Gut, dass Leila Arnold hat, ihren besten Freund und Seelenverwandten, mit dem sie »das Gefühl von Freiheit und Verwunderung« teilt. Leila wäre gerne so, wie die anderen Mädchen, aber sie hat es nicht leicht mit ihrer Familie. Die Tante Ömir-Ölim ist mehr gruselig als liebevoll. Die Mutter, aus Polen stammend, fühlt sich fremd am Stadtrand von Mülheide, einem »Hort von Sonderlingen und Eigenbrötlern«. Leila liebt ihren Vater, aber sein Verhalten ist doch oft undurchschaubar und ganz schön seltsam: Als es bei einem Eltern-Kind-Treffen in Leilas Grundschule plötzlich polternd an der Tür klopft, schreckt er auf, wirft dabei seinen Stuhl um und springt kurzerhand aus dem Fenster.
In Sibir erzählt Sabrina Janesch, mäandernd und feinfühlig ineinander verwoben, zwei Kindheiten – die von Leila, die in Mühlheide aufwächst, einem Kleinstädtchen bei der Lüneburger Heide. Und die von ihrem Vater Josef, der als Kind gleich dreimal Verschleppung und Flüchtlingselend erfuhr. Die Spätaussiedler in den 1990er Jahren bringen die Erinnerungen des Vaters zurück und das Leben seiner Tochter dadurch gehörig durcheinander.
Ursprünglich stammen die Ambachers aus Galizien. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges seien sie »Heim ins Reich« gezogen, erzählt Leilas Vater, ins kurz zuvor noch polnische Wartheland. Er schämt sich dafür, dass er und seine Familie in den Höfen vertriebener polnischer Bauern gelebt hatten. Als die russische Armee das Gebiet erobert, werden Josef, sein Bruder und seine Mutter, der Großvater die Großmutter und die Tante Antonia, die Leila Tante Ömir-Ölim nennt, nach Osten verschleppt, weit nach Osten, nach »Sibir«, hatte Josef munkeln gehört.
Tatsächlich landen die Ambachers in Kasachstan. Als sie aus dem Zug geworfen werden, herrscht ein wilder Schneesturm, in den die Mutter verschwindet. Die Suche nach ihr wird das Kind die nächsten Jahre begleiten. Dabei unterstützt ihn sein kasachischer Freund Tachawi. Die Entwicklung der Beziehung der beiden Jungen und später auch ihrer Familien, die gegenseitige Neugier und der respektvolle Umgang mit der Kultur des jeweils anderen ist einer der schönsten Handlungsstränge des Buches.
Josefs Zeit in Kasachstan prägt ihn – und viele Jahre später auch seine Tochter. Da sind die schönen Aspekte, die Freundschaft, die Weite der Landschaft – da ist aber auch die Angst vor einer scheinbar alles hörenden, alles sehenden stalinistischen Obrigkeit und eine große Schuld, die Josef auf sein junges Gewissen zu laden scheint. Jahrzehnte später, bis ins Erwachsenenalter, richten sich Leila und Arnold stellvertretend für ihre Eltern Unterschlupfe, Höhlen mit Lebensmitteln ein, um sich notfalls verstecken zu könnten. Die Traumata werden vererbt.
Und doch ist Sibir keine bedrückende Lektüre, im Gegenteil. Janesch seziert mit Humor die Macken des Vaters, schaut liebevoll auf die exaltierte Mutter und begleitet Leila, ihren Freund Arnold und den Aussiedlerjungen Pascha wohlwollend bei ihren kindlichen Eskapaden auf dem Weg zum Erwachsensein. Ein Auge weint, das andere lacht, aber beide bleiben gebannt bis zur letzten Zeile.
Sabrina Janesch: Sibir.Rowohlt Verlag, Berlin 2023, 24 Euro, 148 Seiten, ISBN 978-3-7371-0149-3