Schon einmal hat die 1964 geborene Autorin Susanne Fritz eine »Gesamtschau« über die Jahrzehnte geliefert, die verbrannte Erde und verstümmelte Seelen hinterließen, über den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre: In ihrem Buch Wie kommt der Krieg ins Kind (aus dem Jahr 2018) ist sie der Lebensgeschichte ihrer aus Schwersenz/Swarzędz bei Posen/Poznań stammenden Mutter nachgegangen. Krieg, Vertreibung, Flucht, Internierungslager prägen die Kindheit und Jugend einer Frau, die später zu ihren Kindern sagen wird: »Es ist ein Wunder, dass es euch gibt.« Über diesen Satz wundert man sich erst recht nicht mehr, wenn man Fritzʼ jüngst erschienenes Buch über das Schicksal ihres in Zalasewo geborenen Vaters liest. In ihrer »alten Heimat« hatten sich die Wege der beiden gekreuzt: Zalasewo liegt etwa vier Kilometer von Schwersenz entfernt. Nach acht Jahren, im Winter 1952, treffen sie sich in der Bundesrepublik wieder und heiraten nach sieben Monaten, nach einer intensiven Zeit des Briefeschreibens: »Die Taschen der Postboten waren voller Geheimnisse.«
»Lebenswege hinterlassen keine Wanderkarten. / Von Fluchtwegen bleibt eine innere Zeichnung, die rückwärts führt ins Labyrinth.« – Fritz weiß, dass sie sich auf eine »Irrfahrt« begibt. Sie wird »so klug als wie zuvor« daraus hervorgehen, und dennoch wagt sie die Reise ins Ungewisse. Den Auftakt macht ein Aufruf: »Ich suche einen Mann, dessen Leben im Alter von dreiundzwanzig Jahren beginnt.« Ihm fehlen 23 Jahre und diese »Leerstelle« will die Autorin in Augenschein nehmen, was so viel heißt wie: »In einer Schneelandschaft erste Spuren entdecken.« Ihr gelingt die Komposition von einer einmaligen Lebensmelodie, in der viele Scherben klirren – von zerschlagenen Spiegeln bis hin zu Schallplatten. Sie sind der Ausdruck für tiefe, noch immer blutende Wunden.
Im März 1944 wird der siebzehnjährige Heinrich in die Wehrmacht einberufen – gebangt hat er, »dass der Krieg ohne mich gewonnen werden könnte«. Die Euphorie ist groß, der Junge träumt vom Ritterkreuz und wacht auf dem Schlachtfeld im umkämpften Schneidemühl/Piła auf: »Überall Tote.« Das Entsetzen ist groß. Die Gräuel des Krieges machen aus ihm einen militanten Pazifisten: »Jedem Deutschen, der je wieder eine Waffe anrührt, soll die Hand abfallen! Falsch. Er sagte nicht, dass ihm die Hand abfallen solle, sondern dass sie ihm abgehackt gehöre.« Gewalt erschöpft sich nicht von selbst – das bekommen Heinrichs Kinder zu spüren. Doch dieses Buch, das eine Tochter ihrem Vater widmet, hätte läutern und versöhnen können. Für den Vater kommt es zu spät. Jedoch nicht zu spät für die Leserschaft, die erneut Zeugin eines Krieges auf europäischem Territorium ist. Und auch Letzterer ist Thema von Fritzʼ Roman.
Susanne Fritz: Heinrich. Roman. Eine Rezension von Ingeborg Szöllösi
Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 211 S., ISBN 978-3-8353-5402-9