Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben. Buchrezension von Ingeborg Szöllösi
Buchcover: Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben

Der Meister kompakt und verständlich geschriebener Biografien über Schopenhauer, Heidegger, Nietzsche, Schiller, Goethe, Hölderlin und andere) widmet sich Franz Kafka. Im Leben und Werk des Prager Schriftstellers, dessen Tod sich 2024 zum 100. Mal jährt, macht Rüdiger Safranski ein zentrales Motiv aus, die Schreibobsession. In 13 Kapiteln werden entscheidende Lebensstationen um diesen Beweggrund gruppiert. Wie sich eine Geschichte entwickelt, bleibt bei Kafka ein Mysterium, dem er sich mit Leib und Seele hingibt. Er kann nächtelang durchschreiben, ohne auf die eigenen Bedürfnisse zu achten; die Schreibaskese beschert ihm eine »fürchterliche Anstrengung und Freude«, wie er in einem Brief an seine erste Freundin, Felice Bauer, kundtut. Doch ist er sich dessen bewusst, dass er durch das Schreiben Schuld auf sich lädt: »Er schuldet dem Leben das Leben, weil er nur schreibt. Schuldig werden am Leben – das gilt gegenüber Felice, dem Vater, der Familie, den Freunden, dem Judentum, der Berufsarbeit und schließlich auch gegenüber den politischen Geschicken.« Wie gnadenlos das innere Gericht in der Seele eines Menschen unbewusst walten kann, zeigt Safranski treffend anhand von Kafkas Prozess auf – die Hauptfigur wird eines Vergehens bezichtigt, fühlt sich jedoch nicht schuldig.

Auch Dora Diamant, Kafkas letzte Freundin, erinnert sich an seine Schreibbesessenheit: »Kafka musste schreiben, weil das Schreiben seine Lebensluft war. Er atmete sie im Rhythmus der Tage, an denen er schrieb. (…) Er sprach dann wenig, aß ohne Appetit, nahm an nichts Anteil und war sehr niedergedrückt; er wollte allein sein.« Das klingt nach Rückzug, Einsiedelei, egoistisch anmutender Verschrobenheit. Doch ist von jenem skurrilen Kafka eine zutiefst menschliche Geschichte überliefert: In seinem letzten Lebensjahr traf er bei einem Spaziergang mit Dora Diamant im Steglitzer Park in Berlin ein Mädchen, das den Verlust seiner Puppe bitterlich beweinte. Kafka behauptete spontan und glaubwürdig, die Puppe sei nicht verloren, sondern auf Reisen gegangen, sie habe ihm einen Brief geschrieben. Diesen und noch weitere Briefe brachte Kafka dem Mädchen in den folgenden drei Wochen in den Park. Die Geschichte hat ein Happy End. Kafka verheiratete die Puppe glücklich– eine durchaus plausible Erklärung dafür, dass sie nun nicht mehr auftauchen könne. So gelang es dem Einsiedler mit seinem tiefen psychologischen Spürsinn, ein verzweifeltes Kind zu trösten!

Diese und viele andere Geschichten rund um Kafkas Schreiben sind in Safranskis Kafka-Buch enthalten. Das Schreiben hat viele Funktionen: Schreiben, um am Leben teilzunehmen; Schreiben, um über sich selbst zu reflektieren; Schreiben, um die Familie und die Gesellschaft näher heran zu zoomen; Schreiben, um über Themen wie Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe, Freundschaft zu sinnieren; Schreiben, um existenzielle wie metaphysische Fragen in stringente Bilder zu überführen; Schreiben, um die Geschichte und das Schicksal der Juden besser zu verstehen; Schreiben, um die eigenen Dämonen zu bändigen, ja ihnen zu entkommen. Schreiben ist für Kafka das große »Experiment des Zur-Welt-Kommens«, schreibt Safranski. Dass dieses Experiment nicht gescheitert ist, davon zeugt die ungeheuer vielfältige Rezeptionsgeschichte von Kafkas Werk: »Die Erinnerung an ihn, sein Nachleben in seinen Schriften, ist lauter und lebendiger, als er in seinem Leben je war.« Wie sein Hungerkünstler oder die Maus Josefine stirbt Kafka leise – am 3. Juni 1924 in einem Sanatorium in der Nähe von Wien. Max Brod, sein Freund, wird sein gesamtes Werk, »auch noch das letzte beschriebene Blatt Papier«, veröffentlichen. Es sind Geschichten über das gewöhnliche Leben, die Ungewöhnliches transportieren und die Leserschaft bis heute elektrisieren.

Kafka lässt zeit seines Lebens nur Bücher gelten, »die einen beißen und stechen«, denn »ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns« – davon ist er überzeugt. Lektüreerlebnisse dieser Art sind für ihn Sören Kierkegaard und Arthur Schopenhauer, zwei schreibbesessene Einsame wie er selbst. Ersterem verdankt Kafka die Einsicht, dass Selbstbeobachtung noch lange keine Selbsterkenntnis ist. Letzterem – die Schlussfolgerung, dass trotz des genauen Beobachtens, das immer einen Außenstandpunkt einnimmt, sowie des innerlich angelegten Erkennens, das in die Tiefe geht, etwas in uns unergründbar bleibt. Im Unterschied zu Schopenhauer nennt Kafka das »Unzerstörbare« in uns nicht »Wille«, sondern »Seele«. Bei seinem Aufenthalt in Zürau/Siřem, wo seine Lieblingsschwester Ottla Landwirtschaft betreibt, genießt Kafka das rege Dorfleben und beschäftigt sich mit philosophischen Fragen. Zustande kommen in dieser Zeit seine Aphorismen, in denen sich die Welt dem Autor »entzückt« darzubieten scheint. Es ist ihm vermutlich gelungen, »die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche« zu heben, denn so umschreibt er sein Schreibziel in einer frühen Tagebucheintragung.

Kafkas »Kampf um die Selbsterhaltung« entscheidet sich am Schreibtisch – und sonst nirgends. Safranskis großer Verdienst ist es, anhand ausgewählter Texte und Lebensstationen Kafkas Schreiben eindrücklich als »Seele in Aktion«, die ein »gesteigertes, intensives Leben« möglich macht, überzeugend zu präsentieren.

Rüdiger Safranski: Kafka. Um sein Leben schreiben
Hanser Verlag, München 2024, 256 Seiten
ISBN 978-3-446-27972-8
Hardcover und eBook