Die Beiträge des Buches beschäftigen sich mit vier verschiedenen Aspekten des Themas und sind deshalb auch für einen breiten Leserkreis interessant: Im Kapitel »Die SBZ/DDR als Aufnahmegebiet« wird die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen von ihrer Ankunft in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bis zum Mauerbau in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) dargelegt. Fast 12,5 Millionen Menschen mussten nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen werden, davon über acht Millionen in Westdeutschland, über vier Millionen in der SBZ. 1949 stellten sie in der SBZ bzw. DDR über 24 Prozent der Nachkriegsbevölkerung, in Westdeutschland über 15 Prozent – letzterer Anteil vergrößerte sich bis zum Mauerbau auf über 21 Prozent. Im schwach besiedelten Mecklenburg machten die »Umsiedler« 43 Prozent aus, in Sachsen 17 Prozent. Nach 1961 verblieben in der DDR über drei Millionen. Ihre Unterbringung in Städten ließ sich entgegen der Absicht der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) nicht verhindern, als Unterkünfte dienten Schulen, ehemalige Wehrmachts- und Zwangsarbeiterbaracken, Ballsäle und Gasthäuser. Um eine schnelle Assimilation und Unterdrückung jeglichen Sonderbewusstseins der Vertriebenen und Flüchtlinge zu erreichen, führte man in der SBZ zwar rasch – schon im Oktober 1946 – die Unterstützung für Bedürftige und Arbeitslose ein, die 45,5 Prozent dieser Gruppe zugutekamen. Doch 1949 war damit Schluss, während im selben Jahr nun die zwar später aufgelegte, aber fortlaufend gezahlte Unterhaltshilfe in Westdeutschland einsetzte. Insgesamt erhält man einen detailreichen Einblick in die Gruppe selbst, vor allem die erschütternde Wirklichkeit der Älteren unter ihnen, in die Anwendung verschiedener, letztlich unwirksamer Instrumente der SMAD bzw. DDR-Regierungen, die Flüchtlinge und Vertriebenen in die einheimische Bevölkerung einzugliedern. Vor allem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze 1950 durch die Sozialistische Einheitspartei (SED) trug dazu bei, diese Gruppe den bürgerlichen Parteien in die Arme zu treiben.
Das Kapitel »Der ‚Umsiedler‘-Diskurs in der DDR« enthüllt die wechselnden Befürchtungen der DDR-Staatssicherheit, die die Vertriebenen als unsichere Gruppe einstufte, sowohl für das Verhältnis des jungen Staates zu seinen östlichen Nachbarn als auch innergesellschaftlich. Wenn trotzdem auch größere Treffen innerhalb dieser Gruppe, z. B. in den Zoos von Halle und Leipzig, unbehelligt blieben, so eher aus dem Kalkül, durch willkürliche Duldung gewisser Nischen das Oppositionspotential der Vertriebenen klein zu halten. Sehr genau wurden die Entwicklung von Landsmannschaften, ihre Jahrestreffen sowie ihr Zentrum »Haus des Deutschen Ostens« in Westdeutschland und West-Berlin beobachtet. Biographische Schlaglichter erzählen von heimatvertriebenen Christen, die in der SBZ/DDR gleich zweifach stigmatisiert waren: wegen ihres Vertriebenenschicksals und ihres Glaubens.
Spannend liest sich auch das Kapitel »Die Heimatverbliebenen in der VRP und der ČS(S)R«, in denen für Polen anhand der Einteilung der verbliebenen Deutschen in Ethnische, Einheimische und Volksdeutsche ihre unterschiedliche Behandlung bis zum Umbruch 1989 aufgefächert wird. Für Tschechien steht am Ende der profunden Betrachtung zu den verbliebenen Deutschen das eher traurige Fazit, dass diese als Minderheit seit den 1980er Jahren vor dem Untergang stehen. Im abschließenden Kapitel »Die Bedeutung der Vertriebenen heute« wird auf die Rolle der Vertriebenen bei der deutsch-polnischen Verständigung sowie auf ihre Bedeutung für aktuelle und zukünftige Migrationsereignisse und den Umgang damit eingegangen. Eine lohnende Lektüre also nicht nur, um Prozesse bei der Eingliederung so vieler Menschen vor knapp 80 Jahren in die SBZ/DDR zu verstehen, sondern auch, um heutige Integrationsprobleme vor der eigenen Haustür nachzuempfinden.
Hartmut Koschyk und Vincent Regente (Hg.): Vertriebene in SBZ und DDR, be.bra wissenschaft verlag, Berlin 2021, 223 S., ISBN 978-3-95410-274-7
Das Buch steht als CC Lizenz auch bei der Deutschen Gesellschaft e.V. als Download zur Verfügung.