Sinnlich sind Iris Wolffs Bücher generell. In ihrem jüngst erschienenen Roman kommt eine philosophische Note hinzu: »Die Bahnhöfe im Banat waren so eingerichtet, als gäbe es keine Notwendigkeit, irgendwo anzukommen.« Und: »Erst das Ende offenbart, ob der Anfang gelungen ist.«
Am Anfang des Romans ist Stille. Am Ende ebenfalls. Und auch zwischendurch wird viel geschwiegen. Florentine, die Romanfigur, die als Erste eingeführt wird, stellt fest: »Alles geschah lautlos. Wenn Florentine etwas hätte benennen sollen, das ihr neues Leben ausmachte, so wäre es diese Stille.« Das »neue Leben« ist das Leben an der Seite ihres Mannes, Hannes, eines evangelischen Pfarrers aus Siebenbürgen, den es ins Banat verschlagen hat. An einem kalten Tag im März kommt Florentines Sohn Samuel zur Welt. Bei ihm schlägt sich diese Stille in seinem Temperament nieder: »Er hatte eine Ruhe, Gegenwärtigkeit, nach der sich viele sehnten.« Still ist auch Noah, der Freund Livs. Zwischen Liv, der zuletzt eingeführten Romanfigur, und ihrem Vater Samuel herrscht Gleichklang: »Sie würden sich beide in der Stille einrichten, weil die Stille etwas war, in der sie sich auskannten, einander wiederfanden.«
Und in dieser Stille richten sich noch einige weitere Figuren ein: Auf Hannesʼ Pfarrhof taucht ein DDR-Tourist, Bene, ein stiller Buchhändler mit guter Beobachtungsgabe, auf, der später Livs Patenonkel wird. Oswald verschwindet – nach einer abenteuerlichen Flucht mit seinem Freund Samuel – in der stillen Weite der Nordsee. Stana, Samuels Ehefrau, kommt aus einer Familie, die bei verwundeten Lippen oder Augen tut, »als wäre nichts aufgeplatzt, nichts geschwollen«; der Bezug zur Mutter, deren Lachen »in Stanas Magen ein warmes Licht anknipste«, ist dennoch intensiv. Karline, Samuels Großmutter, lebt ihren Alltag »gestärkt von Erinnerungen« an der Seite Johanns, der ihr nichts als Schweigen entgegenbringt. Das Ehepaar Ruth und Severin verlieren ihren 16-jährigen Sohn, der in der Marosch ertrinkt. Was ihnen bleibt, ist Schweigen.
Iris Wolff komponiert in sieben Kapiteln, die der Stimmlage von sieben Personen entsprechen, einen Roman, der sich gleichermaßen als ein Kaleidoskop von Familien- und Freundschaftsmustern betrachten lässt. Das Leben in einem multiethnischen Ort im Banat, die Securitate-Verhöre, das In-der-Schlange-stehen, das Abtreibungsverbot mit seinen desaströsen Folgen, illegale Flucht, Umbruch 1989, Ausreise und Neuanfang in Deutschland – all das gruppiert sich um das Leitmotiv der Stille.
Ist Liv, die sich als Zauberer versteht, Wolffs Alter Ego? Die letzten Romansätze lassen darauf schließen: »Das Publikum wird dort hinsehen, wo der Zauberer hinsieht. / Der Blick des Zauberers ist der Blick des Publikums.« Nur dass hier das Publikum die Leserschaft ist, welche durch diesen Roman erfährt, dass Familiengeschichten nicht immer traumatisch sind. Denn es gibt jene Stille: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020, 216 Seiten, 20,00 EUR, ISBN 9783608983265