Bernadette Conrad: Was dich spaltet. Eine Rezension von Ingeborg Szöllösi

Buchcover: Bernadette Conrad: Was dich spaltetDie Beschäftigung ihrer älteren Schwester Kati mit den »rätselhaften Trümmern«, mit der Vergangenheit, das Sammeln von Fotos, Zeugenberichten, Feldpostbriefen, Tagebucheinträgen, die Suche nach persönlichen Spuren, die vielen Reisen nach Polen sind Eva suspekt. Kati hatte als Studentin das Elternhaus verlassen und sich aus der Sicht der Jüngeren, die eine Führungsposition in einer Textilfirma innehat, für die Eltern nicht mehr verantwortlich gefühlt. Doch Katis »Suche nach den Stimmen derer, die jung den Zweiten Weltkrieg an der Front erlebt, und ihn überlebt hatten« geht weiter – sie nimmt den daraus entstehenden Konflikt mit der Schwester in Kauf: Sie will ihren Vater verstehen, obwohl er für sie »so gründlich tot ist, solange schon nicht mehr da, dass Raum für etwas anderes entstanden ist; ein leerer Raum, in dem ich nach dem suchen kann, der du warst, bevor ich dich kannte: ein Junge, ein Mann mit dem Namen Dietrich Claassen«.

Kati, eine alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern, als Übersetzerin und Autorin beruflich erfolgreich, will die Geschichte ihres Vaters, des »großen Schweigers«, rekonstruieren. Aus Danzig/Gdańsk stammend hat er den Wahnsinn des 20. Jahrhunderts erlebt und überlebt. 1939 war er 14 Jahre alt. Gekämpft hat er »auf der falschen Seite« – im Unterschied zu einer flüchtigen, aber entscheidenden Bekanntschaft von Kati, einem Amerikaner, der Kati und ihre ältere Tochter in Vermont (Amerika) während eines Sturms rettet und beherbergt. Diese Begegnung ist die Initialzündung für den Beginn der Recherche, die Kati nach Danzig führt. Dort haben am 28. Juni 1919 Martha Bröske und Paul Claassen, die Großeltern von Kati, geheiraten – am Tag, an dem der Versailler Friedensvertrag unterzeichnet worden ist. Ein historischer Augenblick, der das Leben der Familie umkrempelte: In den Anfang dieses Paars »hatte der Erste Krieg schon eine ordentliche Dosis Ende gestreut«.

Bernadette Conrad geht in ihrem Debütroman einer »Zeit der großen Verschiebungen« nach und begleitet Kati beim schwierigen Unterfangen, deren persönliche Familiengeschichte mit historischen Ereignissen zu verbinden. Es gibt mehr Fragen als Antworten, doch an jeder Frage hält Kati, das Alter-Ego der Autorin, fest – sie bieten ihr Anker und Orientierung: »Schreiben müssen (…). Dinge zueinander fügen. Fragmente ordnen, Chronologien erstellen. Aus den Stichworten Sätze machen. Es könnte ein Zusammenhang werden.« Kursiv eingeflochten ist Katis Bemühung, ihre Recherchen zu Papier zu bringen: »Würde, war das für dich ein wichtiges Wort, Dietrich? Eine wichtige Kategorie? Ich könnte es nicht sagen. Aber ich denke oft darüber nach, ob Würde etwas ist, das wir Menschen haben, und behalten, wenn es nicht gestört und zerstört wird?«

In Conrads Buch verschränken sich mehrere Handlungsebenen: das »Jetzt«, in dem Kati lebt, ihre eigenen Erinnerungen sowie die Familiengeschichte, die sie hundert Jahre zurückverfolgt. Auch stilistisch ist die Vielfalt groß: Berichtende Passagen lösen psychologisch-feinsinnig analysierende oder poetisch beschreibende ab. Dabei entsteht ein Roman-Fluidum, das nach Zusammenhängen sucht. Vergangenes liegt nicht hinter uns, sondern in uns – das scheint, die Auskunft dieses außergewöhnlichen Buches zu sein.

 

Bernadette Conrad: Was dich spaltet
Transit Verlag, Berlin 2023, 216 S., ISBN: 978 3 88747 398 3