingt eine zarte Annäherung zu jenem, der »eher zum Feind als zum Freund« wird: Als der Vater wegen einer Darmverschlingung im Krankhaus liegt, bittet er Josef, ihm den Bart zu stutzen. Diese Nähe ist »gänzlich ungewohnt«. Der Sohn fragt sich, warum der Vater an dem »in Verruf gekommenen Zweifinger-Bärtchen« hängt und erwägt den »teuflischen Gedanken«, ihm diesen zu ruinieren, überlegt es sich dann jedoch anders. Wie viele Vertreter seiner Generation ist auch dieser Vater resistent. Über den Krieg und das erlittene Leid als Wehrmachtsoldat und Kriegsgefangener in Jugoslawien schweigt er. Das Thema Holocaust umgeht er gänzlich: »Über Auschwitz hatten wir einmal heftig gestritten. Er: Auschwitz hätte doch in Polen gelegen, das mit den Juden, das wären doch die Polen gewesen.« Trotzdem entwickelt sich zwischen den beiden eine Beziehung, denn »hätte das Lebensschicksal nicht so viele Trauertücher über ihn geworfen, hätten wir es bestimmt gut miteinander haben können.« Und als er im Krankenhaus liegt und der 50-jährige Sohn ihm beim »Bartschneiden« behilflich ist, verabschiedet sich der Vater mit den Worten: »Er: ‚Mein lieber Josef.‘ Ich drehe mich überrascht zu ihm, er wiederholt. ‚Unser lieber Josef.‘« Ein spätes Zeichen der Liebe. Nach dem Tod des Vaters folgt auch ein stilles Zeichen der Anerkennung, das jedes Kind braucht: Dutzende Zeitungsartikel über seinen erfolgreichen Kabarettisten- und Musikersohn Josef tauchen in der Hinterlassenschaft des Vaters auf.
Nach ihrer Vertreibung aus Südmähren sind Josefs Eltern bettelarm, doch beschreibt der Autor diesen Zustand als »reiche, stolze Armut«. Und so war auch dessen Kindheit »armselig, aber auch irgendwie selig« – die Landschaft um Waldram bei Wolfratshausen, ehemals Föhrenwald, dann nach dem Zweiten Weltkrieg zum Lager für Displaced Persons und zum jüdischen Schtetl umfunktioniert, bezaubert die Kinder. Mit Singen und Musizieren – beide Eltern sind musikalisch – wächst Joseph auf: In seiner Familie wird »fast mehr gesungen (…) als gesprochen.« Wenn jemand zu Besuch kommt, fordert das musikalische Ehepaar Brustmann die Kinder auf: »Singts dem Besuch was!« In allen Chören der Umgebung sind die Brustmanns unbezahlbare Stützen.
»Und immer haben wir gesungen zu Hause, jeden Tag, einfach so, aus Freud und immer mehrstimmig. Das Singen ist für mich so wie ein- und ausatmen.« Kein Wunder, dass Musik Josefs Leben bestimmen wird. Er studiert an der Münchner Musikhochschule, gründet eine Band, findet über das musikalische Improvisieren den »Weg in die Freiheit« und wird Kabarettist: »Selbstbestimmt das zu machen, was man ist, was man will, was man kann, ein Riesenglück.« Zu diesem Glück gehört, dass der Autor in seinem Rückblick auf die Geschicke der Familie dem unvoreingenommene Verstehen-Wollen der Vergangenheit Raum gibt. Mit seinem Erinnerungsbuch gelingt ihm eine lebenszugewandte Aufarbeitungs- und Versöhnungsarbeit: »An meinen Eltern halte ich mich fest. Nicht, dass ich das Einengende, Lebenseinzwängende ihrer Kirchen- und Dorffolgsamkeit nicht sehen würde. Aber in ihrer bescheidenen, natürlichen Art lagen auch Kraft und Ruhe. Sich selbst nicht zu wichtig nehmen, niemandem etwas neiden, sich mit dem begnügen, was ist, und damit zufrieden sein. Diesen wertvollen Lebensvorrat besaßen sie, weil sie der Natur noch so nahe sein durften und so sein wollten, wie die Natur. Man konnte lernen von ihnen.«
Fürs Leben gibt es keine »Generalprobe«, doch kann das Erinnern Zukunft gestalten und macht den Menschen friedlicher und glücklicher.
Josef Brustmann: Menschenwege in Herzgegenden
Allitera Verlag, München 2023, 140 S., 20,00 €
ISBN 978-3-96233-400-0