Iris Wolff: Lichtungen. Eine Buchrezension von Ingeborg Szöllösi
Kulturkorrespondenz östliches Europa – Ausgabe 1441

KK 1442 | Rezension Juli 2024

Iris Wolffs neuer Roman ist der Versuch einer Rückwärtsrolle – Kapitel Neun ist der Auftakt, Kapitel Eins das Ende. Es scheint, als habe sie Kierkegaards Satz, das Leben müsse rückwärts verstanden, jedoch vorwärts gelebt werden, in Dichtung verwandelt: »In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens (…). Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen.«

Mit ihrem Romanprotagonisten Lev lotet die Autorin die »hauchdünne Schicht« aus, die es »zwischen Gestern und Morgen« gibt. Lichtungen verbinden Lev mit Kato. Die beiden sind ein ungewöhnliches Paar, das sich nach einer längeren Trennung wiederfindet und beschließt, in ihren Heimatort zurückzukehren: ein Dorf in den rumänischen Waldkarpaten, in dem sich ihre Lebenswege einst schicksalhaft verschränkten, ja verknoteten. Ihre Begegnung – ein gordischer Knoten.

Beide waren in Richtung Westen aufgebrochen. Kato, die talentierte Zeichnerin, früher, mit dem Fahrrad an der Seite eines anderen Mannes, den es jedoch in Zürich, wo sie sich als Streetart-Künstlerin durchschlägt, nicht mehr gibt. Er, der Waldarbeiter, reist später – mit dem Zug über Wien nach Zürich. Und doch liegt ihrer beider Zukunft ostwärts.

Die Wunde, die ihr Aufbruch in Lev hinterließ, war nicht ganz verheilt, als ihn ihr unverhoffter Ansichtskartenruf erreicht: »Wann kommst du?« Und er bricht auf. Doch sein Aufbruch steht im Zeichen der Erinnerung. Seine Heimatregion ist ihm in die Seele eingeschrieben. Unsichtbare Fäden verbinden ihn mit seiner Mutter, seinem früh verstorbenen Vater und seiner Großmutter »Bunica«.

Von klein auf beschäftigt Lev die Frage: Wer bin ich? Bei einer siebenbürgisch-sächsische Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach. Sein Großvater Ferry, der in seinem Leben »einiges« gewesen ist, macht es sich einfach: »Er sei als Österreicher in dieses Jahrhundert gestartet und, obwohl er sich geographisch nicht vom Fleck bewegt hatte, Rumäne geworden, dann Ungar und habe schließlich, auch wenn sein Pass ihn jetzt wieder als Rumänen auswies, entschieden, er bleibe Österreicher.«

Als Siebenbürger Sachse, der überzeugt ist, dass es mit dieser ethnischen Gruppe »vorbei« sei, hat er kein Verständnis für seine Tochter Lis, die nicht auswandern will: »Ferry konnte nicht verstehen, (…) warum überhaupt einer der Deutschen in Rumänien blieb nach dem jahrzehntelangen Eingesperrtsein.« Während er die Menschheit in »Heilige und Verrückte, kluge Leute und Idioten« einteilt, hat die Großmutter väterlicherseits einen besonderen Sinn für Nuancen.

Sie ist nicht nur mit ihren Ahnen verbunden, die »schon im achtzehnten Jahrhundert mit den österreichischen und Zipser Kolonisten Bäume gepflanzt« haben. Sie hat auch einen Draht zur Anderswelt. Bei jeder Mahlzeit steht ein »überzähliges Gedeck« auf dem Tisch. Mit ihren besonderen Sensoren weiß sie im Diesseits »Rat, bevor man überhaupt in Schwierigkeiten« steckt. In Zeiten der Diktatur und Bespitzelung ist das eine hilfreiche Gabe.

»Fort-Sein« heißt für den unternehmungslustigen Großvater Ferry »Da-Sein«. Ihn begleitet Lev zur Kur. Der Jugendliche füttert mit der schönen Helene aus Kronstadt/ Brașov Eichhörnchen im Kurpark, doch endet diese »Coming of Age«-Geschichte fatal. Lev wird nicht mehr laufen können. Ausgerechnet ein Mädchen, »mit dem keiner etwas zu tun haben wollte«, wird ihn täglich mit Schulstoff versorgen, Kato. Ihm war sie bereits aufgefallen. Manchmal tat sie ihm leid, ihre Mutter war früh verstorben: »Ihr Vater kümmerte sich nicht darum, ob Katos Haare (die sich nicht entscheiden konnten, ob sie glatt sein wollten oder lockig) gekämmt waren, ob ihr Gesicht gewaschen war, ob ihre Kleidung Löcher hatte.« Als auch er »aus der Ordnung« fällt und ein »Überzähliger« wird, tut er ihr leid. Die Empathie der beiden füreinander bindet sie aneinander – und es ist zu hoffen, dass Katos »Glückshaut« für beide reicht.

Iris Wolff: Lichtungen 

Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024, 256 Seiten, 

ISBN 978-3-608-98770-6